52. Europa und seine lange Migrationsgeschichte
In seiner Abhandlung mit dem Titel Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) beschreibt Johann Gottfried Herder die Geschichte des Kontinents als einen langanhaltenden Wanderungsprozess der Völker.
Durch welches alles dann, weil die lange Völkerwanderung zu Lande dazu kam, endlich in diesem kleinen Weltteil die Anlage zu einem großen Nationenverein gemacht ist, zu dem ohne ihr Wissen schon die Römer durch ihre Eroberungen vorgearbeitet hatten, und der schwerlich anderswo als hier zu Stande kommen konnte. In keinem Weltteil haben sich die Völker so vermischt wie in Europa; in keinem haben sie so stark und oft ihre Wohnplätze und mit denselben ihre Lebensart und Sitten verändert. In vielen Ländern würde es jetzt den Einwohnern, zumal einzelnen Familien und Menschen schwer sein, zu sagen, welches Geschlechtes und Volkes sie sind, ob sie von Goten, Mauren, Juden, Karthagern, Römern, ob sie von Galen, Kymren, Burgundern, Franken, Normannen, Sachsen, Slaven, Finnen, Illyriern herstammen und wie sich in der Reihe ihrer Vorfahren das Blut gemischt habe. Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer Europäischen Nationen gemildert und verändert, ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen. […]
Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791).
Rechtefreier Originaltext (Edition von 1786) unter: https://books.google.co.uk/books?id=GegOAAAAQAAJ &printsec=frontcover