22. Europa aus Sicht der Perser
In seinem Briefroman Persische Briefe (1721),xxii beschreibt Montesquieu (1689-1755) aus der Perspektive des ‘fremden Blicks’ der beiden reisenden Perser Rica und Usbek, Frankreich. Europa, wo die Perser unterschiedlichste politische Systeme entdecken,—was sie wiederum zu der Frage führt, „welche Regierungsform am ehesten den Prinzipien der Vernunft entspräche“—ist auch der Kontinent der Geschichte der Nationen und insbesondere der „Republiken“. Rhédi spricht vom Hauch der Freiheit aus dem Norden und reflektiert über die Art und Weise, wie sich „die Liebe zur Freiheit“ in die Geschichte der europäischen Republiken einschreibt.
Hundertundeinunddreißigster Brief
Rhedi an Rica in Paris
Als ich nach Europa kam, reizte ganz besonders die Geschichte und der Ursprung der Republiken meine Wissbegierde. Du weißt, dass die meisten Asiaten sich die Regierungsform nicht einmal zu denken vermögen, und dass ihre Fantasie nicht einmal im Stande war, ihnen begreiflich zu machen, dass es auf der Erde eine andere als die despotische Regierungsform geben könnte.
Die ersten uns bekannten Regierungsformen waren monarchische; erst durch Zufall und im Laufe der Jahrhunderte bildeten sich Republiken.
Nachdem Griechenland von einer Sintflut überschwemmt worden war, wurde es von neuen Bewohnern bevölkert. Fast all seine Ansiedler bezog es aus Ägypten und den benachbarten asiatischen Gegenden; und da diese Länder von Königen regiert wurden, hatten die Völker, welche aus ihnen entsprossen, dieselbe Regierungsform. Als aber die Tyrannei dieser Völker zu drückend wurde, schüttelte man das Joch ab und aus den Trümmern all jener Königreiche erhoben sich jene Republiken, welche Griechenland zu so herrlicher Blüte verhalfen, - diesem einzig gesitteten Lande inmitten von Barbaren.
Die Liebe zur Freiheit, der Hass gegen die Könige erhielten Griechenland lange seine Unabhängigkeit und breiteten die republikanische Regierungsform weit aus. Die griechischen Städte fanden Verbündete in Kleinasien; sie legten dort Kolonien an, die eben so frei wie sie selbst waren und ihnen als Schutzwehr gegen die Unternehmungen der Perserkönige dienten. Ja, noch mehr: Griechenland bevölkerte Italien, Spanien und vielleicht auch Gallien. Man weiß, dass jenes große, bei den Alten so berühmte Hesperien anfangs Griechenland war, das seine Nachbarn als eine Stätte der Glückseligkeit betrachteten. Die Griechen, welche dieses glückliche Land nicht bei sich daheim fanden, fanden es in Italien; die Bewohner Italiens in Spanien; die Spanier in Bätica oder Portugal, so dass bei den Alten all diese Gegenden diesen Namen führten. Die griechischen Kolonien brachten einen Geist der Freiheit mit sich, den sie in jenem milden Lande eingeatmet hatten. Daher erblickte man in jenen entlegenen Zeiten in Italien, Spanien und Gallien keine Monarchien. Du wirst bald sehen, dass die Völker des Nordens und Deutschlands nicht minder frei waren; und wenn man Spuren eines Königtums bei ihnen findet, so kommt es daher, weil man die Häuptlinge der Kriegsscharen oder der Republiken für Könige gehalten hat.
All dies ging in Europa vor; denn Asien und Afrika seufzten stets unter der Last des Despotismus, ausgenommen einige Städte Kleinasiens, von welchen schon die Rede war, und die Republik Karthago in Afrika.
Zwei mächtige Republiken, Rom und Karthago, teilten unter sich die Welt. Nichts ist bekannter als die Anfänge der römischen Republik und nichts unbekannter als der Ursprung Karthagos. Man weiß nicht das Mindeste von der Reihenfolge der afrikanischen Fürsten seit Dido und wie sie ihre Macht verloren. Die ungeheurere Vergrößerung der römischen Republik wäre ein großes Glück für die Welt geworden, wenn nicht ein so ungerechter Unterschied zwischen den römischen Bürgern und den besiegten Völkern bestanden, wenn man den Statthaltern der Provinzen eine minder ausgedehnte Gewalt verliehen hätte; wenn die so heiligen Gesetze, welche ihre Tyrannei verhindern sollten, befolgt worden wären, und wenn sie sich nicht, um dieselben zum Schweigen zu bringen, eben jener Schätze bedient hätten, die ihre Ungerechtigkeit zusammengerafft hatte.
Cäsar unterdrückte die römische Republik und unterwarf sie einer willkürlichen Gewalt.
Europa seufzte lange Zeit unter einer militärischen und gewalttätigen Regierung; und die römische Milde wurde in eine grausame Unterdrückung verwandelt.
Aber zahlreiche unbekannte Völkerstämme kamen von Norden herab und ergossen sich wie Ströme in die römischen Provinzen; und da sie es eben nicht so leicht fanden, Eroberungen zu machen als Seeraub zu üben, so zerstückelten sie das Weltreich und machten Königreiche daraus. Die Völker waren frei und sie beschränkten so sehr die Macht ihrer Könige, dass dieselben eigentlich nur Stammeshäuptlinge oder Kriegsoberste waren. So empfanden diese Königreiche, obschon sie durch Gewalt gegründet worden, nicht das Joch des Siegers. Als die dem Willen eines Einzigen unterworfenen Völkerschaften Wiens, wie die Türken und Tataren, Eroberungen machten, dachten sie nur daran, ihm neue Untertanen zu verschaffen und seine gewalttätige Herrschaft durch Waffengewalt zu befestigen; als aber die nordischen Völker, welche daheim frei waren, sich der römischen Provinz bemächtigten, verliehen sie ihren Häuptlingen keine große Macht. Einige dieser Völker, wie die Vandalen in Afrika, die Goten in Spanien, setzten sogar ihre Könige ab, sobald sie mit ihnen unzufrieden waren; und bei anderen war die Herrschermacht des Fürsten auf tausenderlei verschiedene Arten beschränkt. Zahlreiche Lehnsherren teilten sie mit ihm; er konnte nur mit ihrer Bewilligung Krieg führen; die Beute wurde unter den Häuptling und den Soldaten geteilt; es gab keine Auflagen zu Gunsten des Fürsten; die Gesetze wurden in Volksversammlungen beschlossen. Dies ist das Grundprinzip aller Staaten, die sich aus den Trümmern des römischen Weltreichs bildeten.
Venedig, den 20sten des Mondes Rhegeb 1719
Montesquieu, Persische Briefe (1721).
Rechtefreier Originaltext (Edition von 1873) unter: https://fr.wikisource.org/wiki/Lettres_persanes