12. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Kontextuelle Interpretation des Mitternachts-Lieds aus Also sprach Zarathustra
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.12
12.1. Vorfrage: Nietzsches schriftstellerische
Form des Liedes1
Das mit dem Vers „Oh Mensch! Gieb Acht!“ einsetzende Gedicht im Kapitel Das andere Tanzlied im III. Teil von Also sprach Zarathustra gehört zu Nietzsches berühmtesten Texten überhaupt. Es ist in Also sprach Zarathustra das einzige Lied im gewohnten Sinn: in Verse umbrochen, metrisch fest gebunden, gereimt und zum Vertonen und Singen einladend. Die episch-dramatische Lehrdichtung führt mit ihren zunächst allein veröffentlichten drei Teilen auf es hin, und am Ende des IV. Teils, den Nietzsche auf eigene Kosten und für nur wenige Freunde drucken ließ, wird es wiederholt, nachdem Zarathustra es eigens für die „höheren Menschen“ ausgelegt hat. Nach Nietzsches Tod wurde es in eine Steinplatte gemeißelt, die auf der Halbinsel Chastè im Silser See, einem seiner bevorzugten Orte, in einen mächtig überragenden Fels eingelassen wurde, vielleicht das schönste Denkmal, das man Nietzsche gesetzt hat.2 Das Gedicht wurde schon zuvor vertont, von Gustav Mahler im 4. Satz seiner 3. Sinfonie, die zwischen 1893 und 1896 entstand, für Solo-Alt und 1896 ohne Worte von Richard Strauss als Abschluss seiner „sinfonischen Dichtung“ Also sprach Zarathustra. Viele weitere Vertonungen folgten.3
„Lied“ ist bei Nietzsche keine einfach zu fassende schriftstellerische Form. „Lieder“ nennt er wohl Gedichte im klassischen Sinn wie Die Lieder des Prinzen Vogelfrei, die er dem V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft anhängt; die Gedichtsammlung Scherz, List und Rache, die er dem I. Buch der Fröhlichen Wissenschaft vorausschickt, bezeichnet er dagegen als „Vorspiel in deutschen Reimen“. „Lieder“ heißen aber auch Prosatexte in Also sprach Zarathustra, die sich Liedern im engeren Sinn höchstens nähern, wie Das Nachtlied, Das Tanzlied und Das Grablied (Za II), und Nietzsche schließt gerade sie betont (Das Tanzlied freilich nur vorläufig) mit der Formel „Also sang Zarathustra“. Das andere Tanzlied in Za III beginnt in Abschnitt 1, der sich hastig steigernden Werbung Zarathustras um das Leben, in zunehmend stärker rhythmisierter, dann auch immer auffälliger gereimter Prosa („verstehen“ / „Zehen“, „Sprunge“ / „Zunge“, „Schlangen“ / „Verlangen“ usw.), einer Prosa, die sich betont holprig („Zähnlein“ / „Mähnlein“, „du boshafte Springerin“ / „fiel ich selber im Springen hin“, „Abendröthen“ / „Schäfer flöten“, „Hexe“ / „Klexe“) zum Lied vortastet, kehrt dann in Abschnitt 2, der Einrede des Lebens und Zarathustras Antwort auf sie, zur Prosa zurück, endet dann wieder mit „Also sprach Zarathustra“, bevor es mit dem vollendet sanglichen Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“ ausklingt. Das folgende Ja- und Amen-Lied (Za III, Die sieben Siegel), das in seinen sieben Abschnitten jeweils mit einem oder mehreren „Wenn“ einsetzt und stets mit derselben mehrzeiligen Coda schließt, also strophenartig gestaltet ist, ein weiteres gängiges Charakteristikum des Liedes, bleibt ganz ohne Schlussformel. Die Formel „Also sang Zarathustra“ erscheint dagegen auch, dort aber wohl ironisch, im Kapitel „Auf dem Oelberge“ in Za III, der nicht an ein Lied erinnert: „Inzwischen laufe ich mit warmen Füssen kreuz und quer auf meinem Oelberge: im Sonnen-Winkel meines Oelberges singe und spotte ich alles Mitleids. – / Also sang Zarathustra.“ (KSA 4.221) Die Sanglichkeit ist bei Nietzsche also ähnlich schwer zu fassen wie das Lied, und beide müssen nicht miteinander verknüpft sein. Die Kapitel des IV. Teils, die wohl in Verse umbrochene, aber nicht metrisch fest gebundene und gereimte Dichtungen enthalten, die dann zusammen mit anderen in bearbeiteter Form in Nietzsches letztes Werk, die Dionysos-Dithyramben, eingingen und zum Teil ebenfalls vertont wurden, überschreibt Nietzsche nicht mit „Lied“ – jedoch wieder mit einer Ausnahme, dem Lied der Schwermut. „Lied“ scheint danach für Nietzsche nicht oder nicht in erster Linie eine literarische und/oder musikalische Gattung zu sein.4 Im Nachlass von 1882, im Zug der ersten Veröffentlichung der Fröhlichen Wissenschaft, hat er sich über die Gattung mit einem exemplarisch schlechten Lied lustig gemacht – in einem Sinn, den er dennoch sehr ernst nehmen wird:
Takt als Anfang, Reim als Endung,
Und als Seele stets Musik:
Solch ein göttliches Gequiek
Nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung,
Lied heißt: „Worte als Musik“.
