79. Die deutsch-französische Freundschaft als Garant für Frieden in Europa
Victor Hugo (1802-1885),lxxiv Dichter, Roman- und Dramenautor, Politiker der französischen Romantik, veröffentlicht 1842 seinen Bericht über seine Reise nach Deutschland, die er gemeinsam mit seiner Frau Juliette unternahm. Dem Bericht folgt eine zweite erweiterte Version aus dem Jahre 1845 mit dem Titel Der Rhein, Briefe an einen Freund. Der Autor denkt darin über die Besonderheiten der deutsch-französischen Beziehungen nach und ihrer Bedeutung für den Frieden in Europa.
Was bleibt also von der ehemaligen Welt übrig? Wer steht noch aufrecht in Europa? Zwei Nationen allein: Frankreich und Europa.
Wohlan, das möchte hinreichen. Frankreich und Deutschland sind so recht wesentlich Europa. Deutschland ist das Herz, Frankreich ist der Kopf.
Deutschland und Frankreich sind so recht eigentlich die Zivilisation. Deutschland fühlt, Frankreich denkt.
Gefühl und Gedanke sind der ganze zivilisierte Mensch. Zwischen beiden Völkern besteht ein inniger Zusammenhang, eine unleugbare Blutsverwandtschaft. Sie sind von demselben Stamme; gemeinschaftlich haben sie gegen die Römer gekämpft; sie sind Brüder in der Vergangenheit, Brüder in der Gegenwart, Brüder in der Zukunft.
Die Art ihres Ursprungs war eine gleiche. Sie sind kein Inselvolk, keine Eroberer; sie sind die rechten Ureinwohner Europas. […]
Damit die Welt im Gleichgewicht bleibe, ist es unumgänglich notwendig, dass Europa gleichsam als die zwei Schlusssteine des Kontinentalgewölbes zwei große rheinische Staaten aufweise, beide befruchtet und innig verbunden von diesem wiedergebärenden Strome: den Einen derselben, Deutschland, nördlich und östlich, gestützt auf das baltische, das adriatische und das Schwarze Meer, mit Schweden, Dänemark, Griechenland und den Fürstentümern an der Donau als Gewölbepfeilern; den Anderen, Frankreich, südlich und westlich, gestützt auf das mittelländische Meer und den Ozean, mit Italien und Spanien als Gegenpfeilern. […]
Europa muss sich ihrer [England und Russland] erwehren.
Das alte Europa, das aus einem verwinkelten Baue bestand, ist zusammengefallen; das gegenwärtige Europa ist von viel einfacherer Gestalt. Es besteht fast ganz aus Frankreich und Deutschland, den doppelten Punkten, an welchen sich im Norden wie im Süden die Gruppe der Völker anschließen muss.
Die Allianz Frankreichs und Deutschlands ist die Konstitution Europas. Deutschland freundlich an Frankreich angestützt, hält Russland auf. Frankreich freundlich an Deutschland angestützt, hält England auf.
Die Uneinigkeit Frankreichs und Deutschland ist die gewaltsame Zertrennung Europas. Deutschland feindlich gegen Frankreich gerichtet, lässt Russland leicht hereindringen; Frankreich feindlich gegen Deutschland gerichtet, lässt England herbeikommen.
Glücklicherweise sind weder Frankreich noch Deutschland Egoisten. Sie sind zwei aufrichtige, uneigennützige und edle Nationen; einst ein Volk aus Rittern, jetzt ein Volk aus Denkern; einst groß durch das Schwert, jetzt groß durch den Geist. Ihre Gegenwart wird ihre Vergangenheit nicht Lügen strafen; Geister sind nicht weniger großmütig als Schwerter.
Hier die Lösung: jeden Grund des Hasses zwischen beiden Völkern abschaffen; die Wunde in unserer Seite von 1815 schließen; die Spuren einer leidenschaftlichen Reaktion auslöschen. Frankreich das wiedergeben was ihm Gott gegeben hat, das linke Rheinufer. […]
In einer gewissen Zeit wird Frankreich seinen Teil am Rheine und seine natürlichen Grenzen haben.
