1. Nietzsches Neubestimmung
der Wahrheit
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.01
Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat. (MA I, Vorr. 1)1
Nietzsches tiefster Verdacht trifft die Möglichkeit der Wahrheit. Er sieht, betroffen vom Nihilismus des 19. Jahrhunderts, seine „eigene Aufgabe“ darin, sie „versuchsweise einmal in Frage zu stellen“ (GM III 24), und verändert in ihrer Neubestimmung radikal die Grundlagen der Philosophie. Gleichwohl hat seine „Umwertung“ unmittelbar nur wenig auf die herrschenden philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts gewirkt, auf Hermeneutik, Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, auf Existenzphilosophie und Anthropologie, Sprachphilosophie und Kritische Theorie. Ihre Rezeption war nicht nur dadurch erschwert, dass sie im aphoristischen Werk und den Notaten des Nachlasses nicht geschlossen sichtbar wurde, sie blieb darüber hinaus durch ihre Zuordnung zu einer im Ruch der Unverbindlichkeit stehenden „Lebensphilosophie“ und durch die pathetischen, dämonieumwitterten Titel der ewigen Wiederkehr und der dionysischen Bejahung belastet. Am meisten aber stand ihrer Wirkung ihre eigene Konsequenz im Wege, die es ihr verbot, zu einer systematisch formulierten Lehre zu werden. So gesteht Joseph Möller in seinem Überblick über „Wahrheit als Problem“2 Nietzsches Neubestimmung zwar einen wichtigen Platz in der historischen Entwicklung zu, berücksichtigt sie im systematischen Teil aber nur noch gelegentlich, L. Bruno Puntels „kritisch-systematische Darstellung“ der „Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie“3 registriert sie überhaupt nicht. Nietzsche gibt keine Wahrheitstheorie, sondern grenzt die Spielräume solcher Theorien neu aus. Erst in der jüngsten Nietzsche-Diskussion dringt durch, wie diese Spielräume weitgehend unabhängig von Nietzsche und in einer anderen Terminologie Schritt für Schritt ausgefüllt wurden, und es verdiente eine ausführliche Abhandlung, zu zeigen, dass seine Grundentscheidungen in der Bestimmung der Wahrheit bisher nicht überholt, vielleicht nicht einmal erreicht wurden.4 Ich will hier vorerst nur versuchen, aus wenigen leitenden Begriffen Nietzsches diese Grundentscheidungen von der metaphysischen Tradition aus im Blick auf die geläufigen Konzepte der Wahrheit im 20. Jahrhundert in ihrer Radikalität sichtbar zu machen.5
Die Leitlinien in Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsthema halten sich von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn bis zum späten Nachlass im wesentlichen durch, so dass ich, wie Granier, auf eine chronologische Differenzierung verzichten kann. Ich gehe von einem Nachlass-Notat aus dem Frühjahr 1880 aus:
Das Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen „hatten die Wahrheit“: selbst die Skeptiker. (Nachlass 1880, 3[19]), KSA 9.52)
Es gibt Folgendes vor:
- Es macht die Wahrheit zur Kernfrage der Philosophie.
- Es behauptet den Verlust der Wahrheit und damit eine völlig neue Situation der Philosophie in der Gegenwart.
- Es hält dennoch an der Möglichkeit der Philosophie und ihrer Wahrheit fest – Nietzsche nennt sie in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung „die wahrhaftigste aller Wissenschaften“ (HL 5).
- Es bindet die Möglichkeit, die Wahrheit zu haben, an bestimmte frühere Zeitalter, macht sie also zu einem geschichtlichen, einem geschichtlich überholten Begriff.
- Es erhebt als Ausdruck einer Überzeugung zugleich selbst einen, wenn auch bedingten, Anspruch auf Wahrheit.
Wahrheit wird also zweideutig, schließt ihre eigene Negation ein. Sie lässt sich nur aus ihrer Geschichte, aus der Auseinandersetzung mit der Tradition verstehen, die Nietzsche unter dem Begriff der Metaphysik zusammenfasst. Damit ist der Gang der Untersuchung vorgezeichnet: ich gehe von der Bestimmung der Wahrheit in der Metaphysik und ihrer „Genealogie“ aus (A), expliziere dann einige Grundbegriffe Nietzsches für die Neubestimmung der Wahrheit, wie sie aus seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik entspringen (B). Zum Schluss (C) fasse ich seine Bestimmung der Wahrheit in sechs Kriterien zusammen und weise auf ihre Berührungen mit gegenwärtigen philosophischen Strömungen hin.
1.1. Die Bestimmung der Wahrheit in der Metaphysik und ihre Genealogie
Nietzsche nennt sich, wenn er den „Werth der Wahrheit“ in Frage stellt, einen „Gottlosen und Antimetaphysiker“ – der Glaube an die Wahrheit ist „der Glaube an einen metaphysischen Werth“ (GM III 24), er gehört in die „Psychologie der Metaphysik“ (Nachlass 1887, 8[2], KSA 12.327). Die Wahrheit von Philosophie und Wissenschaft, die in Urteilen mit dem Anspruch auf bleibende Geltung ausgesprochen wird, ist ursprünglich an die Metaphysik gebunden, die Metaphysik hat in ihren Urteilen die Wahrheit, hat sie gegenständlich vor sich als „wahre Welt“, die „endlich zur Fabel“ wird, sich als „Geschichte eines Irrthums“ entpuppt, der mit Platon beginnt und erst mit Nietzsche endet (GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde). Dies Ende verdankt sich jedoch seinem Anfang: Nietzsche entwirft das Bild eines folgerichtigen Prozesses, in dem die Wahrheit der Metaphysik, einer „sehr hohen Stufe der Bildung“, der „besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit“ (MA I 20), in ihrer Überwindung aufgehoben wird. Die abendländische Metaphysik und die christliche Religion bringen in einer „zweitausendjährigen Zucht“ (GM III 27) zur Klärung ihrer „Dogmen“ „die strenge Methode der Wahrheit“ hervor, die der moderne Mensch nun so „im Herzen und Kopfe“ hat (MA I 109), dass er, „dazu erzogen, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern“ (GM I 1), die Dogmen schließlich als solche erkennen und aus einer Haltung der „Wahrhaftigkeit“ (JGB 1, FW 357) – Nietzsche nennt sie auch „intellektuelle Rechtschaffenheit“ (AC 12), „Tugend“ der „Redlichkeit“ (Za I, Von den Hinterweltlern), „intellectuales“ oder „intellectuelles Gewissen“ (FW 2. 335) – aufgeben muss.6
Dieses Begriffsfeld von Wahrheit, wahrer Welt und Wahrhaftigkeit überschreitet, ohne dass es Nietzsche zusammenhängend begrifflich festlegte, den theoretischen Ansatz beim Urteil, wie ihn zuerst Aristoteles in den Schriften des Organon durchgeführt hat. Wer wie Nietzsche Wahrheit als Wert bestimmt, kann nicht sinnvoll an ihrer Unterscheidung in theoretische und praktische festhalten. Das Begriffsfeld der praktischen Wahrheit aber umfasst das der theoretischen, und es ist wiederum Aristoteles, der es im VI. Buch seiner Nikomachischen Ethik vorgezeichnet hat. Auch wenn er bei Nietzsche meist nur als Moralist und Autor der Poetik, allenfalls als Logiker und Methodologe und als Historiker der Philosophie erscheint, bietet der Zusammenhang seiner praktischen Bestimmung der Wahrheit für unsere Untersuchung dennoch den besten Anhalt.7
Wahrheit ist nach Aristoteles „Werk“ (érgon) des Menschen, seiner „Vernunft“ (nûs; 1139 a 29, b 12), also nicht einfach ein ursprünglich Vorgegebenes, sondern Leistung eines „Wahrheitens“ (aletheúein; 1139 b 13, 15; 1140 a 18). Es kann das Wahre erschließen oder auch verstellen. Dieses gezielte Hervorbringen scheint Nietzsche im Blick zu haben, wenn er von „Methode der Wahrheit“ spricht.
Das Wahrheiten kann sich zu einer entschiedenen und zur Entscheidung im Einzelfall befähigenden Grundhaltung (héxis proairetiké) ausbilden und darin eine eigentümliche Tüchtigkeit (areté) erwerben (1139 b 12-13) – Nietzsches „Wahrhaftigkeit“ oder „Tugend der Redlichkeit“.8
Trotz seines methodischen Momentes gilt Aristoteles das Wahrheiten nicht einfach als ein Können (téchne), dessen Ziel (télos) der Mensch selbst und um seiner selbst willen festlegen kann. Das Ziel des Wahrheitens ist vielmehr schon von der Sache her festgelegt, nämlich das Seiende so aufzuzeigen, wie es sich von sich her zeigt, d. h. – in Nietzsches Worten – als das „Wahre“ oder in seiner Gesamtheit als die „wahre Welt“. Für Aristoteles ist das Wahre erst dann eigentlich wahr, wenn es nicht anders sein kann, also notwendig, ewig und darum lehrbar ist (1139 b 20 ff.).9 Zur Struktur der Wahrheit gehört demnach eine bestimmte Haltung des Menschen, sein daraus resultierendes Verhalten und ein ihm ursprünglich Vorgegebenes. Sie lässt einen Spielraum offen, die Momente der Wahrheit verschieden festzulegen. Inwieweit sie selbst schon metaphysisch ist, muss sich später zeigen.
Darin, wie die Metaphysik die Wahrheit näher bestimmt, können wir nun Nietzsche selbst folgen. Er hat innerhalb der Philosophie des 19. Jahrhunderts die radikalste Stellung zur Metaphysik gewonnen und damit ihren Begriff neu entschieden. Ich versuche, die Grundzüge seines Begriffs der Metaphysik aus dem Abschnitt „Die „Vernunft“ in der Philosophie“ (Nr. 5 u. 6) aus der Götzen-Dämmerung zu umreißen.
Dort heißt es, das „Vernunft-Vorurtheil“ habe „ehemals“ „die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit“ genommen und „aus dem Widerspruch“ dazu „Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein“ als die „wahre Welt“ angesetzt. (1) Einheit, Identität, Dauer, Ursache, Dinglichkeit, Sein sind leicht als die überlieferten Momente des Substanz-Begriffs zu erkennen. Als Grund (arché) ist Substanz das, von dem alles übrige, das aber selbst von nichts anderem abhängt, also das Selbständige oder Unbedingte. Die Metaphysik ist nach Nietzsche „Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten“ (Nachlass 1883, 8[25], KSA 10.342). (2) Ihr Unbedingtes erfasst sie mit der Vernunft, es ist nach Nietzsche ein „Vernunft-Vorurtheil“ (GD, Die „Vernunft“, 5) oder gehört zu den „Grund-Fiktionen“ des Denkens (Nachlass 1883, 8[25], KSA 10.342). „Denken“, „Vernunft“, „Bewusstsein“ „sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an‘s ,Ich‘, an‘s Ich als Sein, an‘s Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es schafft erst damit den Begriff ‚Ding‘“ (GD, Die „Vernunft“, 5). Substanz ist Gegenstand der Vernunft, sei sie nun als ursprünglich Hinzunehmendes für die Vernunft, wie bei Aristoteles (dektikón; Met. Λ 7, 1072 b 22, de an. Γ 4, 429 a 15), oder als notwendig zu Entwerfendes von der Vernunft gesetzt, wie seit Descartes, der die Vernunft selbst zur ausgezeichneten Substanz macht. Diese Vernunft-Substanz hat als produktiv setzende den Grundzug des Willens, sie ist, sofern sie das Ganze des Seienden von sich her setzt, Wille zur Einheit, Ganzheit, zum System (Nachlass 1887/88, 11[99], KSA 13.47). Im Begriff des Systems, nach Kant (KrV A 322, 680, 832 ff.) die Vernunft-Einheit der Totalität der Bedingungen, bleibt so auch in der neueren Philosophie das Unbedingte in der Sache selbst bewahrt, und Hegel denkt es zu Ende.10 (3) Das Unbedingte ist der menschlichen Vernunft freilich nicht schon gegeben, sondern erst aufgegeben, es ist das Maß, auf das sie wie alles übrige Seiende sich ausrichtet: Zweck (télos). So ergibt sich eine Hierarchie des Seienden nach dem Maßstab der absoluten Eigenständigkeit, mit dem Göttlichen an der Spitze, dem die Vernunft des Menschen am nächsten kommt. Hegel:
Der Schein, als ob der Geist durch ein Anderes vermittelt sey, wird vom Geiste selber aufgehoben, da dieser – so zu sagen – die souveräne Undankbarkeit hat, Dasjenige, durch welches er vermittelt scheint, aufzuheben, zu mediatisiren, zu einem nur durch ihn Bestehenden herabzusetzen und sich auf diese Weise vollkommen selbständig zu machen. (Enzyklopädie 1830, § 381, Zusatz)
Nietzsche resümiert: „wir müssen göttlich gewesen sein, denn wir haben die Vernunft!“ (GD, Die „Vernunft“, 5).