(Nachlass 1882, 19[13], KSA 9.679)
„,Worte als Musik‘“ – das war es immerhin, was Nietzsche in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik im Geist Wagners heraufbeschwor, und es war auch, wie er im Rückblick feststellte, das Programm seiner Zarathustra-Dichtung im Ganzen: „Man darf vielleicht den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen“ (EH, Za 1). „Lied“ scheint danach für Nietzsche eher eine besondere Form der philosophischen Mitteilung zu sein, zu der er seinen Zarathustra erst allmählich finden lässt. Nietzsches Zarathustra löst sich, so unsere These, im Lied von der Lehre und im Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“ von der Lehrbarkeit des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Es ist eine Form der Anti-Lehre.5
12.2. Vorhaben: Kontextuelle Interpretation des Mitternachts-Lieds
Das mit dem Vers „Oh Mensch! Gieb Acht!“ einsetzende Gedicht hat in Also sprach Zarathustra lange weder einen Gattungs- noch einen Eigennamen.6 Erst gegen Ende von Za IV, als Nietzsche Zarathustra die „höheren Menschen“ auffordern lässt, gemeinsam seinen „Rundgesang“, eben „Oh Mensch! Gieb Acht“, zu singen, lässt er ihn es „Lied“ nennen und ihm einen Namen geben, der jedoch nie gebräuchlich wurde, nämlich „,Noch ein Mal‘“, und gleich auch seinen „Sinn“ mitteilen: „,in alle Ewigkeit‘“ (Za IV, Das Nachtwandler-Lied 12). Die „Frage bei Allem und Jedem ,willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?‘“, mit der Nietzsche am Ende des IV. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft „das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln“ ankündigte (FW 341), scheint damit, jedenfalls für die „höheren Menschen“, beantwortet, der „Grundgedanke[] des Zarathustra“ (EH, Za 1) ausgesprochen.7 Ob die „höheren Menschen“ den „Rundgesang“ dann auch singen und noch mehr ob sie seinen „Sinn“ verstehen, bleibt in der Dichtung offen. Jedenfalls bricht dort Zarathustra am nächsten Morgen alleine auf, während „diese höheren Menschen“ noch schlafen wie einst die Jünger Jesu im Garten Gethsemane, so dass er zu sich sagt: „,[…] das sind nicht meine rechten Gefährten! […] / […] sie verstehen nicht, was die Zeichen meines Morgens sind, mein Schritt – ist für sie kein Weckruf. / […] ihr Traum käut noch an meinen Mitternächten. Das Ohr, das nach mir horcht, – das gehorchende Ohr fehlt in ihren Gliedern.‘“ (Za IV, Das Zeichen, KSA 4.405) Er sieht sich noch einmal gescheitert, anderen seinen „Grundgedanken“ mitzuteilen, ihn zu lehren: Hatte das Volk auf dem Markt über seine Lehre vom Übermenschen nur gelacht und hatten seine Tiere nach seiner „Genesung“ vom Gedanken der ewigen Wiederkunft „schon ein Leier-Lied daraus“ gemacht und ihm das „Schicksal“ diktiert, nun „der Lehrer der ewigen Wiederkunft“ zu sein (Za III, Der Genesende 2, KSA 4.273, 275),8 so zerkaut und verdaut nun der eigene „Traum“ der „höheren Menschen“ seine „Mitternächte[]“ derart – für Zarathustra ist es (mindestens) die zweite, in der das Lied erklingt –, dass sie auf ihre Weise gut und tief dabei schlafen und der neuen Zeichen nicht gewahr werden.
Als Nietzsche noch am IV. Teil von Za arbeitete, schrieb er an Franz Overbeck über Heinrich von Stein, in dem er einen wahrhaft höheren Menschen gefunden zu haben glaubte („Endlich, endlich ein neuer Mensch, der zu mir gehört und instinktiv vor mir Ehrfurcht hat!“):
Vom Zarathustra sagte Stein ganz aufrichtig, er habe „zwölf Sätze und nicht mehr“ davon verstanden: was mich sehr stolz gemacht hat, denn es charakterisirt die unsägliche Fremdheit aller meiner Probleme und Lichter […].
