14. Der Reichtum Europas: das kulturelle Erbe!
In seinem Geschichtswerk Essay über die Sitten und den Geist der Nationen (1756) hat Voltaire (1694-1778)xvii insbesondere den Reichtum des kulturellen Erbes Europas hervorgehoben, wobei er den Kontinent als „unvergleichlich bevölkerter, zivilisierter, reicher und gebildeter“ als zur Zeit des römischen Reiches beschreibt, auch wenn Italien selbst seine Ausstrahlungskraft verloren habe. In unten zitierter Passage erwähnt er die Furcht vor der Entvölkerung des Globus—die er übrigens mit anderen Philosophen seiner Zeit teilt, wie z.B. Montesquieu—sowie Absurditäten, zu denen in seinen Augen das Zölibat der Priester gehöre.
Man betrachte, von Petersburg bis Madrid, diese ungeheure Anzahl von prächtigen Städten, erbaut in Gegenden, die vor 600 Jahren noch Wüste waren; man achte auf diese immensen Wälder, die von den Ufern der Donau am baltischen Meer bis ins Herz Frankreichs die Erde bedecken; es ist wohl offensichtlich, dass es viele Menschen gibt, wenn viel Land erschlossen ist. Die Landwirtschaft, was auch immer man dazu sage, und der Handel werden noch viel mehr in Ehren gehalten als sie es vorher wurden. […]
In welch blühendem Zustand befände sich wohl Europa ohne die ständigen Kriege, die es um oberflächliche Interessen willen und häufig aus kleinen Launen heraus, erschüttern! Welches Maß an Perfektion hätte nicht die Kultivierung der Böden erreicht und um wie viel mehr hätten nicht die Künste, die diese Produkte verarbeiten, Unterstützung und Wohlstand im bürgerlichen Leben verbreitet, wenn man nicht diese erstaunliche Anzahl an unnützen Männern und Frauen in Klöstern begraben hätte! Eine neue Menschheit, die man in die Geißel des Kriegs eingeführt hat und die deren Schrecken mildert, hat dazu beigetragen, die Völker vor der Zerstörung, die sie in jeder Sekunde ihres Daseins zu bedrohen scheint, zu retten. Es ist ein Übel, und in Wahrheit ein äußert bedauerliches, dass diese Vielzahl an Soldaten beständig von allen Prinzen unterhalten wird; aber dieses Übel führt auch, wie wir bereits festgestellt haben, zu einem Guten: Die Völker nehmen kaum an dem Krieg teil, den ihre Herren führen; die Bürger der belagerten Städte gehen häufig von einer Herrschaft in eine andere über, ohne dass es einen einzigen Bewohner das Leben gekostet hat; sie sind der Preis für denjenigen, der mehr Soldaten, mehr Kanonen und mehr Geld hat.
Die Bürgerkriege haben Deutschland, England und Frankreich lange Zeit betrübt; doch diese Übel wurden bald beseitigt und der blühende Zustand diese Länder beweist, dass die Industrie der Menschen sie viel weitergebracht hat als ihre Wut. Dies gilt nicht für Persien, das seit vierzig Jahren Beute von Verwüstungen ist; aber wenn es sich unter einem weisen Prinz wieder vereint, wird es seine Beschaffenheit in kürzerer Zeit wiederherstellen als in der es sie verloren hat. […]
Wenn eine Nation Kenntnis der Künste besitzt, wenn sie nicht von Fremden in den Bann gezogen und fortgeschafft wird, wird sie mühelos aus ihren Ruinen wieder auferstehen und sich wiederherstellen.
Voltaire, Essay über die Sitten und den Geist der Nationen (1756).
Rechtefreier Originaltext (Edition von 1829) unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k375239