So lässt sich nach Nietzsche die Struktur der Metaphysik von Platon bis Hegel als Verschränkung der Begriffe unbedingter Grund, Substanz, Vernunft und Telos fassen. Danach zeigt sich das Wahre im Unbedingten qua Vernünftigen, sei es ursprünglich vorgegeben oder notwendig zu konstruieren, in jedem Falle als unwandelbar in sich Gefügtes und darum widerspruchsfrei zu Begreifendes, das letztlich – explizit etwa für Descartes und Leibniz – an ein Göttliches gebunden bleibt.11 Nach der metaphysischen Bestimmung der Wahrheit verhält sich also der Mensch als unbedingte Vernunft zu einem unbedingten Vernünftigen, um es als solches vor sich zu bringen. Insofern „hat“ er die Wahrheit, indem er sie als „wahre Welt“ festhält und so über sie verfügt, über das Seiende im Ganzen als System, den Menschen als Ich, d. h. als Selbstbewusstsein und Freiheit des Willens, die Geschichte als zielgerichteten Prozess, für Nietzsche allesamt in „falscher Verdinglichung“ (Nachlass 18885/86, 1[62], KSA 12.26). Und da auch die Skeptiker noch im Zweifel an seiner Gültigkeit am Schema des Verfügens über Gegenständliches, an der Verdinglichung festhalten, „haben“ auch sie, auf ihre Weise, die Wahrheit:
Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand … (GD, Die „Vernunft“, 5)
Dieser Metaphysik-Begriff, der Nietzsche folgt, erlaubt es, die Metaphysik historisch als Epoche von Platon bis Hegel abzugrenzen, während Heidegger mit seiner These, Metaphysik bedeute die Auslegung des Seins nicht nur von einem unbedingten, sondern schon von jeglichem vorhandenen gegenständlichen Seienden als solchen und schließlich im Ganzen her, alles Denken, auch das alltägliche und wissenschaftliche, außer dem eigenen zum seinsvergessenen und Nietzsche zum letzten, extremsten Metaphysiker macht, weil er in einer „in sich erblindeten äußersten Inanspruchnahme ihres Leitentwurfes“ im Willen zur Macht eine neue „unbedingt machtende Macht“ gedacht habe.12 Die entscheidende Erfahrung Nietzsches und seiner Zeit ist aber gerade die Auflösung der Verbindlichkeit des Unbedingten, sei es als gegenständliche Substanz, als Einheit und Ganzheit des Alls (Nachlass 1886/87, 7[62], KSA 12.317) oder in Gestalt des Göttlichen (FW 343). Nietzsche denkt diese Erfahrung als Nihilismus, als Entwertung der obersten Werte (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350-352), erkennt also in der unbedingten Vernunft und ihrer „wahren Welt“ Werte: „Der Gesichtspunkt des ,Werths‘ ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf complexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens“ (Nachlass 1887/88, 11[73], KSA 13.36). Wert hat dabei den dreifachen Sinn des geschaffenen und verdinglichten Werts, des Gebrauchswerts für anderes (das Leben) und des bleibenden Bedürfnisses: die „wahre Welt“ hat sich der Mensch geschaffen und verdinglicht aus dem Bedürfnis heraus, in seinem Leben Halt zu gewinnen. Damit aber ist die Möglichkeit unbedingter Wahrheit als voraussetzungsabhängig und darum als Irrtum und Täuschung durchschaut, die „Welt“ „eine entgöttlichte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig gewordene Welt“ (FW 357). Wahrheit kann nicht mehr von den Begriffen des Unbedingten (Substanz, Vernunft, Telos) her gedacht werden und nicht mehr nach der Methode des Unbedingten, der systematischen Deduktion aus einem Prinzip.
Doch dadurch ist zunächst nur eine bestimmte Gestalt der Wahrheit aufgelöst, nicht auch schon ihre Struktur als Haltung des Menschen, sich so zu einem Gegebenen zu verhalten, dass er es als solches vor sich bringt. Sie muss von der Haltung der Wahrhaftigkeit her, die als Boden des Wahrheitens allein noch bleibt, aus der geschichtlichen Überwindung ihrer metaphysischen Festlegung neu bestimmt werden.
1.2. Nietzsches leitende Begriffe zur Neubestimmung der Wahrheit
In Also sprach Zarathustra macht Nietzsche einen ersten Ansatz zur konstruktiven Grundlegung der Philosophie aus den leitenden Begriffen Leib, Leben, Wille zur Macht, Umwertung aller Werte, Übermensch und ewige Wiederkehr. Der Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes“ exponiert zunächst die Begriffe Leib, Leben, Selbst und Wille zur Macht. Sie reichen zur Grundlegung der Neubestimmung der Wahrheit zunächst aus.
Nietzsche geht in diesem Abschnitt so vor, dass er die metaphysischen Begriffe „Seele“, „Ich“, „Geist“, „Vernunft“, ohne sie scharf voneinander abzugrenzen, auf ihre gemeinsame Voraussetzungsabhängigkeit, ihre Bedingtheit hin kritisiert. Er will „endlich die Voraussetzungen, auf denen die Bewegung der Vernunft ruht, ans Licht bringen“ (Nachlass 1886/87, 7[63], KSA 12.317). So ist „Seele nur ein Wort für ein Etwas am Leibe“, der Leib aber mit seinem Selbst Wohnung und „mächtiger Gebieter“ der „Gedanken und Gefühle“, des „Ichs Beherrscher“ und „Schöpfer des Geistes“. Dass der Geist dem Leib entspringt, der Leib sein Handeln umfasst und beherrscht, heißt jedoch nicht, dass der Leib nun Grund (arché) und Substanz im metaphysischen Sinn geworden sei, der Geist aber nur abhängiges Akzidens. Geist ist als „Werk- und Spielzeug“ wohl in den Zielen seines Handelns vom Leib bedingt, er hat kein Telos in sich: „was der Sinn fühlt, was der Geist erkennt, das hat niemals in sich sein Ende“ (Za I, Von den Verächtern des Leibes). Seinem Denken, seiner Logik wird seine Ursprünglichkeit und „anscheinende[] Selbstherrlichkeit“ aberkannt (JGB 3; vgl. JGB 16, 17). Aber als Werkzeug bleibt er zugleich vom Leib unterschieden, seine „kleine Vernunft“ hat ihre eigentümliche Struktur, ihre eigene Logik.13
In seiner Konstruktion zur Überwindung der metaphysischen Begriffe hält Nietzsche am Begriff der Vernunft fest, erweitert ihn jedoch zur „grosse[n] Vernunft“ des Leibes. Halten wir uns an Kants Bestimmung (KrV A 322), die Vernunft sei das Vermögen, die Totalität der Bedingungen zu einem Unbedingten zu denken, so muss der Leib, die große Vernunft, darin die Fähigkeiten des Geistes, der kleinen Vernunft, überragen und umfassen: „dieses ganze Phänomen ,Leib‘ ist nach intellectuellem Maaße gemessen unserem Bewußtsein, unserem ‚Geist‘, unserem bewußten Denken, Fühlen, Wollen so überlegen, wie Algebra dem Einmaleins“ (Nachlass 1885, 37[4], KSA 11.577). Der Leib misst „nach Gesammt-Nützlichkeit, Gesammt-Schädlichkeit“, die durch „Lust- und Unlustgefühle“ angezeigt werden (Nachlass 1887/88, 11[71], KSA 13.34); mit einem Reichtum von Informationen und einer Schnelligkeit ihrer Verrechnung, deren das Bewusstsein nicht fähig wäre, reguliert er seine Funktionen im Umgang mit der Welt. Und er bestimmt auch die Folge der Gedanken: „Daß ein Gedanke unmittelbar Ursache eines anderen Gedankens wäre, ist nur scheinbar. Das eigentlich verknüpfte Geschehen spielt <sich> ab unterhalb unseres Bewußtseins“ (Nachlass 1885/86, 1[61], KSA 12.26). In den Regeln der Logik fangen sich die Einfälle des Leibes.
Der Leib, der das Bewusstsein trägt und ihm zu denken gibt, ist seinerseits weit entfernt, ursprünglicher, unbedingter Grund zu sein. Er ist zum einen selbst nur „das beste Gleichniß“ für eine undurchsichtig komplexe Vielfalt „jener kleinsten lebendigen Wesen, welche unseren Leib constituiren“ (Nachlass 1885, 37[4], KSA 11.577), und ist zum andern bedingt von der „Welt“, dem „Dasein“ (FW 374), der „Realität“ (Nachlass 1887/88, 11[99], KSA 13.48), ist durchgehend mit ihr verschränkt. Aber auch die „Realität“ ist kein letztes Faktum, sie ist wiederum nur durch einen Leib, d. h. perspektivisch zu erfassen: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, daß sie unendliche Interpretationen in sich schliesst“ (FW 374). Welt heißt so immer individuelle Lebenswelt, und die Individualität eines Leibes – oder dessen, „was wir ,Leib‘ nennen“ (Nachlass 1885, 37[4], KSA 11.577) – liegt in seiner je eigentümlichen Verschränkung, in seinem Funktionszusammenhang mit der Welt im Ganzen, die sich prinzipiell nicht als eine in sich gefügte erfassen, d. h. zum Gegenstand machen lässt: „Noch einmal fasst uns der grosse Schauder – aber wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen?“ (FW 374) So löst sich die Struktur der unbedingten arché überhaupt auf in eine Verschränkung gleichursprünglicher Momente: Leib und Welt bedingen einander wechselseitig im ursprünglicheren Geschehen der Weltfeststellung, das sich nicht mehr an fixe Pole oder eine höchste Instanz binden, sondern sich je nur in seinen individuellen Vollzügen verstehen lässt:
Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen. Man mu<ß> das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten <und> Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre. (Nachlass 1886/87, 7[62], KSA 12.317)14
Die Verschränkung und wechselseitige Bedingtheit von Leib und Welt denkt Nietzsche im Begriff des Selbst. Selbst heißt das Sich-zu-sich-ins-Verhältnis-Setzen des Leibes unter den Bedingungen seiner Welt; es hebt die abstrakte Selbstbezüglichkeit des Ichs in sich auf. Nietzsche spricht vom Selbst als einem „höheren überschauenden Intellekt[]“, in dessen Dienst „das Bewußte Ich selber nur als ein Werkzeug“ steht (Nachlass 1883/84, 24[16], KSA 10.654), einem übergeordneten „Centrum der ganzen Individuation“ (Nachlass 1887, 7[9], KSA 12.295). Das Selbst ist zugleich als Bewusstsein eigenmächtig und als Leib bedingt.