Dagegen ist Stein Dichter genug, um z.B. von dem „anderen Tanzlied“ (dritter Theil) aufs Tiefste ergriffen zu sein (er hatte es auswendig gelernt) Wer nämlich gerade bei den Heiterkeiten Zarathustra’s nicht Thränen vergießen muß, der gilt mir als noch ganz fern von meiner Welt, von mir.“ (Brief an Franz Overbeck, 14. Sept. 1884, Nr. 533, KSB 6.531)
Wenn das Höchste, was Nietzsche beim „anderen Tanzlied“ (ob dem ganzen Kapitel oder nur dem abschließenden Gedicht – die 12 Sätze könnten dessen 12 Verse sein) selbst von einem wirklich höheren Menschen erwarten konnte und wollte, Auswendig-Lernen war (was mehr oder weniger jeder kann, ohne dass man daraus entnehmen könnte, ob er irgend etwas verstanden hat), und wenn er „stolz“ darauf war, sich darin also verstanden und anerkannt fühlte, dass eben dadurch „die unsägliche Fremdheit aller [s]einer Probleme und Lichter“ hervortritt, muss Das andere Tanzlied vielleicht genau so verstanden werden, als Lied von der „unsägliche[n] Fremdheit“, die über „Heiterkeiten“ „Thränen“ hervorruft.
Das Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“ ist jedoch überraschenderweise noch kaum philosophisch interpretiert worden. Nach Heidegger, der seine Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit vom Wintersemester 1929/30 mit ihm schloss, ohne es auszulegen, „erfahren“ wir darin, „was die Welt sei“.9 Der belgische Nietzsche-Forscher Sylvain de Bleeckere hat zwar 1977 in flämischer Sprache einen eindringlichen „Commentaar“ zu ihm verfasst, suchte in ihm jedoch vor allem die Lehren vom Übermenschen, vom Willen zur Macht, vom Tod Gottes, vom Nihilismus und von der Dekadenz wiederzufinden und sie in einer Lehre vom Sinn des Lebens zusammenzuführen, der im Gedanken der ewigen Wiederkunft liege.10 Für all das geben freilich das Lied und seine spätere Kommentierung durch Nietzsches Zarathustra selbst kaum Anhaltspunkte; die Rede ist stets nur von „Ewigkeit“, nicht von ewiger Wiederkunft.11 Die dichterische Gestalt des Liedes übergeht de Bleeckere, ebenso die Hinführung im Kapitel Das andere Tanzlied in Za III und die Kommentierung durch Das Nachtwandler-Lied in Za IV.12 Wir versuchen das Gedicht in eben diesen Kontexten zu interpretieren. Im engen Rahmen dieses Beitrags ist freilich nur eine eingeschränkte und darum unvermeidlich grobe kontextuelle Interpretation möglich.13
12.3. Episch-dramatische Situation: Wilde Jagd und seliges Glück mit dem Leben (Das andere Tanzlied 1-2)
Bevor das Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“ am Ende des Kapitels Das andere Tanzlied erklingt, hält Zarathustra wie in Das Tanzlied aus Za II noch einmal ein Zwiegespräch mit dem Leben. Nun erscheint ihm das Leben als schaukelnder Kahn, der „Tanz-Wuth“ in ihm erregt. Er hatte es mit Hass und Liebe einzuholen versucht auf seinen „krummen Bahnen“ und wurde von ihm geäfft, er wird vom Sänger zum Jäger des Lebens, will es liebend in „stille bunte Büsche“ tragen, doch „diese verfluchte flinke gelenke Schlange und Schlupf-Hexe“ entzieht sich ihm, so dass er sich an die Peitsche erinnert.14 Da lenkt das Leben ein, plädiert dafür, „einander gut [zu] sein“, sie hätten sich, und nur sie „Zwei allein“, „Jenseits von Gut und Böse“ gefunden. Nietzsche führt vor, wie Zarathustra sich von der Lust leiten lässt, sich sozial verbindlichen moralischen Unterscheidungen zu entziehen, dem „Geist der Schwere“, der sich auf das Leben legt und gegen den er kurz zuvor noch angeredet hat, um seinen eigenen „Weg“ zu finden (Za III, Vom Geist der Schwere 2, KSA 4.245). Nun befreien ihn Übermut, Glück, Seligkeit. Zudem hat Zarathustra, so das Leben, seine Weisheit, auf die es „eifersüchtig“ sei. Aber sie gefährde Zarathustra auch, denn, wenn er die „alte