© 2017 Rotraud von Kulessa und Catriona Seth, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0127.01
Ein Gedicht Friedrich Schillers (1759-1805),i die „Ode an die Freude“ mit der Musik der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven, ist zur Europahymne geworden, nachdem sie nicht zuletzt in den Konzentrationslagern erklungen war. Als Symbol der Versöhnung bürgt sie zum einen für eine gemeinsame klassische Kultur als auch für das Streben nach einer Zukunft in Frieden und Verbrüderung. Das 1785 verfasste Gedicht steht unter dem Einfluss des Pietismus derer, die Schiller nahestanden, zeugt aber auch von einem Geist der intellektuellen Öffnung.
O Freunde, nicht diese Töne!
Sondern laßt uns angenehmere anstimmen
und freudenvollere.
Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!
Deine Zauber binden wieder
Was die Mode streng geteilt;
Alle Menschen werden Brüder
Wo dein sanfter Flügel weilt.
Wem der große Wurf gelungen,
Eines Freundes Freund zu sein;
Wer ein holdes Weib errungen,
Mische seinen Jubel ein!
Ja, wer auch nur eine Seele
Sein nennt auf dem Erdenrund!
Und wer’s nie gekonnt, der stehle
Weinend sich aus diesem Bund!
Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur;
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.
Küsse gab sie uns und Reben,
Einen Freund, geprüft im Tod;
Wollust ward dem Wurm gegeben,
und der Cherub steht vor Gott.
Froh, wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan,
Laufet, Brüder, eure Bahn,
Freudig, wie ein Held zum Siegen.
Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuß der ganzen Welt!
Brüder, über’m Sternenzelt
Muß ein lieber Vater wohnen
Ihr stürzt nieder, Millionen?
Ahnest du den Schöpfer, Welt?
Such ‘ihn über‘m Sternenzelt!
Über Sternen muß er wohnen.
Friedrich Schiller, „Ode an die Freude“ (1785).ii
Text im Original (Ausgabe von 1808): https://de.wikisource.org/wiki/Ode_an_die_Freude
ii In Klammern ist jeweils das Jahr der Erstveröffentlichung des Originaltextes angegeben, unabhängig von der verwendeten Ausgabe oder Übersetzung.