Der Begriff des Leibes und seiner Verschränkung mit der Welt im Selbst führt schließlich zum Begriff des Lebens, dem letzten und zugleich grundlegenden Begriff in der Konstruktion im Abschnitt „Von den Verächtern des Leibes“. „Innerhalb der Sprache der Philosophie“ bedeutet der Begriff des Lebens „die Erfahrung eines Gegenständlichen, von dem das Subjekt sich selbst nicht abzuheben vermag und demgegenüber es in seinem Selbstbegriff als rein ,transzendentales‘ Denkvermögen scheitert.“15 ,Leben‘ ist das, was alles bedingt, auch das, was es selbst bedingt oder zu bedingen meint wie das Bewusstsein oder die Vernunft; in diesem Bedingt-Bedingend-Sein bleibt es dem Bewusstsein bzw. der Vernunft undurchsichtig. Indem die Vernunft sich als Leben erfasst, schließt sie sich selbst in dieses Bedingt-Bedingend-Sein ein, ohne darum mit ihm identisch zu sein; sie kann sich vom Leben im Übrigen nicht hinreichend unterscheiden. Nietzsche drückt das so aus:
Man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht <ist>, sich nicht foppen zu lassen. (Nachlass 1886/87 [10. Juni 1887], 5[71]5, KSA 12.213)
Er legt damit das Verhältnis von Vernunft und Leben gegenüber Aristoteles und der metaphysischen Tradition neu fest.16 Auch Aristoteles gilt die Vernunft als Moment des Lebens, sie zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie sich ihm gegenüber selbständig, unbedingt verhält, dass ihr ein chorismós zukommt. Sie verbindet sich zunächst mit anderen Momenten wie Wachstum, Ernährung, Ortsveränderung und Wahrnehmung (de an. 413 a 22-25) zum Begriff des Lebens. Dessen Grundbestimmung als physis ist es, Ursprung und Ziel der Bewegung in sich selbst zu haben. Dieser Ursprung manifestiert sich im einzelnen Lebendigen als Seele (psyché). Sie ist Grund der Bewegung eines einzelnen stofflichen Leibes, und als solcher bleibt sie dem Begründeten, dem Leib gegenüber vorrangig. Die verschiedenen Momente des Lebens sind – nach dem metaphysischen Kriterium unbedingter Eigenständigkeit – desto höher einzustufen, je mehr Selbständigkeit sie dem Lebendigen ermöglichen.
Die Vernunft (nûs) zeigt sich dadurch als höchste Möglichkeit des Lebens, dass sie alles übrige in seiner wesentlichen Bestimmtheit (eîdos) erkennen und sich so den größten Spielraum und den umfassendsten Halt im Seienden schaffen kann. Da sie, anders als die übrigen Momente des Lebens, kein körperlich ausweisbares Organ hat, muss sie vom Körper unabhängig sein (429 a 25–b 5).
Das Leben entlässt so die Vernunft als unbedingte aus sich und wird dadurch zur Wahrheit fähig, zur Distanzierung der Vernunft vom Gegebenen und freien Gelten- und Bestehen-Lassen allgemeiner Ordnungen, deren Erkenntnis vom einzelnen Lebendigen nicht bedingt und in ihm nicht prinzipiell eingeschränkt ist. Sofern aber das Lebendige auch das Ziel seiner Bewegung in sich selbst hat, ist es entelécheia, lebt und wächst nach einem ihm vorgegebenen Ziel (télos), sein Wachsen und Verhalten hat immer schon Grenze (péras) und Maß (lógos; 416 a 16-17), nämlich wiederum das Maß, selbständig und das heißt im Äußersten ewig und göttlich (415 b 1-7) und also im Sein unbedingt zu werden. Dieses Maß, das sich zuerst in der wesentlichen Bestimmtheit (eîdos) der biologischen Art zeigt, bleibt im Wechsel der Individuen, leitet ihr Werden und ist darum ihnen gegenüber selbständig und vorrangig, wiederum ein von ihnen unbedingtes seiendes Allgemeines. Eben dieses unbedingte Allgemeine, die eîde, erfasst die Vernunft in ihrem Wahrheiten. Sie gewinnt dadurch auch vom Gegenstand ihres Wahrheitens her ihre ausgezeichnete Selbständigkeit gegenüber allem mit Körperlichem Verbundenen. Ihre höchste Selbständigkeit erfährt sie zuletzt darin, dass sie das im höchsten Grade Selbständige, das Göttliche, erfasst. Dies Göttliche ist ein „ewiges, bestes Lebendiges“ (Met. Λ 7, 1072 b 29), sein Leben ist nurmehr Bedingung seiner selbst und alles anderen, frei von aller Möglichkeit, Zufälligkeit, Bedingtheit, Leben in einem gesteigerten Sinn, der das ursprüngliche Bedingt-Bedingend-Sein zurücklässt.
Nietzsche gesteht der Vernunft nicht mehr diese Unbedingtheit gegenüber dem Leben zu. Er fasst das Leben, vorbereitet durch Hegel, nicht mehr nur von seinen Möglichkeiten zur Selbständigkeit her, sondern ebenso als Aneignung und Überwältigung des andern. Er gibt „eine neue Fixirung des Begriffs ,Leben‘, als Wille zur Macht“ (Nachlass 1886/87, 7[54], KSA 12.313):
Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung (JGB 259).
Auch die Vernunft bzw. der Geist hat, als Moment des Lebens und „Werkzeug des Leibes“, diesen „zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen“, die „Absicht […] auf Einverleibung neuer ,Erfahrungen‘, [. . .] auf Wachsthum also“ (JGB 230). Aber so wenig sie bzw. er selbst ein Einfaches, in sich Gefügtes und gegen anderes scharf Abgegrenztes ist (JGB 16-19), lässt sich der Wille zur Macht als „Wesen des Lebendigen“ (JGB 259), wie Wolfgang Müller-Lauter gezeigt hat,17 als Eines und Einheitliches, als ursprünglich Allgemeines und unbedingter Grund alles Seienden verstehen, er macht ein „Un-fest-stell-bares“, ein in sich vielfältiges Bedingungsgefüge aus. Er ist nicht an ein allgemeines, selbst unbedingtes Maß gebunden, und die Individuen streben daher in ihrem Wachsen und Verhalten nicht nach der Erhaltung eines solchen Allgemeinen:
Gegen die Theorie, daß das einzelne Individuum den Vortheil der Gattung, seiner Nachkommenschaft im Auge hat, auf Unkosten des eigenen Vortheils: das ist nur Schein (Nachlass 1886/87, 7[9], KSA 12.295).
Sie sind „Kraft-Quanta, deren Wesen darin besteht, auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben“ (Nachlass 1888, 14[81], KSA 13.261). Wenn Nietzsche von „Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht‘“ spricht (JGB 22), so heißt das nicht, dass in ihm „Gesetze […] herrschen“, sondern gerade, dass „absolut die Gesetze fehlen“: „wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein ,Princip‘, kein ,Gesetz‘, keine ,Ordnung‘“ (Nachlass 1888, 14[81], KSA 13.261).
Mag nun Darwin die Geschichtlichkeit des Allgemeinen im biologischen Leben gesehen haben, so liegt doch die Grenze seiner philosophischen Bedeutsamkeit für Nietzsche darin, dass er am télos der Erhaltung der Art festhalte, dem das Einzelne unterworfen bleibe. Dieses télos zeigt aber nach Nietzsche spätestens am phänomenalen Befund der Wirklichkeit des Menschen seine Grenze: (1) Mit der konkurrenzlosen Herrschaft des Menschen über die Natur und durch seine Züchtigung mittels der metaphysisch-christlichen Moral sind die natürlichen Selektionsmechanismen verändert und zunehmend ausgeschaltet. Der Mensch braucht nicht mehr um die Erhaltung seiner Art zu kämpfen. Es kommt nicht mehr auf Tiefe und Bosheit, „die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier“ (GM I 6), an, sondern unter der Herrschaft des Geistes werden die Schwachen, Braven und Oberflächlichen mächtig: „Darwin hat den Geist vergessen […], die Schwachen haben mehr Geist ...“ (GD, Streifzüge 14), „die Mittel der Schwachen, um sich oben zu erhalten, sind Instinkte, sind ,Menschlichkeit‘ geworden, sind ,Institutionen‘ …“ (Nachlass 1888, 14[137], KSA 13.). (2) Der „Lebens-Grundtrieb“ des Menschen ist aber zunächst „Machterweiterung“, ja „Seligkeit […] in der Gefahr“, und nur im Grenzfall „Selbsterhaltung“ (FW 349, vgl. JGB 224, 13). (3) Er kann und muss die Zukunft seiner Art in eigener Verantwortung gestalten (JGB 203, 208, 251). Das Leben „vermag“, wie es gegen Ende von Zarathustras Rede „Von den Verächtern des Leibes“ heißt, „über sich hinaus zu schaffen“. (4) Die „Machterweiterung“ (FW 349) in der Gestaltung der Zukunft des Menschen geht von starken Individuen aus, die von der Menge der Schwachen mit Hilfe der Moral jedoch erfolgreich und dauerhaft niedergekämpft werden, so dass ein Widerspruch zwischen den an der Art orientierten Kriterien Stärke und Dauer entsteht (Nachlass 1886/87, 7[25], KSA 12.304 f.).
Dem Allgemeinen kommt so kein Recht zu, sich als unbedingtes Maß des Individuellen zu behaupten, Selbständigkeit und Vorrang ihm gegenüber zu beanspruchen. Die Vernunft kann sich vom Leben nicht als unbedingte unterscheiden – was sie nicht in ihrer Funktion antastet, das Allgemeine zu setzen und festzuhalten:
Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben, das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können (GM II 1).
Nietzsche hat keineswegs als ,Lebensphilosoph‘ den Sinn des Allgemeinen verkannt.18
Damit sind nun die Grundentscheidungen für Nietzsches neue Bestimmung der Wahrheit gefallen. Die Bestimmung des Menschen nimmt in ihrer Struktur die des Lebens auf, ein in sich vielfältiges, letztlich undurchschaubares Bedingungsgefüge und darin Wille zur Aneignung und Steigerung zu sein, der als Selbst perspektivisch immer weiter ausgreift. Sein Wahrheiten ist darum nicht mehr ein Verhalten zu ursprünglich Vorgegebenem bzw. notwendig Gesetztem, sondern ein Überwinden des immer schon durch es selbst, aber auch durch anderes Bedingten, das sich unablässig verschiebt. Damit wird aber die aristotelische Struktur der Wahrheit – und nicht nur ihre metaphysische Festlegung – überwunden. Das Wahrheiten wird zu einem Geschehen, das – auf der Seite des Menschen wie des Gegebenen – seine feste Fügung, seinen Halt verliert und nicht mehr als entscheidbares Verhalten zwischen bleibenden Relata verstanden werden kann. Mensch und Gegebenes werden erkenntnistheoretisch radikal distanziert, „es giebt keine ,Wahrheit‘“ (Nachlass 1885/86, 2[108], KSA 12.114).