schwere schwere Brumm-Glocke“ „Mitternachts die Stunde schlagen“ höre, denke er daran, das Leben „bald [zu] verlassen“. Zarathustra bestätigt das und flüstert dem Leben etwas ins Ohr, wovon der Leser, die Leserin nichts erfährt.15 Die Leserin, der Leser bleibt vom seligen Glück eines Zarathustra mit dem Leben ausgeschlossen, kann nicht ohne weiteres daran teilnehmen; ihr, ihm wird bedeutet, wie ‚unsäglich fremd‘ ein solches Glück für das Publikum und wie wenig es in einer allgemein verständlichen Sprache mitteilbar ist. Dann weint Zarathustra mit dem Leben – vergießt Tränen über seine Heiterkeit – und liebt, wie er sich erinnert, das Leben mehr als seine Weisheit. Die Weisheit und ihre mögliche Mitteilung, das belehrende Sprechen endet hier: Schlussformel „Also sprach Zarathustra“. Dann, in diesem Lebens- und Sterbensglück, ertönen die zwölf Schläge der Glocke, von der das Leben eben noch gesprochen hat, und dazu das Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“.16
12.4. Wer spricht? Das Verschwinden der Subjekte in der Mitternacht (Das andere Tanzlied 3)
Nietzsche hat von Anfang an kunstvoll im Dunkel gelassen, wer der Erzähler von Also sprach Zarathustra ist, und er hält ebenso offen, aus welchem Mund dieses Lied kommt, wer es spricht oder singt.17 Es könnte die Mitternacht selbst sein, die zunächst auch in der 3. Person von sich sprechen kann. Die Anführungszeichen ab dem 3. Vers „,Ich schlief, ich schlief —, […]‘“, die, wie damals üblich, zu Beginn jedes folgenden Verses wiederholt, in Za III jedoch nicht und erst in Za IV geschlossen werden,18 lassen aber auch fragen, ob in den ersten beiden Versen („Oh Mensch! Gieb Acht! / Was spricht die tiefe Mitternacht?“) nicht jemand anderer oder etwas anderes als die Mitternacht spricht. Das könnte Zarathustra sein, aber auch das Leben, mit dem sich Zarathustra glücklich zusammengefunden hat.19 Sicher ist nur, dass nach den Anführungszeichen die Mitternacht spricht und von sich sagt, sie habe geschlafen und sei aus einem Traum erwacht – wie ein Mensch, der zu Bewusstsein kommt. Aber es ist die Mitternacht. Da tut etwas etwas, von dem man sich bisher nicht vorstellen konnte, dass es etwas tut, geschweige denn spricht: Nietzsche führt ein Subjekt ein, das wir uns kaum vorstellen können und erst recht nicht als sprechendes. Aber Subjekte überhaupt sind etwas, wie er dann in JGB 16 - 20 erläutert, das wir uns ohnehin nur vorstellen oder genauer: das unsere Sprache mit ihrer Subjekt-Prädikat-Struktur uns vorzustellen zwingt. Wenn bei Nietzsche die Mitternacht „ich“ sagt und doch nicht als „ich“ zu fassen ist, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass auch sonst kein „ich“ jenseits der Sprache zu fassen ist. Indem er die Mitternacht sprechen lässt, geht Nietzsche dichterisch hinter unsere gewohnte, Subjekte suggerierende Sprache zurück. Das gälte auch, wenn Zarathustra aus dem Mund der Mitternacht spräche (soweit man sich das vorstellen kann): er hat den Subjekt-Glauben im Ich-Sagen mit seinem „,Ich‘ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich“ schon lange zurückgewiesen (Za I, Von den Verächtern des Leibes). Indem das Lied, ob es nun von der Mitternacht oder auch nur in der Mitternacht gesprochen oder gesungen wird, deutliches Dunkel über die Frage legt, wer da spricht oder singt und die Mitternacht sprechen oder singen lässt, entzieht es sich dem „Bann“ der indoeuropäischen Grammatik (JGB 20), in dem wir am Tag die Welt sehen. Davon muss die Interpretation ausgehen. Um keine (Vor-)Entscheidung darüber zu treffen, ob das Lied von der Mitternacht oder nur in der Mitternacht gesprochen oder gesungen wird, nennen wir es von nun an „Mitternachts-Lied“: der Name hält die Alternative offen.
Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass mit dem einleitenden „Oh Mensch!“ ,der Mensch‘ generell angesprochen wird. Das Lied wendet sich an jede Einzelne, jeden Einzelnen, die oder der das Lied hört. Es setzt nicht schon etwas Allgemeines und allgemein Gültiges voraus, jeder einzelne Mensch soll für sich allein aufhorchen, achtgeben, mit Überraschendem rechnen, sich aus dem Vertrauten lösen, auch und gerade von der Vorstellung einer für alle gleich verständlichen und gültigen Sprache. In der Mitternacht verschwinden die Klarheiten des Tages, Menschen können nichts mehr sehen, nur noch hören. So unterläuft Nietzsche mit der Mitternachts-Metaphorik auch die Sicht- und Licht-Metaphorik der europäischen Philosophie: im Licht scheint alles unzweifelhaft bestimmt zu sein, im Dunkel machen Geräusche und Stimmen Menschen Angst. Nietzsche jedoch lässt das taghell Bestimmte in eine Mitternacht versinken, die nicht mehr Angst macht.20 Dazu tragen zwölf Glockenschläge mit ihrer erwartbaren Regelmäßigkeit bei: sie wirken beruhigend, gerade in der Nacht. In ihnen bleibt auch in der beängstenden Nacht die zivilisatorische Ordnung mit ihrer durchorganisierten Zeit noch gegenwärtig, hier freilich nur noch in fernen Klängen.21
12.5. Die Metapher der Tiefe der Welt:
Die Oberflächen- und Zeichenwelt
und die Tiefen der Traumwelt
Die Mitternacht „erwacht“ aus einem „tiefen Traum“ und „spricht“ nun. Ob sie nicht mehr im Traum oder noch im Traum (einem weniger tiefen) oder in einem halbtraumartigen Zustand spricht, lässt sich wiederum nicht entscheiden. Das „Ich schlief“ im V. 3 wird wie schlaftrunken gedoppelt; die Doppelung deutet nicht nur an, dass der Schlaf lang und tief, sondern auch, dass die Mitternacht in ihn, wie man sagt, ‚versunken‘ war. In einen tiefen Schlaf ‚versinkt‘ man, wie die moderne Schlafforschung gezeigt hat, schrittweise Stufe um Stufe, und auch im Tiefschlaf wird noch geträumt, werden auch wieder Sprechen, das dem Sprechenden selbst unbewusste Sprechen im Schlaf, und, wovon Nietzsche dann in Das Nachtwandler-Lied Gebrauch macht, Schlafwandeln möglich.22 Aus dem Tiefschlaf wird man schwerer geweckt; man ist gleichsam tief unter die Welt des Tages gesunken, und hier, so dichtet Nietzsche die Metapher des tiefen Schlafes weiter, werden auch die Träume tief. Aber alles bleibt im Komparativ: „tief“, „tiefer“ erscheint im Gedicht acht Mal im Positiv und im Komparativ, nie jedoch im Superlativ. Die Stufung, die Graduierung ist, wie sich zeigen wird, von ausschlaggebender Bedeutung.
Die Mitternacht spricht nicht von Zarathustras berühmten Lehren: vom Übermenschen, vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Sie spricht nur von der Tiefe der „Welt“, all dem, was ist und so ist, wie es ist oder dem, der darüber spricht, so erscheint, je nachdem, in welchen Perspektiven er darin welchen Unterscheidungen folgt – ‚Wille zur Macht‘ ist nur eine unter ihnen, neben der nach JGB 36 („wäre eben „Wille zur Macht““, Kursivierung W.S.) immer auch andere möglich sind. Im Traum erlebt man andere Welten als die taghelle und im tiefen Traum vielleicht noch einmal andere. Sie können ebenso beruhigen wie beunruhigen, beglücken wie bestürzen. Werden sie ausgesprochen, nachdem man erwacht ist, zerfallen sie jedoch leicht, erlöschen im Licht des Tages und werden meist rasch vergessen. Sie werden darum aber nicht schon unwirksam, können die Seele, ohne dass sie davon weiß, weiter beschäftigen und in untergründiger Unruhe halten. Eben so hat Nietzsche bald darauf, in den Aphorismen JGB 268 und FW 354, die zu seinen philosophisch tiefgründigsten gehören, das Verhältnis von allgemein verständlicher Sprache und individuellem Erleben erklärt.23 Um es für die anstehende Interpretation nochmals zu akzentuieren: Die allgemein verständliche Sprache schafft danach als allgemein verständliche eine „Oberflächen- und Zeichenwelt“ (FW 354), die uns nicht nur die Subjekt-Prädikat-Logik und die von ihr suggerierte metaphysische Ontologie vorgibt. Weil unser Bewusstsein überhaupt erst für ihr Verständnis und ihre Mitteilung entstanden ist, so Nietzsches Vermutung, nimmt sie vielmehr unser Bewusstsein völlig ein, so dass es nie ein individuelles, sondern immer schon ein soziales Bewusstsein ist. In ihm werde alles „in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s Gemeine! —“ transponiert (JGB 268). Die „Musik des Lebens“ (FW 372), die Lebendigkeit der Stimme, der Mimik, der Gestik, der Körperhaltung, der Leiblichkeit überhaupt, die eine Mitteilung als individuelle und so erst in ihrem situativen Sinn verstehen lassen, werde, zumal in der Schriftform, durch dieses immer schon soziale Bewusstsein weitgehend abgedämpft und sei in ihm kaum mehr hörbar. Gerade europäische Philosophen hätten Jahrtausende daran gearbeitet, sie durch möglichst lehrbare Metaphysiken und Moralen vollends unhörbar zu machen. In einer derartigen „Welt-Interpreta-tion“ bleibe nur mechanische Berechenbarkeit zurück, und schätze man „den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne“ (FW 373). Sprachen mit allgemein gebräuchlichen und verständlichen Zeichen reduzieren „die Welt“ unvermeidlich auf eine Oberflächen- und Zeichenwelt.
