50. Die europäische Vielfalt aus dem fremden Blick
Nach dem Modell der Persischen Briefe von Montesquieu, erfindet der Spanier José Cadalso (1741-1782)lv marokkanische Reisende in Spanien, die in Briefen über das berichten, was sie in Europa entdecken. Die zeitgenössischen Leser entdecken so über die Perspektive des fremden Blicks ihre Kultur neu und erfahren kulturelle Relativität.
Brief I
Gazel an Ben-Beley
Ich konnte nach der Rückkehr unseres Botschafters in Spanien bleiben, ganz wie ich es seit langem gewünscht und Dir viele Male während seines Aufenthaltes in Madrid geschrieben habe. Mein Ziel war die Nützlichkeit meiner Reise gewesen, ein Ziel, das oft schwer zu erreichen ist, wenn man der Gefolgschaft großer Herren angehört, besonders, wenn diese aus Asien oder Afrika stammen. Diese sehen sozusagen nur die Oberfläche des Landes, das sie durchqueren; ihren Überfluss, ihre Hochnäsigkeit, ihre Unkenntnis der Dinge, die es zu entdecken gäbe, die Anzahl ihrer Dienstboten, die Unkenntnis der Sprachen, das Misstrauen, das sie bei den Bewohnern der Länder, die sie bereisen, hervorrufen und viele weitere Umstände nehmen ihnen viele Möglichkeiten, die weniger auffällige Reisende haben.
Ich bin jetzt gekleidet wie die Christen, eingeführt in viele ihrer Häuser. Ich spreche ihre Sprache und bin enger Freund eines Christen, des Nuño Núñez, geworden, der vielerlei Schicksalsschläge und Lehren im Laufe seines Lebens erlitten hat. Er hält sich nunmehr abseits der Gesellschaft, auf sich selbst konzentriert, wie er sagt. Die Stunden, die ich mit ihm verbringe, sind für mich eine Freude, da er sich müht, mir all die Dinge zu erklären, zu denen ich ihn befrage. Er tut dies auf so ehrliche Art und Weise, dass er mir manchmal antwortet: „Darüber weiß ich nichts!“, und andere Male: „Darüber möchte ich nichts wissen!“. Auf diese Art und Weise möchte ich nicht nur den Hof, sondern alle Provinzen der Halbinsel untersuchen. Ich werde die Gewohnheiten dieses Volkes studieren und dabei zwischen denen unterscheiden, die sie mit anderen Ländern Europas teilen und denen, die ihnen eigen sind. Ich werde versuchen, mich von den zahlreichen Vorurteilen zu distanzieren, die wir, die Mauren, gegenüber den Christen haben und gegen die Spanier im Besonderen. Ich werde alles, was mich überrascht, festhalten, um darüber mit Nuño zu sprechen und Dir dann mitzuteilen sowie auch sein Urteil darüber. […]
Brief II
Derselbe an denselben
Ich bin nach wie vor nicht in der Lage, auf Dein erneuertes Drängen zu antworten, um Dir die Beobachtungen mitzuteilen, die ich bei meinem Aufenthalt in der Hauptstadt dieser großen Monarchie mache. Weißt Du, wie vieler Dinge es bedarf, damit man in der Lage ist, sich ein genaues Bild des Landes zu machen, das man bereist? Es stimmt schon, dass ich dank meiner zahlreichen Reisen durch Europa eher dazu in der Lage bin als andere Afrikaner oder, besser gesagt, treffe ich dabei auf weniger Hindernisse. Gleichwohl habe ich so viele Unterschiede zwischen den Europäern feststellen müssen, dass mir die Kenntnis einer der Länder dieses Erdteils nicht hinreichend erscheint, die anderen Staaten, die ihn bilden, zu beurteilen. Die Europäer scheinen keine Nachbarn zu sein; ihre Küche, ihre Theater, ihre Straßen, ihre Armeen und ihre Luxusgüter scheinen zwar ähnlich, aber ihre Rechtsprechung, ihre Laster, ihre Tugenden und Regierungsformen sind hingegen so unterschiedlich, dass die Gebräuche in allen Nationen andere sind. […]
José Cadalso, Marokkanische Briefe (1789).
Rechtefreier Originaltext unter: https://es.wikisource.org/wiki/Cartas_marruecas