Dann aber heißt die Frage: „Nicht wie ist der Irrthum möglich, […] sondern: wie ist eine Art Wahrheit trotz der fundamentalen Unwahrheit im Erkennen überhaupt möglich?“ (Nachlass 1881, 11[325], KSA 9.568). Dadurch, dass Mensch und Gegebenes ontologisch im Begriff des Lebens zusammenkommen:
Zuletzt: unsere idealistische Phantasterei gehört auch zum Dasein und muß in seinem Charakter erscheinen! Es ist nicht die Quelle, aber deshalb ist es doch vorhanden. Unsere höchsten und verwegensten Gedanken sind Charakterstücke der ‚Wirklichkeit‘. Unser Gedanke ist von gleichem Stoff wie alle Dinge. (Nachlass 1881, 12[11], KSA 9.578)
Die ontologische Einheit schafft dem Wahrheiten einen neuen Spielraum und einen neuen Maßstab. Wenn der Mensch mit dem Werkzeug seiner Vernunft Distanz zu seinen Bedingungen nimmt, sie vergegenständlicht und in Ordnungen festlegt, kann er dadurch ein Bild seiner Zukunft entwerfen, auf das hin er sie gestalten, die Steigerung seines Lebens also steuern und d. h. wiederum steigern kann. Seine Freiheit versteht sich so jedoch nicht mehr aus einer unbedingten praktischen Vernunft, sondern wird als „positive Macht, als Wille zur Macht angesetzt“ (Vorstufe zu GD, Streifzüge 38 f., KSA 14.431), als Schaffen von Spielräumen durch und zur Steigerung: „Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen“ (Za I, Von den drei Verwandlungen). Freiheit wird zum Geschehen, in dem sie sich steigern, halten, aber auch verfallen kann, und in dieses Geschehen gehört nach Nietzsche das Wahrheiten, als bedingtes und im letzten undurchsichtiges, im Schaffen aber erfolgreiches Verhalten aus der Haltung der Wahrhaftigkeit:
„Wahrheit“ ist somit nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt, mehr noch für einen Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen, nicht ein Bewußtwerden von etwas, <das> „an sich“ fest und bestimmt wäre. Es ist ein Wort für den „Willen zur Macht“ (Nachlass 1887, 9[91], KSA 12.385).
Wahrheit macht so eine äußerste Möglichkeit der (bedingten) Freiheit aus, den Willen nämlich, die je zugewachsenen Lebensbedingungen zu durchschauen, zu überwinden und dadurch sich (neue, stärker von sich her bedingte, also bedingende) Freiheit zu schaffen.
Das erste Kriterium der Urteilswahrheit, die Entsprechung zur Sache, kehrt in dieser Bestimmung auf höherer Stufe wieder: Wahrheiten als Moment des Lebens ist wahr, wenn es dessen Grundbestimmung entspricht, Wille zur Macht, Steigerung zu sein. Aber auch diese Wahrheit weiß sich noch als bedingte Interpretation (JGB 22). Auch „jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel des wachsenden oder des niedergehenden Lebens angesehen werden“ (NW, Wir Antipoden), auch das Wahrheiten der Philosophie kann, wenn es seinen Lebensbedingungen zuwiderläuft, der Selbsttäuschung verfallen (JGB 230). Vor allem „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet“ (Nachlass 1881, 11[162], KSA 9.504). Und andererseits kann das Wahrheiten die „Denkbarkeit“ und die Sprache auch im vollen Bewusstsein seiner notwendigen Selbsttäuschung als seine Bedingungen nicht aufgeben (vgl. Za II, Auf den glückseligen Inseln; Nachlass 1886/87, 5[22], 12.193 f.). Auch wenn es die Logik und die Sprache, wie sie sich geschichtlich ergeben haben, als Mittel der Berechnung, Erleichterung, Verdinglichung und Verfälschung des Lebens durchschaut hat (vgl. Nachlass 1885, 38[4], KSA 11.598; Nachlass 1887, 9[97], KSA 12.389-391; Nachlass 1888, 14[153], KSA 13.336-338; Nachlass 1888, 18[13], KSA 13.535 f.), bleibt es, will es überhaupt in die Dinge „Wahrheit hineinlegen“, dem Denken „in der sprachlichen Form“ verhaftet (Nachlass 1886/87, 5[22], 12.193 f.).
1.3. Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit
Man wird so die Wahrheit, will man die Logik nicht erneut zu ihrem letzten Bestimmungsgrund machen, nicht bindend definieren können. Wir kommen über eine Verschiebung der „Horizontlinien unsrer Erkenntniß“ (Nachlass 1886/87, 5[3], KSA 12.185) und „starke Gegen-Begriffe“ (Nachlass 1888, 23[3]3, KSA 13.603) nicht hinaus. Wir können den Begriff der Wahrheit lediglich explizieren, explizieren im Sinne Kants, indem wir „nur einige Merkmale“ angeben, die „zum Unterscheiden hinreichend sind“, so dass „der Begriff […] niemals zwischen sicheren Grenzen“ steht und „viel dunkle Vorstellungen enthalten kann“ (KrV A 727 f.).
Ich expliziere ihn nach sechs Kriterien, um ihn, dem eingangs zitierten Nachlass-Fragment folgend, vom Wahrheitsbegriff der Metaphysik aus seiner Überwindung nach den entwickelten Begriffen Leben, Selbst, Freiheit, Leiblichkeit, Perspektivität und Steigerung zu unterscheiden. Wahrheit meint dabei zunächst immer Wahrheiten, erst in zweiter Linie érgon, Einsichten, Urteile. Die Kriterien ordnen sich nicht zu einer ,Phänomenologie der Wahrheit‘ im Sinn von Hegels Phänomenologie des Geistes, einem schrittweisen und folgerichtigen Überwinden von als wahr vorausgesetzten, sich aber als unwahr erweisenden Bestimmungen, so dass sich eine letzte Wahrheit der Wahrheit herausstellte. Sie geben Perspektiven frei, die sich miteinander verschränken. Nach den ersten drei Kriterien werden die überlieferten Bestimmungen negiert, nach den folgenden zusammen mit ihrer Negation bewahrt. Die Bewahrung der Negativität, des „Gegensatz-Charakters“, ist der Grundgedanke von Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, die Bereitschaft, „die Kehrseite der Dinge als nothwendig“ zu verstehen (Nachlass 1887, 10[111], KSA 12.519).
(1) Das Wahrheiten ist nicht unbedingt, sondern bedingt – Leben. Es versteht sich als bedingend und bedingt aus dem Bedingungsgefüge des Lebens:
ein An-sich, ein Unbedingtes […] kann nicht erkannt werden: sonst wäre es eben nicht unbedingt […] Erkennen heißt „sich in Bedingung setzen zu etwas“: sich durch etwas bedingt fühlen […] – – es ist also unter allen Umständen ein Feststellen Bezeichnen Bewußtmachen von Bedingungen (nicht ein Ergründen von Wesen, Dingen, „An-sichs“) (Nachlass 1885/86, 2[154], KSA 12.141 f.).
Die Einsicht in das Bedingt-Bedingend-Sein als Moment des Wahrheitens hat sich in der gegenwärtigen Philosophie vor allem in der Auseinandersetzung mit Kant durchgesetzt. Hatte Kant noch unter den Bedingungen der Sinnlichkeit am transzendentalen a priori festgehalten, so ist es heute im Falsifikationismus Poppers und in der Analytischen Philosophie, vor allem von Quine, als bedingt erkannt. Putnam geht, ohne freilich sich auf Nietzsche zu berufen, inzwischen so weit, alle „unsere Maßstäbe der rationalen Akzeptierbarkeit, der Rechtfertigung und letztlich der Wahrheit abhängig [zu machen] von Ähnlichkeitsstandards, die offensichtlich ein Produkt unseres biologischen und kulturellen Erbes sind“.19 Auch in der anthropologischen Konzeption der Vernunft als Kompensation der Weltoffenheit, in der evolutionären Erkenntnistheorie, im hermeneutischen Theorem der Wirkungsgeschichte, in der existenziellen Wahrheit als Vollzug der individuellen Existenz und im Ansatz der Kritischen Theorie erscheint das Wahrheiten stets als – wenn auch von verschiedenen Seiten her – prinzipiell bedingt. „Die Philosophie ist antiaprioristisch geworden. [Sie hat] anerkannt [. . .], daß das meiste von dem, was uns als Wahrheit a priori gilt, kontextabhängigen und relativen Charakter hat“.20
(2) Das Wahrheiten ist nicht unbewegt, sondern geschichtlich – Selbst. In seinem Bedingt-Bedingend-Sein sieht sich das Wahrheiten wandelbaren Lebensbedingungen, der Geschichte ausgesetzt. Es sucht Wahrheit darum nicht als unbewegte festzustellen, sondern reflektiert sie je neu aus den jeweiligen Lebensbedingungen, setzt sie also der Bewegung des Selbst in seiner Welt aus. Besonders die Philosophische Hermeneutik und die Existenzphilosophie nehmen ihre Geschichtlichkeit als unentrinnbar auf und machen sie unter einem Schatten von Tragik zu ihrer eigensten Sache.21 Nietzsche selbst will die Beweglichkeit des Wahrheitens, sucht die Vielfalt seiner Bedingungen bewusst, fast lustvoll auf:
Als ich die Lust an der Wahrheit haben wollte, erfand ich die Lüge und den Schein – das Nahe und Ferne, Vergangene und Künftige, das Perspektivische. Da legte ich in mich selber die Dunkelheit und den Trug und machte mich zu einer Täuschung vor mir selber. (Nachlass 1882/83, 5[1]244, KSA 10.216)
Mit Thomas S. Kuhn setzt sich die Geschichtlichkeit der Wahrheit schließlich auch in der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften durch. Für Nietzsche aber verfielen Paradigmata ,normaler Wissenschaft‘ schon der Selbsttäuschung, höbe schon jede Art von Glauben und Überzeugung die Bewegung des Selbst auf und entfremdete es sich: „Jede Art von Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung“ (AC 54), und in diesem Sinne sind „Ueberzeugungen […] gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.“ (MA I 483; vgl. AC 55)
Anstatt des Glaubens, der uns nicht mehr möglich ist, stellen wir einen starken Willen über uns, der eine vorläufige Reihe von Grundschätzungen festhält, als heuristisches Prinzip: um zu sehn, wie weit man damit kommt. (Nachlass 1884, 25[307], KSA 11.89)
Von solchen Hypothesen kann nicht nur nicht erwartet werden, dass sie sich endgültig oder auch nur approximativ – was Popper noch nahelegt – bestätigen lassen, ihre Wahrheit bemisst sich – bei aller Strenge der Forschung22 – nicht einfach nach ihrer Bewährung an Tatsachen der Erfahrung, sondern vor allem auch danach, welche Möglichkeiten des Erkennens und Handelns sie unter den jeweils erfahrenen Bedingungen – und dazu gehören auch ,Tatsachen‘ – sie eröffnen. Nietzsche vertritt damit nicht nur, um den metaphysischen Wahrheitsbegriff abzuwehren, einen pragmatistischen Wahrheitsbegriff –
Als „Wahrheit“ wird sich immer das durchsetzen, was nothwendigen Lebensbedingungen der Zeit, der Gruppe entspricht: auf die Dauer wird die Summe von Meinungen der Menschheit einverleibt sein, bei welchen sie ihren größten Nutzen d. h. die Möglichkeit der längsten Dauer hat. (Nachlass 1881, 11[262], KSA 9.541) –,
sondern geht noch entschieden über ihn hinaus. Er bleibt nicht beim Kriterium des Nutzens (Nachlass 1887, 9[38], KSA 12.352) stehen, das ja auch (nützliche) Überzeugungen zuließe, sondern
daß jede Erhöhung der Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt – dies geht durch meine Schriften. (Nachlass 1885/86, 2[108], KSA 12.114, korr.).23
(3) Wahrheiten heißt so wesentlich sich in Freiheit setzen und, da dadurch neue Lebensbedingungen geschaffen werden, neu interpretieren, ,umwerten‘. In der Freiheit des Wahrheitens ist Wahrheit nicht ursprünglich gegeben, sondern geschaffen, oder: nicht das Gegebene, sondern das Geschaffene ist wahr.
Der Mensch ist sich bewusst geworden, dass er in den von ihm geschaffenen Spielräumen über die Maßstäbe der Wahrheit selbst entscheidet:
Der neue Muth – keine a priorischen Wahrheiten [...] sondern freie Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat […] (Nachlass 1884, 25[211], KSA 11.69)
Der Entscheidungscharakter der Wahrheit, der nichts mit Willkür zu tun hat, hat sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Wissenschaften auf breiter Front, nach ihren Grundlagenkrisen im 19. bzw. 20. Jahrhundert auch in Mathematik und Physik bestätigt.24
Die Absolutheit des Wahren als Unbedingtem, Unbewegtem und ursprünglich Gegebenem ist damit aufgelöst; die überlieferten Bestimmungen des Bewussten, Allgemeinen und Widerspruchsfreien bewahrt Nietzsche dagegen – zusammen mit ihrer Negation.