Zwar „spricht“ auch die Mitternacht, und auch sie spricht in einer – zumindest bis zu einem gewissen Grad – allgemein verständlichen Sprache. Doch sie spricht anders, nicht mehr in taghellen Begriffen. Es wird dann zur Kunst eines philosophischen Schriftstellers, wie Nietzsche einer war, mit den Mitteln der Sprache selbst die in ihr zum Verstummen gebrachte Musik des Lebens wieder aufleben und sie über ihre Mechanisierung triumphieren zu lassen. Auch dann wird das zur Sprache Gebrachte zu einer Oberflächen- und Zeichenwelt, nun aber zu einer neu erfahrbaren Welt: die mitternächtlichen Töne lassen die gewohnte Welt um so mehr als Oberflächen- und Zeichenwelt bewusst werden. Nietzsche versucht, in einer neuen Sprache des Tages den mitternächtlichen Traum hören zu lassen, und diese Sprache muss eine poetische, im Wortsinn eine ‚schaffende‘ sein.
12.6. Der philosophische Sinn der Tiefe
„Tief“, in seinen Positiven und Komparativen, ist das Grundwort des Mitternachts-Lieds. Nietzsche vertieft die Tiefe Stufe um Stufe; nachdem er die Mitternacht als „tiefe“ eingeführt hat und sie von ihrem „tiefen Traum“ sprechen ließ und davon, dass die Welt „tief“ sei, geht es immer tiefer hinab: die Welt ist „tiefer als der Tag gedacht“, mit ihrem „tiefen“ Weh und der noch „tieferen“ Lust, die „tiefe, tiefe Ewigkeit“ will. ‚Tief‘ ist eine der leitenden Metaphern in Nietzsches Philosophieren.24 Tief und tiefer im philosophischen Sinn ist, was scheinbar Selbstverständliches nicht mehr als solches erscheinen, sondern kritisch die Bedingungen seiner Möglichkeit unterscheiden lässt, so dass Alternativen zu ihm sichtbar werden. Philosophisch jeweils am tiefsten ist dann das, was auch noch die Bedingungen dieser kritischen Kraft aufdeckt. Nietzsche wollte in diesem Sinn vertiefenden Philosophierens Ursprünge unserer scheinbar selbstverständlichen Oberflächenwelt und Ursprünge wieder dieser Ursprünge aufdecken, so weit, bis sie sich im Unfassbaren und Ungewissen verlieren. Das ist der Sinn auch seiner Genealogie der Moral: die „Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit“ (GM II 24), wie es dort heißt, bis hin zur „unsäglich anders complicirt[en]“ Wirklichkeit, wie Nietzsche für sich notierte, die wir mit unseren Sprachen niemals erreichen, sondern über die wir nur unsere „Fiction[en]“ legen können, darunter die „Logik“, die aus dieser Sicht das „Muster einer vollständigen Fiction ist“ (Nachlass 1885, 34[249], KSA 11.505). Nicht nur der Andere in der Kommunikation, die Welt im Ganzen ist, „tiefer“ betrachtet und so, wie sie an sich sein mag, „unsäglich“ fremd, so fremd, dass man auch und gerade nach der Logik der Oberflächen- und Zeichenwelt über ihre Fremdheit nichts mehr sagen kann. Das galt im Kern auch schon für Kant.
12.7. Die Welt von Weh und Lust
Die weiteren Hauptworte des Gedichts nach „tief“ und „Welt“ sind, zunächst betont einsilbig und schlagkräftig, „Tag“, „Weh“, „Lust“, dann, dreisilbig, sanft rhythmisch und miteinander reimend, „Herzeleid“ und „Ewigkeit“; in „Herzeleid“ wird „Weh“ variierend, „Ewigkeit“ wird identisch wiederholt.25 Die Hauptworte verdeutlichen zusammen mit den Verben „ist“, „gedacht“, „spricht“, „Vergeh“ und, wiederum wiederholt, „will“, worum es geht: um die alten philosophischen Grundfragen des Seins, des Denkens und Sprechens, des Vergehens, also der Zeit, und des Wollens. Sie werden nun neu verstanden und gewertet von den Unterscheidungen Tag / Nacht, Oberfläche / Tiefe und Weh / Lust aus. Nietzsche setzt Weh und Lust als die tiefen nächtlichen Ursprünge der taghellen Oberflächenwelt an, als Ursprünge, die durch das Bewusstsein und seine Sprache verborgen und damit aus dem sozialen Verkehr gedrängt werden, die aber gleichwohl in allem, was geschieht, mehr oder weniger spürbar miterlebt werden und den sozialen Verkehr untergründig bestimmen, als Motive zu Abwehr und Anschluss, zu Ausschluss und Einschluss, zu Abwertung und Aufwertung und schließlich zu Urteilen nach Gut und Böse. In der metaphysisch-moralischen Oberflächenwelt wird das Leidvolle zum moralisch Bösen, das Lustvolle zum moralisch Guten. Den Stiftern der europäischen Moral aber ist es, wie Nietzsche dann in Zur Genealogie der Moral ausführen wird, gelungen, das umzukehren zum Wollen des Leidvollen und Nichtwollen des Lustvollen.