Diese Lösung wird Europa seine rechte Gestalt verleihen, die menschliche Gesellschaft beschützen und den definitiven Frieden gründen. Alle Völker werden dabei gewinnen. Spanien zum Beispiel, das immer berühmt geblieben, wird wieder mächtig werden können. England möchte aus Spanien den Markt seiner Erzeugnisse, den Stützpunkt seiner Schifffahrt machen; Frankreich wird Spanien zur Schwester seines Einflusses, seiner Politik und seiner Zivilisation machen wollen. Es wird an Spanien sein zu wählen: Entweder fortfahren, herunter zu gehen oder beginnen, neu empor zu steigen; eine Filiale von Gibraltar oder ein Gegenpfeiler Frankreichs zu sein.
Spanien wird die Größe wählen. Es gestaltet sich bereits sichtbar und deutlich im Morgendämmer der zukünftigen Dinge die unausweichliche Zukunft des gesamten Kontinents. Ist einmal der Grund zum Hasse verschwunden, so hat Europa kein Volk mehr zu fürchten. Deutschland sträube seine Mähne und stoße sein Gebrüll aus gegen den Orient; Frankreich spreize seine Flügel aus und schleudere seinen Blitz gegen den Okzident. Dem gefürchteten Bündnisse des Löwen und des Adlers wird die Welt gehorchen. […]
Man missverstehe unsere Idee nicht: Wir sind der Meinung, Europa müsse in jedem Falle gegen Revolutionen wachsam und gegen Kriege gerüstet sein; aber wir glauben zugleich, dass die bereits vor so vielen Stürmen und Klippen gerettete Zivilisation, wenn kein außer der menschlichen Vorsehung liegendes Ereignis den majestätischen Gang des neunzehnten Jahrhunderts stört, sich täglich von jener Charybdis, welcher der Krieg heißt, und von jener Scylla, welche man Revolution nennt, mehr und mehr entfernen werde.
Eine Utopie, mag sein! Aber man vergesse nicht, dass, wenn sie zum selben Ziele strebe wie die Menschheit, das heißt nach dem Guten, Rechten und Wahren, die Utopien des einen meist die Taten des nächsten Jahrhunderts sind. Es gibt Menschen, die sagen: „Das wird geschehen“ und andere die sagen: „Hier ist‘s“. Der ewige Friede war ein Traum bis zu dem Tage, wo der Traum zur Eisenbahn geworden und die Erde mit einem festen, haltbaren und belebendem Netzte umflochten hat. Matt ist die Ergänzung des Abbes Saint-Pierre. […]
Damit ein ewiger Friede möglich und die Theorie zur Wirklichkeit wurde, bedurfte es zweier Dinge: eines Beförderungsmittels für die rasche Erfüllung der Interessen und eines solchen Mittels für den raschen Austausch der Ideen; in anderen Worten eine einfache und herrschende Art des Transportes und eine allgemeine Sprache. Diese beiden Bindemittel, welche die Grenzen der Reiche und der Geister niederreißen, die Welt hat sie jetzt: Die Eisenbahn ist das erste, und die französische Sprache das andere.
Dies sind im neunzehnten Jahrhundert für alle im Fortschritt begriffenen Völker die beiden Mittel der Verbindung, das heißt der Zivilisation, das heißt des Friedens. Man fährt im Wagon und spricht französisch. […]
Nehmen wir also wieder auf. Unserer Ansicht zufolge, und wenn die Zukunft bringt, was wir erwarten, muss die Möglichkeit der Kriege und der Revolutionen täglich abnehmen. Der allgemeine Frieden ist eine Hyperbel, deren ewig auslaufenden Linien das Menschengeschlecht folgt.
Diesen glanzvollen Schwunglinien zu folgen, ist das Gesetz der Menschheit. Im neunzehnten Jahrhundert wandern alle Völker, selbst Russland […] und England und werden immer darauf hinwandern.
Victor Hugo, Der Rhein (1842-1845).
Rechtefreier deutscher Text (Edition von 1842) unter: https://books.google.de/books?id=5kJIAQAAMAAJ&printsec=frontcover
Rechtefreier Originaltext (Edition von 1884) unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k37469b
Rechtefreie Audioversion des Originaltextes unter: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k37469b/f3.vocal