(4) Das Wahrheiten ist zugleich bewusst und leiblich – Leiblichkeit. Wenn die große Vernunft des Leibes selbst ein Wahrheiten ist, das nicht nur weit mehr, sondern, unter dem Aspekt der Lebensdienlichkeit, weit sicherer erschließt als das Bewusstsein, so dass das in sich vielfältige Bewusstsein geradezu „vor dem unzählig Vielfachen in den Erlebnissen dieser vielen Bewußtseins geschützt und abgeschlossen“ bleiben muss (Nachlass 1885, 37[4], KSA 11.578), so steht das Wahrheiten, sofern es bewusst sich von solchen Immunisierungen befreien und „souverän“ werden will, in einer zweifachen Bewegung: Es macht einerseits das Leibliche bewusst und zersetzt so seine Instinkte und Gewohnheiten, um es von sich aus gestalten zu können, und verleibt andererseits solche bewusst gemachten Orientierungen ein, um zu neuen instinktsicheren Gewohnheiten zu kommen. Eine „vererbte Gewohnheit“ macht „unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss“ einer „neuen Gewohnheit“ Platz (MA I 107): das bedeutet die Aufklärung weiterzutreiben (M 197), aber auch ihrer „lächerlichen Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins“ zu entgehen und also die „Aufgabe, das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu machen“ (FW 11). Nietzsche will mehr als Gehlen in seiner Anthropologie, er will nicht nur das Bewusstsein entlastet sehen, um es in seiner Weltoffenheit lebensfähig zu halten, sondern „daß ein höherer Leib sich bildet“ (Nachlass 1883/84, 24[16], KSA 10.655), „das souveraine Individuum“, dem sich das „stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit […] bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt“ hat (GM II 2).
(5) Das Bewusstsein, das aus und mit der Vernunft seines Leibes wächst, eröffnet Bedingungen und Möglichkeiten des Ganzen des Lebens, doch je perspektivisch. Die Perspektivität konstituiert die Welt als je individuelle: „Zu jeder Seele gehört eine andere Welt; für jede Seele ist jede andere Seele eine Hinterwelt“ (Za III, Der Genesende 2). Die (große mit der kleinen) Vernunft hat ein empirisch – individuell und geschichtlich – erfahrbares Ganzes vor sich mit einem weitgehend einverleibten Netz von Ordnungen und Werten, größtenteils nicht explizit und nicht vollständig explizierbar. Es lässt Dunkelheiten und Widersprüche in sich zu, es kann und braucht in seiner Ordnung nicht aus einem Prinzip logisch und systematisch abgeleitet zu werden. Vernunft ist nicht nur die immer schon allgemeine, sich selbst vollkommen durchsichtige und die Welt logisch bestimmende wissenschaftliche Vernunft: die Welt wird zugleich von einer je individuellen, in sich heterogenen, sich undurchsichtigen Vernunft in der Wahrheit je individueller und heterogener Ganzer entworfen.25
Die Perspektivität schließt jedoch Kommunikation und Konsens in einheitlichen Fügungen nicht aus: sie lässt zugleich allgemeines und individuelles Wahrheiten zu. Allgemeine Wahrheit wird möglich durch Vermittlung individueller Perspektiven unter gemeinsamen (für Nietzsche immer schon moralischen) Interessen oder durch die (wiederum moralisch bedingte) Anerkennung der Festlegungen anderer. Nietzsche äußert die „Vermuthung […], dass Bewusstsein überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat“ – „nicht [die] Vernunft, sondern allein [das] Sich-bewusst-werden[] der Vernunft“. Es wird darum aber „immer nur gerade das Nicht-Individuelle [am Individuum] zum Bewusstsein bringen […], sein ,Durchschnittliches‘“, „nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt […], eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt“ (FW 354).26 Dieser „,Genius der Gattung‘“ aber erschließt, einmal etabliert, die Welt wiederum eigentümlich und eigengesetzlich in seiner (unserer) Logik und kann sich zum „herrschenden Vorurtheil“ einer „moralische[n] Ontologie“ ausbilden (Nachlass 1886/87, 7[4], KSA 12.265), deren Selbstverständlichkeit ihren Ursprung und Charakter vergessen lässt. Bei aller Kritik an der überlieferten Eigenständigkeit des Allgemeinen wendet sich Nietzsche scharf dagegen, nun das Individuum zu einem ursprünglichen Ausgangspunkt zu machen. Das Individuum ist selbst immer schon nicht nur durch seine individuelle Welt bedingt, sondern diese und damit es selbst ist durch begriffliches Allgemeines gedeutet und festgehalten:
In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle Irrthümer – das Individuum selber ist ein Irrthum [...], eine „Einheit“, die nicht Stand hält. (Nachlass 1881, 11[7], KSA 9.442 f.; vgl. Nachlass 1887/88, 11[73], KSA 13.36 f.).
Der Begriff „Individuum“ ist falsch. (Nachlass 1885, 34[123], KSA 11.462).
So lässt sich weder für das Allgemeine noch das Individuelle ein Vorrang begründen. Sie stehen in vielfacher Verschränkung, die die Philosophie (auch Nietzsche selbst) noch nicht hinreichend aufgeklärt hat. Im Rahmen der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften hat Popper die wechselseitige Bedingtheit von theoretischem Entwurf und Beobachtung gezeigt und für die Wissenschaften von Gesellschaft und Geschichte zuerst Dilthey, dass ontologisch alles Allgemeine als Individuelles und im Verstehen alles Individuelle allgemeingültig zu erfassen ist. Am weitesten ist hier vielleicht die Sprachphilosophie vorgestoßen, die von dem „Grundfaktum menschlicher Sprachlichkeit“ ausgehen muss, dass in der Kommunikation allgemeine Bedeutungsidentität vorausgesetzt, d. h. als wahr angenommen werden muss, doch zugleich „mit der entgegengesetzten Voraussetzung, daß auch von einem möglichen ,Andersverstehen‘ des andern auszugehen sei, ohne dass man einen ,Bereich‘ oder gar einen ‚Kern‘ identischen Verstehens a priori dagegen abgrenzen könnte.“27
(6) Allgemeines Wahrheiten gerät, legt es sich nach den Regeln von Logik und Sprache auf Widerspruchsfreiheit hin fest, notwendig mit seiner individuellen Bedingtheit und lebendigen Bewegtheit in Widerspruch. Es kann diesen ,existentiellen‘ Widerspruch nur überwinden, indem es sich zu einem neuen Maßstab steigert, der Gerechtigkeit. Wahrheiten als Moment des Lebens sucht selbst Steigerung, ist, als Wille zur Wahrheit, Wille zur Macht. So wird es zweideutig. Es will einerseits Halt gewinnen, und der „Sinn für Wahrheit [ist] im Grunde der Sinn für Sicherheit“ (M 26), ein Symptom der Schwäche und also ein Widerspruch zum Wesen des Lebendigen als Machterweiterung, es verfällt dem „blinden Vertrauen in die Vernunft“, die sich eine wahre, unbedingte, widerspruchslose, seiende Welt erschließen will:
Diese Welt ist scheinbar – folglich giebt es eine wahre Welt.
Diese Welt ist bedingt – folglich giebt es eine unbedingte Welt.
Diese Welt ist widerspruchsvoll – folglich giebt es eine widerspruchslose Welt.
Diese Welt ist werdend – folglich giebt es eine seiende Welt.
Lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft […]) (Nachlass 1887, 8[2], KSA 12.327).
Der Wille zur Wahrheit will andererseits den Halt der gewohnten Selbsttäuschung überwinden, und also hat die „Wahrheit“ „negativen Charakter“ – „als Beseitigung eines Irrthums, einer Illusion“ (Nachlass 1884, 25[165], KSA 11.58). Aber auch für dieses die Lebendigkeit bewahrende Überwinden ist „die Welt […] kein Thatbestand, sondern […] eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es giebt keine ,Wahrheit‘.“ (Nachlass 1885/86, 2[108], KSA 12.114) Auch als überwindendes bleibt das Wahrheiten im Widerspruch. Das Halt-Überwinden als die Wahrheit des Willens zur Wahrheit setzt immer auch einen zu überwindenden – unwahren – Halt voraus, und so müssen wir „die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn“ (JGB 4; vgl. Nachlass 1885, 34[253], KSA 11.506), „das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt“ (MA I 34, vgl. Nachlass 1881, 11[162], KSA 9.503 f.).
Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen. (Nachlass 1885, 34[247], KSA 11.503)
Dieser Glaube an die Wahrheit geht in uns zu seiner letzten Consequenz – ihr wißt, wie sie lautet: – daß, wenn es überhaupt etwas anzubeten giebt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge – und nicht die Wahrheit – göttlich ist .…? (Nachlass 1886/87, 6[25], KSA 12.243)
Im stetig sich wandelnden Bedingungsgefüge des Lebens bedeutet ein ,Haben‘ der Wahrheit, ein Festhalten an ihr, schon ein Leugnen ihrer Bedingtheit, eine Verkehrung ihrer Struktur, in Bewegung, nicht Gegenstand zu sein.28 Jeder Sprechende, jeder Schreibende, besonders aber der schreibende Philosoph, der alles, was er erfasst, in seine vielfältigen Bedingtheiten verfolgen will, ohne sie je zusammenfassen zu können, kennt die Qual der Verfälschung, die ihre Fixierung unumgänglich umschließt. Wahrheit fordert darum, jedenfalls beim „schaffenden“ Philosophen (JGB 211), die Bereitschaft zu ihrer Bewegung heraus, zur Zerstörung der Illusion, sie fixieren, sie haben zu können.
Das Wahrheiten muss sich an der Sache bewegen: es hat seinen Maßstab, als bedingtes Interpretieren, nicht in der Sache, aber, als Interpretieren der Sache, auch nicht in sich selbst, sondern im Überwinden seiner Interpretationen aus dem immer unabsehbar neuen Erfahren der Sache, im Eröffnen von Perspektiven.29 Es entgeht damit seiner Bedingtheit und Scheinbarkeit nicht –
Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. (MA, Vorr. 6) –,
steigert sich aber zu einer je best-gerechtfertigten „Stufe der Scheinbarkeit“ (JGB 34), zur Gerechtigkeit in Nietzsches Sinn, einer Gerechtigkeit, die, wenn sie urteilt, zugleich in der Vielfalt überwundener und überwindender Perspektiven die Erfahrung der Sache immer neu vom Urteil befreit.30 Gerechtigkeit, Sachangemessenheit im Hinblick auf das – immer auch unbewusste – Ganze ihrer – bewusst bewegten – Perspektiven-Optik, ist die Objektivität, die uns noch möglich ist, die äußerste Grenze von Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit.