Die moralische Verurteilung des lustvollen Lebens war der Kern von Schopenhauers das Leben im Ganzen verurteilenden Pessimismus. Sie spricht auch noch aus der Mitternacht, wenn gesagt wird, die Welt, die „tiefer“ sei „als der Tag gedacht“, leide in dieser Tiefe – das darf man wohl übersetzen in Schopenhauers Formel, die Welt als Wille sei der Grund der Welt als Vorstellung und bringe nichts als Leiden in sie.26 Die Welt der Vernunft, der klaren Einsicht und rationalen Berechnung, auf die die europäische Philosophie so stark gesetzt hat, ist nur eine Welt der Vorstellung und damit eine nur scheinbare Welt, wie Kant für Schopenhauer gezeigt hat, ohne dass Kant schon wie er die Konsequenz gezogen hätte: den optimistischen Glauben an jene Vernunft aufzukündigen. Doch nach Nietzsche ist auch die Welt als Wille nicht, wie Schopenhauer seinerseits noch glauben wollte, sie ist nichts Metaphysisches, worauf er sich in seiner Enttäuschung über die Vernunft noch versteifte. Das Leiden darf das Denken nicht länger hindern, noch Tieferes zu denken und dann auch zu wollen. Versucht man es, stößt man unter dem „Herzeleid“ auf die „Lust“, die es in einem metaphysischen Sinn natürlich ebensowenig gibt: Nietzsche setzt sie gegen Schopenhauers Weh, stellt das Konzept eines bejahenden, beglückenden Willens zur Macht gegen das Konzept eines verneinenden, unseligen Willens zum Dasein; „Herzeleid“, ein sentimentaler Ausdruck für Märchen und romantische Dichtungen, wirkt dann beißend ironisch.27 In FW 370 bringt Nietzsche den Gegensatz auf die Begriffe eines „romantische[n]“ und eines „dionysischen Pessimismus“.28 Die dionysische Lust, die Lust zu leben und zu sterben und neu zu leben, die Lust, das Leben in all seinen Tiefen zu erleben, diese Lust will, so der tiefere Traum der Mitternacht, nur „Ewigkeit“, „tiefe, tiefe Ewigkeit“. Das heißt nicht bloße Fortdauer eines glücklichen Augenblicks im Sinn des alt gewordenen Faust, dem „Verweile doch! Du bist so schön!“, mit dem ihn Goethe in den Tod sinken lässt.29 Es heißt auch nicht, wie die meisten Interpreten als selbstverständlich annehmen, alle Lust wolle die ewige Wiederkehr des Gleichen; zumindest steht es so nicht da. Nach dem Kontext des Gedichts will alle Lust vielmehr die Ewigkeit ihrer selbst, damit auch ihres Vergehens und Wiederentstehens, also des Werdens, und damit auch des Leids. In Notaten hat Nietzsche sie das „dionysische Glück“ „am Werden“ genannt:30 es ist die Lust auch am Leid und das Leid auch an der Lust. Es ist nicht in Gut und Böse zu trennen, und es braucht und will keinen Rückhalt in einem Allgemeinen und Normativen, in irgendetwas Lehrbarem.
