Im abschließenden Kapitel seines Werkes Paris, das Muster aller Nationen oder das französische Europa (1777) hebt Louis-Antoine Caraccioli die Vorteile hervor, die sich aus der Tatsache ergeben, dass die europäischen Völker näher zusammengerückt sind. Er schreibt dies dem Ausbau des Handels zwischen den einzelnen Nationen zu. So finden auch die Ideen der Aufklärung, wie z.B. die der Toleranz eine größere Verbreitung. Mit einer gewissen Befriedigung stellt er die Vorbildrolle des französischen Geschmacks heraus, die sich überall in Europa spüren ließe.
Oh! Ich hole Atem. Europa ist der angenehmste Aufenthalt von der ganzen Welt. Ich sehe da nicht mehr jene Dornhecken, jene öde Stücke Landes, jene Moraste, jene Tiefen, welche das Auge beleidigten und den Reisenden verzweifeln machten. Die reichsten Felder, die angenehmsten Luftstücke, das schönste Perspektiv, die besten Landstraßen; seht das, was ich wahrnehme, und Frankreich ist es, so mehr als kein anderes Land zu dieser glücklichen Verwandlung beigetragen hat. Und was hat man zu einem solchen Fortgange angewendet? Große und kleine Mittel, wie ich es bemerkt habe. Dem Anscheinen nach geringe Dinge bringen oft die größte Hilfe.
Nichts vorteilhafter, als dass man vermittels der Landstraßen und Posten den unermesslichen Zwischenraum überwunden hat, welcher die Europäer voneinander absonderte. Es scheint, es sei keiner mehr zwischen ihnen. Paris stößt an Petersburg, Rom an Konstantinopel und dies ist nur eine und eben dieselbe Familie, welche unterschiedene Landschaften bewohnt. Ich rufe Polen, Schweden, Dänemark zu, ich bitte sie, mir die Hand zu geben, und schon begrüßen, umfangen wir einander und gehen als Brüder miteinander um. Es ist eben der Geist, eben die Seele, welche uns belebt.
Ich treffe jenes fantastische Wesen nicht mehr an, welches die Sprache der Religion führte, um Volk gegen Volk zu empören und Streitigkeiten und Zwiespalte zu verewigen; ich höre nicht mehr das kriegerische Geschrei, welches Hass und Rache erweckte; wenn man noch sich selbst entleibt, so geschieht es zum wenigsten ohne Erbitterung.
Die Art zu studieren ist fast gleichförmig; die spanischen Schulen sind den deutschen gleich. Man bildet da eben die Schüler, man lernt da auf gleiche Weise das Falsche und das Wahre voneinander unterscheiden, nur als eine Meinung das anzusehen, was kein Stück des Glaubens ist. Der Aberglaube verbirgt sich, und die Religion zeiget sich; sie, welche nur das fürchtet, unbekannt zu sein.
Wenn ich die Gesellschaft genau betrachte, finde ich sie bei allen Europäern bis auf einige Schattierungen gleich. Die Annehmlichkeit macht den Grund davon, und das Vergnügen den Firniss. Man spielt gleiche Spiele, man hält gleiche Gespräche, man hat gleiche Ideen, man hat gleiche Meinungen. Das Frauenzimmer wird zu Neapel wie zu Paris, zu London wie zu Madrid unterwiesen; und sie machen das Vergnügen der Gesellschaften. Der aufgeweckte Streit, welcher mit einem Worte spielt, fängt an, nicht mehr angehöret zu werden. Der Italiener allein behält seine concetti, und er wird sie behalten, weil er sich an seine Sprache hält, in welche er billig verliebt ist.
Man sucht aller Orte ein solches Werk, welches das Gepräge von der Niedlichkeit und dem Genie hat, und man wünscht durchgängig, dass es französisch geschrieben sei; es ist die einzige Sprache, welche man gern redet, und die einzige werden würde, wenn man den größten Teil der Europäer um Rat fragte.
Es gibt keine Moden mehr als nur die, welche französisch sind. Der Engländer hat alle Mühe von der Welt, die seinige zu behaupten, welche er nur aus Eitelkeit erhält.
Man kleidet sich zu Wien wie zu Paris, man setzt sich zu Dresden die Haare auf, wie zu Lyon. Die meisten Europäerinnen wandten vor diesem den ganzen Morgen an, sich den übrigen Tag lächerlich zu machen. Es war eine Vermischung des gotischen mit dem jetzigen, ein sich nicht zusammenreimendes Farbenwerk, welches dem Alter und Gesicht widersprach. Dermalen beherrschet der Geschmack alle Nachttische; und dieser Geschmack ist der von Paris.
Die französische Höflichkeit hat seine widerspenstige Nation gefunden, als sie bei den unterschiedenen Nationen ist eingeführt worden. Es ist niemand, der nicht eine ungezwungene Art und die Wohlanständigkeit liebt.
Europa ist dermaßen ein Gemälde, davon alle Teile vortrefflich verbunden sind; das Auge wird da einen Zusammenhang gewahr, welcher ihm schmeichelt, eine Ordnung, welche es vergnügt; daraus ich schließe, dass man denn Reizungen des Vergnügens und des Einschleichens nicht widerstehen kann, je mehr wird die französische Artigkeit herrschen, jene Artigkeit, welche den ernsthaften Dingen Annehmlichkeit wie den geringsten Vorteil schaffet.
Louis-Antoine Caraccioli, Paris, das Muster aller Nationen oder das französische Europa (1777).
Rechtefreier Originaltext (Edition von 1777): http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1156961
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