Hier ist aber auch der Punkt erreicht, wo die Philosophie die Bedingungen des alltäglichen Lebens und der wissenschaftlichen Forschung, sofern sich diese der Forderung des Tages zu stellen und es auf persönlichen oder gesellschaftlichen Nutzen, auf materiellen oder Erkenntnisgewinn abgesehen haben, überschreitet und sie auch selbst an den Rand ihres eigentümlichen Feldes gerät. Nietzsches Philosophie erreicht hier ihre äußerste Radikalität:
Meine Philosophie – den Menschen aus dem Schein herauszuziehen auf jede Gefahr hin! Auch keine Furcht vor dem Zugrundegehen des Lebens. (Nachlass 1881, 13[12], KSA 9.620)
Die Wahrheit nicht ,haben‘, nicht wenigstens vorläufig festhalten zu wollen, kann sich realistischerweise nur eine Reflexion gestatten, die der Sorge um das Nächste enthoben ist und auch noch die philosophische Aufgabe, eine Weltorientierung und Ethik auszubilden, hinter sich lässt. Nietzsche erkennt das auch an: „Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind“, dass sie „Furcht vor der Wahrheit“ haben (JGB 59). Die Philosophie, die als die „wahrhaftigste aller Wissenschaften“ nicht anfangen darf, „an sich selbst zu glauben“ (JGB 9), die auf rücksichtslose Kritik und vorbehaltlose Vorurteilslosigkeit aus ist, kann es sich, aus diesen besonderen Lebensbedingungen heraus, und muss es sich leisten, bedingungslos, wenn auch nicht unbedingt eine Aporie aufzureißen, die sie nicht schließen kann, sondern aushalten muss, kann und muss es sich leisten, in ihrem Willen zur Wahrheit sich die Wahrheit als Ziel zu versagen. Denn nicht erst als Gegenstand, schon zum Ideal, zur regulativen Idee gemacht, verstellt sich die Wahrheit: die „letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaftig ward, – […] Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit …“ (GM III 24)
Die Wissenschaft muss sich in diesem „metaphysischen Glauben“ „eines Werths an sich der Wahrheit“ versichern und unterscheidet sich dadurch prinzipiell von der Philosophie (GM III 24). Die aber darf nicht einmal an ihrer eingangs zitierten „Überzeugung“ festhalten, die Wahrheit nicht zu haben, denn als Überzeugung wäre sie schon falsch, wäre Resignation. Gibt sie sie auf, so muss sie wiederum wissen, „daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr, eine Erweiterung unseres ,leeren Raums‘, einen Zuwachs unserer inneren ,Oede‘–“ (Nachlass 1885, 35[47], KSA 11.533, korr.).
Das Fazit:
Erkenntniß an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntniß möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung. (Nachlass 1886/87, 7[54], KSA 12.313)
darf, auch wenn es einen Fortschritt auf ein a priori bestimmtes Ziel hin ausschließt, dennoch einen „positiven Geist“ nicht entmutigen, Ziele zu setzen, zu „versprechen“ (GM II 1), „an Stelle des Unwahrscheinlicheren das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern“ (GM, Vorr. 4). Die verletzende und lähmende Zweideutigkeit in allem philosophischen Wahrheiten, das Ideale zerstören muss – einschließlich des Ideals, dessen sie bedarf, um Ideale zerstören zu können –, scheint in den gegenwärtigen Strömungen der Philosophie überall wider, wenn auch in milden und erträglichen Formen, die ihre Dogmen und Sedativa, ihre Lehre haben.31 Es ist Nietzsches Verdienst, den Widerspruch im philosophischen Wahrheiten, das Steigerung will, sich aber den Fortschritt versagt, in unüberbotener Radikalität nicht nur offengelegt, sondern aus der Überwindung der Metaphysik zugleich als unüberwindbar ausgeleuchtet zu haben.
1 Eine erste Fassung der folgenden Abhandlung habe ich beim Kursus „Nietzsche und die Philosophie der Gegenwart“ des Inter-University Centre’s of Postgraduate Studies in Dubrovnik (Jugoslawien) am 29. 3. 1982 vorgetragen. Sie wurde in Theoria 3/4 (1982), S. 99-114, in serbokroatischer Übersetzung gedruckt.
2 Joseph Möller, Wahrheit als Problem. Traditionen – Theorien – Aporien, München/Freiburg i. Br. 1971, S. 81-88.
3 L. Bruno Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung, Darmstadt 1978.
4 Wichtige Hinweise geben die Diskussionen der von Wolfgang Müller-Lauter geleiteten Reisensburg-Tagung „Aufnahme und Auseinandersetzung. Friedrich Nietzsche im 20. Jahrhundert“, die in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82) dokumentiert sind. Von den genannten Strömungen kamen dort besonders die Hermeneutik, die Existenzphilosophie und die Kritische Theorie zur Sprache, außerdem die Naturphilosophie, die Soziologie, der Marxismus, der Darwinismus und die Psychoanalyse.
5 Jean Granier stellt in seinem herausragenden, in der deutschen Nietzsche-Diskussion zu wenig berücksichtigten Werk „Le problème de la Vérité dans la philosophie de Nietzsche“ (Paris 1966, 2. Aufl. 1969), wie ich meine, zu Recht das Wahrheitsproblem in die Mitte von Nietzsches Philosophie. In erschöpfender philologischer Breite lässt er so weit wie möglich Nietzsche selbst sprechen („donner la parole à Nietzsche“, S. 7) und bringt seine verstreuten Äußerungen zugleich in eine groß angelegte und geschlossene Konstruktion ein von einer „continuité spéculative“, „une totalité qui ne [. . .] cède en rien, pour la densité, la cohérence et l‘amplitude aux plus solides constructions de la philosophie classique“ (S. 28 ff.). Erlegt, mit einer Nietzsches Sprache überschreitenden, interpretierenden Terminologie gegen alle psychologischen, aporetischen, existenzphilosophischen und marxistischen Auslegungen eine konsequente ontologische Interpretation vor, klärt freilich den Sinn und die Möglichkeit einer Ontologie nach Kant nicht ausdrücklich (vgl. meinen Aufsatz: Phänomenologische und spekulative Ontologie bei Dilthey und Nietzsche, in: Phänomenologische Forschungen 16 (1984), S. 80-120). Ontologie scheint für ihn im Wesentlichen die ursprünglich philosophische Dimension überhaupt zu heißen, „Vérité ontologique“ lässt sich durch „Vérité originaire“ (S. 491) ersetzen. In ihr können nach Nietzsche Denken und Sein nicht mehr transzendentalphilosophisch unterschieden werden, Granier spricht von „ ,affinité originaire’ de la pensée et de l‘Etre“ (S. 312). Mit einer „méthode regressive-structurale“ (S. 28) entfaltet er Nietzsches „spekulative“ und „genealogische“ Kritik der metaphysischen Wahrheit. Zwar bleibt auch sein Begriff von Metaphysik unscharf – im Kern meint er den Dualismus von Ding an sich und Erscheinung, näher ein Denken, „qui identifie l‘Etre et l‘Ideal, la Vérité et le Bien, en rendant l‘ontologie solidaire de la théologie et de la morale“ (S. 626) – und sein Hegel-Bild übermäßig vereinfacht. Dennoch verteidigt er engagiert Nietzsche gegen seine Vereinnahmung in die Metaphysik bei Heidegger (S. 611-628), in dessen „sirocco“ ihm Nietzsche wie „la fraîcheur d‘une source“ erscheint (S. 9). Als zentralen Seinsbegriff setzt er den Begriff des Willens zur Macht an (neben dem der ewigen Wiederkehr), den er wie Kaufmann (Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist [1950]. Aus dem Amerikanischen v. J. Salaquarda, Darmstadt 1982) als Selbstüberwindung, ontologisch aber tiefer als Ursprung von Gestaltung und Überwindung von Gestalten und schließlich als „structure originaire du dévoilement de l‘Etre“ (S. 463) auslegt. Worin Nietzsche die metaphysische Ontologie überschreitet, bestimmt Granier nirgends präzise. Vielmehr rückt er den Willen zur Macht, indem er das Bedingend-Sein gegenüber seinem Bedingt-Sein, das Interpretierend-Sein gegenüber seinem Interpretiert-Sein hervorhebt und entsprechend Nietzsches Begriff des Lebens, der den des Willens zur Macht in sich aufnimmt und eben auf das Ineinandergreifen von Bedingt- und Bedingend-Sein zielt, als Grundbegriff ablehnt (S. 370), wieder in die Nähe des metaphysischen Physis-Begriffs (zu Nietzsches Überwindung des Physis-Begriffs vgl. meinen Aufsatz: Leib und Leben. Zum Hegel-Nietzsche-Problem, in: Hegel-Studien 20 (1985), S. 173-198). Seine glückliche Bestimmung der „Vérité originaire“ – „aptitude à se surmonter à l‘infini en conservant la disponibilité absolue qui permet aux choses de se dévoiler comme telles“ (S. 496) – lässt ihn dennoch treffend und scharf die Wahrheit nach dem Kriterium des Nutzens –„pragmatisme vital“ – und dem der Gerechtigkeit – „probité philologique“ (S. 463 ff.) unterscheiden und sie zugleich in ihrer „réciprocité rigoureuse“ (S. 528) aufweisen. Der Begriff des Spiels, der bei Nietzsche kaum und fast nur in den Frühschriften belegt ist, den Granier von Eugen Fink (Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 31 u. 187-189) übernimmt und der mit seinen Momenten der Unverbindlichkeit, Versöhnlichkeit und des Feierns zur probité philologique nicht recht passen will, das „Jeu de l‘Art et de la Vérité“ (S. 537) scheint mir dagegen als „mésure ontologique suprême“ problematisch, zumal wenn es sich zuletzt im Symbol des Dionysos und der „affirmation absolue“ (S. 557) der ewigen Wiederkehr verklärt. Hier bleibt für eine nüchterne Nietzsche-Interpretation die schwierige Aufgabe, nachvollziehbar zu klären, wie sich die Aufhebung aller Affirmation in der Steigerung zur Wahrheit als Gerechtigkeit vertragen kann mit einer Deutung der ewigen Wiederkehr, die sie nicht nur als „une machine de guerre montée par Nietzsche contre l‘Idéalisme métaphysique“ (S. 580), sondern als „dionysische Bejahung“ verstehen will, zu klären, was es für den Sinn der Wahrheit heißt, die Ewigkeit im Augenblick zu bejahen angesichts des Zurücksinkens in die Ungerechtigkeit festgestellter Perspektiven in jedem Augenblick. Granier folgt hier wie Fink nur Nietzsches vage andeutenden Hinweisen im Nachlass, ohne unsere modernen Erfahrungen mit der Wahrheit aus ihnen oder diese aus jenen verständlich zu machen. Auch ich werde diesen Punkt hier offen lassen und verweise auf Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 15, Berlin/New York 1984), der die Wiederkunftslehre aus dem Interpretationsgedanken ableitet und sie damit von der „absoluten Affirmation“ befreit.
6 Die Herkunft der Wahrhaftigkeit aus der Wahrheit wird ausführlich dargestellt und erörtert von Gerd-Günther Grau, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsche, Frankfurt am Main 1958.
7 Nach Otto Pöggeler, Heideggers Neubestimmung des Phänomenbegriffs (Phänomenologische Forschungen, hg. v. E. W. Orth, Bd. 9), Freiburg/München 1980, S. 125, und: Heidegger und die hermeneutische Theologie, in: E. Jüngel / J. Wallmann / W. Werbeck (Hg.), Verifikationen. Festschrift für Gerhard Ebeling zum 70. Geburtstag, Tübingen 1982, S. 477 f., ist auch Heidegger auf dem Weg zu seiner Hermeneutik des Daseins in einer geplanten „Phänomenologie des Lebens“ zu Anfang der zwanziger Jahre von dem „weiten Begriff der Wahrheit, wie die ,Nikomachische Ethik‘ ihn gibt“ und der neben der Wahrheit der Theorie auch die der Techne und Praxis umfaßt, ausgegangen. – Karl Ulmer, Nietzsches Idee der Wahrheit und die Wahrheit der Philosophie, in: Philosophisches Jahrbuch 70 (1962/63), S. 295-310, orientiert sich bei seiner Interpretation des Abschnitts 534 aus Der Wille zur Macht [nicht in KSA, vgl. Nachbericht zu KGW VII 4/2, S. 72, und Nachlass 1885/86, 1[119], KSA 12.38] „Das Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.“ an Descartes’ Begründungsstruktur seines Kriteriums der Wahrheit („illud omne esse verum quod valde dare et distincte percipio”, III. Med.), die er nach den Momenten (1) des ausgezeichneten Wahren (Selbstbewusstsein – Machtgefühl), (2) der Offenbarung des Wahren (Mathematik – Kunst), (3) des ursprünglichen Vermögens des Menschen zum Wahren (Selbstgesetzgebung der Vernunft – des Willens zur Macht) und (4) der höchsten Wahrheit (Gott – ewige Wiederkehr) auseinanderlegt. Die Möglichkeit der Selbstgesetzgebung der Wahrheit führt ihn dabei auch auf Aristoteles‘ Bestimmung des Wahrheitens in der Nikomachischen Ethik zurück. Er entfaltet sie in: Karl Ulmer, Wahrheit, Kunst und Natur bei Aristoteles. Ein Beitrag zur Aufklärung der metaphysischen Herkunft der modernen Technik, Tübingen 1953, S. 40-46.
8 Aristoteles unterscheidet jedoch die Wahrhaftigkeit, für die ihm kein gebräuchliches Wort zu Gebote steht (NE 1127 a 14) – er behilft sich mit der Neubildung aletheutikós (1127 a30) –, als Tugend des Verhaltens zu andern Menschen vom philosophischen Wahrheitsstreben, der platonischen philalétheia (vgl. Pol. 485 a-d). Wahrhaftig ist der Mann der unbestechlichen Selbsteinschätzung, der sich selbst und andern gegenüber ohne Angeberei und Selbstironie sich gibt, wie er ist, auch dort, wo es noch nicht um Belange von Recht und Gerechtigkeit geht. Das schließt Ausnahmen in besonderen Fällen nicht aus: eine „Pflicht, unbedingt die Wahrheit zu sagen, gleichviel ob die Wahrheit mir oder anderen förderlich ist oder nicht, kennt die Ethik der Griechen nicht” (Paul Wilpert, Die Wahrhaftigkeit in der aristotelischen Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 53 (1940), S. 323-338, wiederabgedruckt in und zitiert nach: Fritz-Peter Hager (Hg.), Ethik und Politik des Aristoteles, Wege der Forschung Bd. 208, Darmstadt 1972, S. 251). Nietzsche, von dem Wilpert unverständlicherweise behauptet, dass er die Wahrhaftigkeit „aus der Reihe der Werte strich” (S. 235), bindet, aus Gründen, die ich im nächsten Abschnitt ausführe, das unbedingte philosophische Wahrheitsstreben in alltägliche Lebensbedingungen ein. Damit verändert sich aber ihr Spielraum (Abschnitt C).
9 Das Problem von Met. Θ 10, wie sich die Wahrheit des Nicht-Zusammengesetzten, des Notwendigen und Unvergänglichen und des Wesens, von der des Zusammengesetzten, das Verbindung und Trennung zulässt, wie also die berührende und schlechthin aussagende von der etwas als etwas aussagenden Wahrheit unterscheidet und wie sie zusammenhängen, kann hier offen bleiben, da es bei beiden um ein Aufweisen der Sache, wie sie selbst ist, geht. Paul Wilpert, Zum aristotelischen Wahrheitsbegriff, in: Philosophisches Jahrbuch 53 (1940), S. 3-16, sieht sie durch „Begriffsübertragung“ und „analogen Sprachgebrauch“ verknüpft (S. 16).
10 Karl Ulmer, der im Anschluß an Nietzsche zum ersten Mal „das Gefüge dieser drei Begriffe: Substanz – Vernunft – Teleologie“ als „das Fundament der ganzen bisherigen abendländischen Philosophie, die man Metaphysik nennt“, freigelegt hat (Philosophie – gegenwärtig oder vergangen?, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 4 (1971), S. 16), stellt auf dem Weg zu einer „Differenzierung des Vernunftbegriffs“ die Hauptstellen zur „metaphysischen Bestimmung der Vernunft“ von den Griechen bis zu Hegel zusammen (Wissenschaft, Vernunft und Humanität. Eine Auseinandersetzung mit der Wissenschaftstheorie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 29 (1975), S. 501, 502, Anm. 17). Den Substanzbegriff in seiner systematischen Entfaltung durch Aristoteles, Descartes und Leibniz habe ich in meinem Buch „Substanz. Grundbegriff der Metaphysik” (Stuttgart-Bad Cannstatt 1977) erörtert.
11 „Man ist unbillig gegen Descartes, wenn man seine Berufung auf Gottes Glaubwürdigkeit leichtfertig nennt. In der That, nur bei der Annahme eines moralisch uns gleichartigen Gottes ist von vornherein die ,Wahrheit‘ und das Suchen der Wahrheit etwas, was Erfolg verspricht und Sinn hat. Diesen Gott beiseite gelassen, ist die Frage erlaubt, ob betrogen zu werden nicht zu den Bedingungen des Lebens gehört.“ (Nachlass 1885, 36[33], KSA 11.563)
12 Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, II 12, 353, I 477-480, II 10, 264, 298-301.
13 Nietzsche darf darum, wie Granier, Le problème de la Vérité, S. 310 f., im Anschluss an Kaufmann ausführlich belegt, kein Irrationalismus unterstellt werden: „On donnerait de la philosophie de Nietzsche une image très inexacte si on la présenterait comme une tentative pour dévaloriser systématiquement la raison et pour lui substituer le culte de la passion sans frein, du désir aveugle. […] L‘Etre n‘est ni raison absolue, ni déraison; l‘Etre n‘autorise qu‘une affirmation, c‘est qu‘il y a de la rationalité dans le monde.“
14 Die Nähe von Nietzsches Perspektivismus zu Leibniz’ Monadologie, die oft bemerkt worden ist (zur Literatur vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Bd. 7, Berlin/New York 1982, S. 87 f., Anm. 32), rührt daher, dass schon Leibniz den aristotelischen Begriff der Substanz oder des notwendig festgestellten Wesens in das Relationsgefüge einer sich aus der Welt feststellenden Einheit aufhebt (vgl. Stegmaier, Substanz, S. 147-214). Sie lässt aber zugleich die unterscheidenden Grundlinien von Nietzsches nachmetaphysischer Ontologie hervortreten. Die Welt der individuellen Monaden ist für Leibniz von der virtuell vollständig erfassbaren Welt im Ganzen her bestimmt und auf ihre Entdeckung hin angelegt, sie schließen eine gemeinsame Welt ein (enfermer) und drücken sie perspektivisch aus (exprimer). Im Vollzug ihrer Welt- qua Selbstfeststellung, mit der sie sich und die Welt zugleich verändern, liegt ihr Wesen, und ihr Werden folgt dem Begriff, wie er von Gott vorgesehen ist, auch wenn ihnen selbst ihre Zukunft unbekannt bleibt: „Substantia est átomon autoplaerûn, Atomon per se completum seu se ipsum complens. Unde sequitur esse Atomon vitale seu Atomum habens entelécheian.“ (G II 224; Randbemerkung zum Brief an de Volder vom 6. Juli 1701) Gott hat sie als individuelle selbständige (per se) Weltfeststellungen nach einem systematischen Plan geschaffen, und aus der Reflexion ihrer Autarkie gegeneinander geht für sie erst ihre Vielheit, d. h. die Welt notwendig hervor, „und die prästabilierte Harmonie ist dann, so gesehen, nichts anderes als die göttliche Einrichtung der Welt, die diese Reflexion der Selbständigkeit ermöglicht“ (Stegmaier, Substanz, S. 214). Auch für Nietzsche gehen Welt- und Selbstfeststellung zusammen, versteht sich der Leib nur aus seiner Verschränkung mit der Welt, wird er in ihrer Interpretation von ihr selbst interpretiert, schafft er sich seine Welt. Freilich immer nur seine, nicht die ganze und keine perspektivisch gemeinsame Welt: Nietzsches Ontologie bleibt eine Monadologie gleichsam ,von innen‘, der Leib und seine große Vernunft erfährt sich in seiner Welt immer neu ausgebreitet und eingeschränkt, ohne sich in metaphysischer Transzendenz als fixen ,metaphysischen Punkt‘ und sich erfüllendes Wissen zu wissen. Er weiß sich als ein im Zusammenspiel anderer und eigener Kräfte unabsehbar sich bewegendes und durchgängig zufälliges, stets offenes Geschehen, eine „Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen“ (GM II 12), die keine an sich vorbestimmte Welt einschließen und ausdrücken, sondern nur die Vielfalt ihrer jeweiligen Bedingungen, keine programmierte Einheit eines vollständigen Relationsgefüges also, sondern unbestimmt fließende Linien in einem verschlungen strömenden Fluss.
15 Josef Simon, Leben, in: Handwörterbuch philosophischer Grundbegriffe, Studienausgabe, Bd. 3, München 1973, S. 844.
16 Zu Nietzsches neuer spekulativer Entscheidung des Lebensbegriffs gegenüber Hegel vgl. Stegmaier, Leib und Leben. Zum Hegel-Nietzsche-Problem.
17 Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60, gekürzt wiederabgedruckt in: Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Wege der Forschung, Bd. 521, Darmstadt 1980, S. 234-287.
18 Nietzsches Interpretation des Verhältnisses von Leben und Vernunft, so wie ich sie verstehe, widerspricht der These Karl-Heinz Volkmann-Schlucks, Leben und Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 3-8, die er im engen Anschluss an Heidegger vorgetragen hat, Nietzsches Begriff des Lebens nehme nur den der metaphysischen Vernunft auf und sei daher selbst metaphysisch: Nietzsches Begriff des Lebens schließt im Unterschied zum aristotelischen bis zum hegelschen sowohl die Selbständigkeit einer unbedingten Vernunft als auch ein Allgemeines als Grenze und Maß seiner Steigerung gerade aus, er ist nicht an Unbedingtem orientiert. Umgekehrt weicht der metaphysische Begriff der Vernunft von dem Nietzsches darin ab, dass die metaphysische Vernunft in ihrer erkennenden Aneignung das Erkannte noch unter den eigenen Kategorien für sich als Notwendiges und Wahres gelten und bestehen lässt. Reflektiert sich bei Descartes die Vernunft als das von sich her Setzende, also Interpretierende, so versichert sie sich doch in ihrem Gottesbeweis ihrer objektiven Wahrheit. Kant, der diese göttliche Garantie aufgibt, grenzt zugleich die Vernunft in den Maßstäben ihres Interpretierens a priori aus. Indem sie aber die Bedingungen ihres Interpretierens a priori kennt, hebt sie seine Bedingtheit auf und macht so notwendige, unbedingte Wahrheit möglich. – Auch Nietzsches Gedanke der ewigen Wiederkehr braucht nicht als „höchste Aufgipfelung (des Lebens) durch Prägung des Werdens zum Sein“ (Volkmann-Schluck, S. 36), also als neues Unbedingtes verstanden zu werden. Der „ewige[] Wille[] zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit“ gehört zum „Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen“ (Nachlass 1888, 14[14], KSA 13.224), aber er gibt darin doch kein unbedingtes Maß weder des kosmischen Werdens noch des ethischen Verhaltens, sondern stellt sich selbst unter immer verschiedenen Bedingungen immer verschieden heraus (vgl. Bernd Magnus, Nietzsche‘s Existential Imperative, Bloomington / London 1981, und Günter Abel, Nietzsche contra ,Selbsterhaltung‘. Steigerung der Macht und ewige Wiederkehr, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 367-384).
19 Hilary Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte (1981), übers. v. J. Schulte, Frankfurt am Main 1982, S. 141.
20 Putnam, Vernunft, Wahrheit und Geschichte, S. 118. – Als a priori lässt Putnam gegen Quine (Zwei Dogmen des Empirismus [1951], in: Von einem logischen Standpunkt. Neun logisch-philosophische Essays, übers. v. P. Bosch, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1979, S. 27-50) dennoch offensichtlich unwiderlegbare Sätze wie „Nicht jede Aussage ist wahr“ gelten, ohne zu beachten, dass auch die „Rationalität“ solcher Widerlegungen und ihre Akzeptanzbedingungen sich wandeln können (S. 115), wie Quine (S. 47-50) und er selbst es in seinem Vorwort (S. 10 f.) vertritt.
21 Johann Figls Untersuchung „Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts. Mit besonderer Berücksichtigung Diltheys, Heideggers und Gadamers“ (in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 408-430) zeigt freilich, „daß die sprachontologisch fundierte Hermeneutik Gadamers nicht jene Radikalität und Weite auszeichnet, die für Nietzsches spates Denken charakteristisch ist“ (S. 429). – Umso mehr verkürzt Konrad Hilpert, Die Überwindung der objektiven Gültigkeit. Ein Versuch zur Rekonstruktion des Denkansatzes Nietzsches, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 91-121, Nietzsches Ansatz, wenn er das Moment der geschichtlichen Bedingtheit des Wahrheitens auf eine „historisch-psychologische Methode“ (S. 107) zuspitzt, wobei er sich vor allem an MA orientiert. Ähnlich sieht Jochen Kirchhoff, Zum Problem der Erkenntnis bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 16-44, die Lösung des „Kernwiderspruchs“ zwischen Objektivität und Bewegtheit der Erkenntnis im methodischen In-sich-Gehen der Welterkenntnis als Selbsterkenntnis und führt dafür auch gewichtige Stellen an (z. B. MA I 292; JGB 20; Nachlass 1885/86, 2 [146], KSA 12.139). Aber wenn Nietzsche dazu auffordert, dem „eigenen Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss“ zu geben (MA I 292), legt er dadurch die Bewegung des Wahrheitens nicht auf eine bestimmte Methode fest, sondern fordert dazu auf, sein Leben aufs Spiel zu setzen und Methoden immer erst in der Erfahrung der Sache, im Versuch auszubilden. Manche Wahrheiten wollen geduldig freigelegt sein, andere „von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit“ muss man „überraschen oder lassen“ (FW 381): „wir sind im Vorstadium. Die Verschärfung der methodischen Ansprüche wird später kommen“ (Nachlass 1885, 35[29], KSA 11.521).
22 Bei aller Bedingtheit und Geschichtlichkeit gesteht Nietzsche der Interpretation keineswegs Beliebigkeit zu, sondern fordert im Gegenteil eine strenge „Philologie“. Vgl. dazu ausführlich Granier, Le problème de la Vérité , S. 321-325.
23 Wenn A. C. Danto, Nietzsche as philosopher, New York 1965, und: Friedrich Nietzsche, in: Norbert Hoerster (Hg.), Klassiker des philosophischen Denkens, Bd. 2, München 1982, S. 230-273, Nietzsche zum Verfechter „einer pragmatistischen Wahrheitstheorie“ (Friedrich N., S. 233) und „konsequenten Konventionalisten“ (S. 234) macht, so trennt er in Nietzsches Argumentation nicht „le niveau du pragmatisme perspectiviste et le radicale“ niveau de la problématique ontologique (Granier, Le problème de la Vérité, S. 325; vgl. S. 487-492; weitere Literatur S. 482-484, Anm. 2). Im Willen zur Macht als Willen zur Wahrheit hat der Konventionalismus erst das Maß seiner Nützlichkeit.
24 Vgl. Willard von Orman Quine, Was es gibt (1948), in: Von einem logischen Standpunkt, S. 25, und Karl Ulmer (Hg.), Die Wissenschaften und die Wahrheit. Ein Rechenschaftsbericht der Forschung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1966, und darin Ulmers Beitrag: Die Vielfalt der Wahrheit in den Wissenschaften und ihre Einheit, S. 7-24. Ulmer schließt mit der Einsicht, dass „die Wahrheit und das Verhältnis des Menschen dazu einen ganz neuen Charakter bekommt. Auf eine Formel gebracht, ist es das ungeheure Maß an Freiheit und Verantwortung, das dem Menschen im Verhältnis zur Wahrheit heute zugefallen ist, wie nie zuvor in seiner Geschichte“ (S. 23).
25 Karl Ulmer hat diese Einsicht zum Angelpunkt seiner „Philosophie der modernen Lebenswelt“ (Tübingen 1972) gemacht und die Vernunft im Blick auf das je ursprüngliche und ganze individuelle, pädagogische, politische und wissenschaftliche Wissen von der Welt hin differenziert. Auf die je verschiedene „Verschränkung der Welt mit dem Menschen“ bezieht er den Begriff „Lebenswelt“ (S. 106) und hebt ihn damit von dem Husserls ab. Husserl hat, wie Werner Marx in zwei luziden Aufsätzen zeigt (Vernunft und Lebenswelt; Lebenswelt und Lebenswelten, beide in: Werner Marx, Vernunft und Welt. Zwischen Tradition und anderem Anfang, Den Haag 1970, S. 45-62 u. S. 63-77), „bis zuletzt für die universale Herrschaft der Vernunft gekämpft“ (S. 45f.); seine Philosophie wird dadurch „zur Vollendungsgestalt des traditionellen Philosophierens aus Vernunft und Geist“ (S. 50). So bleibt für Husserl, anders als für Nietzsche und Ulmer, dem Menschen stets die Möglichkeit, sich aus den interessegebundenen Geltungen der Lebenswelt, die er nicht als individuell verschieden und je eigentümlich strukturiert, sondern als „wesensallgemeinen Bestand“ (Krisis, S. 383) des vorwissenschaftlichen „Bereichs des anschaulichen, alltäglichen, allgemeinen Weltlebens“ (Marx, S. 70 f.) auffasst, durch transzendental-phänomenologische Umstellung herauszunehmen. Zur Literatur zu Husserls Begriff der Lebenswelt vgl. Klaus Düsing, Teleologie und natürlicher Weltbegriff, in: neue hefte für philosophie 20 (1981), S. 39 f., Anm. 16, Elisabeth Ströker (Hg.), Lebenswelt und Wissenschaft in der Philosophie Edmund Husserls, Frankfurt am Main 1979, und Antonio F. Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik, Erträge der Forschung Bd. 175, Darmstadt 1982, S. 86-149.
26 Dass dabei nicht, wie Erika Emmerich, Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Philosophie Nietzsches, Diss. Bonn 1933, behauptet, die verallgemeinerte Wahrheit mit der Wahrheit der Alltäglichkeit in Heideggers Sein und Zeit gleichgesetzt werden darf, zeigt Granier, Le problème de la Vérité, S. 483 f. (Anm.).
27 Josef Simon, Wahrheit als Freiheit. Zur Entwicklung der Wahrheitsfrage in der neueren Philosophie, Berlin/New York 1978, S. 26 u. 24. – „Die Freiheit besteht darin, daß der Einzelne mit der Akzeptation von ,etwas‘ als wahr auf eine selbst nicht mehr allgemein bestimmbare Weise eine Möglichkeit findet, sich in der Wirklichkeit zu orientieren. Sie nimmt für ihn dadurch Gestalt an, und er vermag so erst in ihr zu leben, während sich sonst Haltlosigkeit einstellte. Das Finden bzw. das Sichgesagtseinlassen einer Sprache, in der sich ,etwas‘ sagen und in der man sich damit überhaupt erst auf ,etwas‘ beziehen kann, ist als ursprünglicher erkannt als die Idee einer Methode, über die man eo ipso auf das Wahre ausgerichtet ist“ (Josef Simon, Wahrheit und Freiheit. Zum Begriff der Philosophie, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5./6. Feb. 1983, S. 70).
28 Wieweit Nietzsches Denken dialektisch ist – im Sinne Platons oder im Sinne Hegels – müsste erst eingehend untersucht werden. R. F. Beerling, Hegel und Nietzsche, in: Hegel-Studien 1 (1961), S. 231-233, spricht von „dialektischer Verwandtschaft“: Nietzsche denke häufig dialektisch im Sinne Hegels, lasse sich aber nicht auf eine „dialektische Methode“ festlegen. Ähnlich äußern sich Alfred Schmidt, Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie (1963), in: Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, S. 124-140, Granier, Le problème de la Vérité, S. 41-53, und Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, S. 187, während Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Frz. v. B. Schwibs, München 1976, passim, Nietzsche zum Antidialektiker, Kaufmann, Nietzsche, S. 98, 195, ihn in Platons Sinn zum „konsequenteren ,Dialektiker“ als Hegel macht. Heinz Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 2), Berlin/New York 1972, und Fritz Wandel, Bewußtsein und Wille. Dialektik als Movens für Nietzsche, Bonn 1972, versuchen Nietzsches Denken unabhängig von Hegel, wenn auch mit Hilfe von hegelschen Begriffen dialektisch zu rekonstruieren.
29 Ruediger Hermann Grimms These in: Nietzsche’s Theory of Knowledge (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 4), Berlin/New York 1977, scheint mir darum zu weit zugehen: „Nietzsche‘s criterion for truth is not concerned at all with the logical content of the proposition. The content, in fact, is largely irrelevant“ (S. 19). Sicherlich, „there exists no ultimate, immutable, eternal standard for truth“, Wahrheit ist für Nietzsche „self-referentially consistent“, wahr für die, die in ihrer Bewegung zu ihr fähig sind (S. 27), die Erfahrung der Sache und ihre Mitteilbarkeit – im Versuch des Dialogs oder der machtvollen Durchsetzung – gehen als ihre Bedingugen aber ebenso in sie ein.
30 Vgl. Graniers oben (Anm. 5) zitierte Bestimmung der „Vérité originaire“. – Auf die Grenzen von Heideggers Auslegung der Gerechtigkeit bei Nietzsche weist Jeffrey Stevens, Nietzsche and Heidegger on Justice and Truth, in: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 224-238, hin. – Friedrich Kaulbachs, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Deutung von Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit aus der – auf weite Strecken aufschlussreichen – Analogie zu Kants Richter-Modell der Vernunft (S. 186-228) unterstellt zuletzt den unangetastet und souverän über die Berechtigung von Perspektiven entscheidenden Richter: der Wahrheitende aber steht für Nietzsche selbst zur Disposition, wird in seinem Wahrheiten ebensosehr von seinen Lebensbedingungen und denen der Sache entschieden, wie er selbst über sie entscheidet, wird, indem er urteilt, selbst verurteilt.
31 Hilary Putnam, der in seinem oben zitierten Werk den jüngsten umfassenden Versuch zu „Vernunft, Wahrheit und Geschichte“ vorgelegt hat, zieht aus, mit den Methoden der Analytischen Philosophie alle Theorien, die eine eindeutige Bezugnahme auf Tatsachen oder eine eindeutige Verifizierbarkeit (bzw. Falsifizierbarkeit) von Theorien an Tatsachen behaupten, als falsch oder mangelhaft zu erweisen, also den Mythos wissenschaftlicher Wahrheit in der Analytischen Philosophie selbst zu zerstören, und deckt auf, wie über das Begriffsreservoir und die Relevanzkriterien Tatsachen ursprünglich und unauflöslich mit Werten verschränkt sind. Er sucht jedoch Vernunft und Wahrheit, die er jetzt Rationalität und rationale Akzeptierbarkeit nennt, vor einem schrankenlosen „Relativismus“ zu retten, indem er den Sinn und die Festigkeit ihrer Maßstäbe im „Innern unserer Tradition“ (S. 284) verankert, die in der wissenschaftlichen Erkenntnis je neu interpretiert, d. h. kritisiert und erweitert werden müsse (S. 268). Man könne sich, um wissenschaftliche Wahrheit zu erwerben, auf das Methodenideal der frühen Neuzeit stützen, das voraussetze, „daß man schon vorher einen Begriff von Rationalität hat“ (S. 258). Nietzsche dagegen schreibt er nur den „Irrtum“ zu, er habe „eine ,bessere‘ Moral als die gesamte Tradition“ gehabt (S. 284). Putnams eigenes Ziel, „eine rationalere Auffassung der Rationalität bzw. eine bessere Auffassung der Moral auszubilden“ (S. 284), bleibt Programm.