12.8. Die Musik von Weh und Lust
Die Lust am dionysischen Werden lässt sich nicht lehren, sie muss sich in der Gestalt, der Form des Liedes zeigen, das Nietzsche nun, anders als das erste Tanzlied, wirklich tanzen lässt. Er hat ihm eine sehr feine Choreographie gegeben.31
Glockenschlag |
Text |
Reim |
Versmaß |
Vokale |
„tief“, „tiefer“ |
Eins! |
Oh Mensch! Gieb Acht! |
a |
ᴗ – ᴗ – |
o e î a |
|
Zwei! |
Was spricht die tiefe Mitternacht? |
a |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
a i i i e î e a |
ᴗ – ᴗ tiefe – ᴗ – |
Drei! |
„Ich schlief, ich schlief —, |
b |
ᴗ – ᴗ – |
i î i î |
|
Vier! |
„Aus tiefem Traum bin ich erwacht: — |
a |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
a î e au i i e a |
ᴗ tiefem – ᴗ – ᴗ – |
Fünf! |
„Die Welt ist tief, |
b |
ᴗ – ᴗ – |
i e i î |
ᴗ – ᴗ tief |
Sechs! |
„Und tiefer als der Tag gedacht. |
a |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
u î e a e a e a |
ᴗ tiefer – ᴗ – ᴗ – |
Sieben! |
„Tief ist ihr Weh —, |
c |
ᴗ – ᴗ – rhythmische Verschiebung: – ᴗ ᴗ – |
î i i ê |
tief ᴗ – ᴗ – |
Acht! |
d |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – rhythmische Verschiebung: – – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
u î e o a e e ei |
ᴗ tiefer – ᴗ – ᴗ – |
|
Neun! |
„Weh spricht: Vergeh! |
c |
ᴗ – ᴗ – rhythmische Verschiebung: – – ᴗ – |
ê i e ê |
|
Zehn! |
d |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
o a e u i e i ei |
||
Elf! |
„— will tiefe, tiefe Ewigkeit! |
d |
ᴗ – ᴗ – ᴗ – ᴗ – |
i î e î e e i ei |
ᴗ tiefe tiefe – ᴗ – |
Zwölf! |
8.1. Die Choreographie hat ihren Halt zunächst in einem Reimschema aus nur 3 Reimen: einem Paarreim a folgt ein doppelter Kreuzreim mit diesem Paarreim b - a - b - a, dann ein zweiter doppelter Kreuzreim c - d - c - d, dessen zweiter Reim im letzten ausgesprochenen Vers, dem elften, identisch wiederholt wird. Alle Reime sind männlich und deutlich hörbar: es reimt nur die letzte und betonte Silbe. Das bestärkt die wirkungsvolle Wucht des Gedichts.
8.2. Die beiden unterschiedlichen Kreuzreime teilen das Gedicht in zwei symmetrische Hälften, deren erste Hälfte jedoch 6, die zweite nur 5 Verse umfasst, so dass der 12. Vers zu fehlen scheint. Er fehlt jedoch nicht: in ihm erklingt der 12. Glockenschlag und mit und nach ihm eben das, worum es im ganzen Gedicht geht, das Unausgesprochene und Unhörbare als Nachklang des Ausgesprochenen und Hörbaren, das Leben im Sprechen, die Tiefen unter der Oberflächen- und Zeichenwelt. Das vertieft die geheimnisvolle Aura des Gedichts.
8.3. Beide Hälften des Gedichts sind durch einen Punkt getrennt, den einzigen Punkt des Gedichts, das sonst nur Ausrufezeichen, Fragezeichen, Kommata, einen Doppelpunkt – und Gedankenstriche kennt. Es sind sechs Gedankenstriche, und Gedankenstriche zeigen nach Nietzsche seine unausgesprochenen und für ihn wichtigsten Gedanken an.32 Sie müssen unausgesprochen bleiben und man muss sie beim lauten Lesen hören lassen. Das steigert die gedankliche Anziehungskraft des Gedichts.
8.4. Nietzsche hat zudem in seinem Gebrauch der Vokale so etwas wie Klangreime geschaffen. Auffällig wird das besonders in den die Mitte des Gedichts umschließenden Versen 3 (i î i î), 5 (i e i î ) und 7 (î i i ê). Das in der deutschen Sprache so häufige klangarme e des Weh kommt erst langsam aus den klangvollen o, a und i hervor, wird dann in V. 9 herrschend (ê i e ê), vereinigt sich in V. 10 mit den volltönenden Vokalen und klingt dann in einem großen i î e î e e i ei aus. Der dunkelste, wenn man will, mitternächtliche Vokal u ertönt erst in der Mitte des Liedes, zunächst im harmlosen „und“, dann aber zwei Mal in „Lust“ und nur noch in „Lust“. Die scheinbar so helle Lust ist dunkel, ihr dunkler Ton klingt im Vokalkonzert, das Nietzsche komponiert, noch dunkler. Das gibt dem Gedicht seinen sanglichen Klang.
8.5. Das Metrum ist einfach, es ist das Metrum eines Tanzlieds: 5-facher regelmäßiger Wechsel zwischen 2- und 4-hebigen Jamben oder einfachen und doppelten jambischen Dimetern – gr. iámbos ist das auftretende Bein.33 Aber dabei bleibt es nicht. In den ersten drei Versen der zweiten Hälfte treten rhythmische Verschiebungen ein:34 Weh und Lust, die nun zur Sprache kommen, fügen sich nicht in das Versmaß, fügen sich in überhaupt kein Maß, und Nietzsche macht das hörbar. Doch mit den Schlussversen wird das Metrum, der regelmäßige Rhythmus, wiedergewonnen, der Tanz wieder leicht und fröhlich, bis er ins Unhörbare ausklingt. Das verleiht dem Gedicht seine beschwingende Lebendigkeit.
8.6. Eine dichte und feste, aber nicht starre Ordnung, wie sie für Lebendiges typisch ist, schafft, wie sich schon angedeutet hat, der Einsatz des Wortes „tief“. Es erscheint zunächst 2 Mal im Positiv (V. 2 und 4), dann 2 Mal im Positiv und Komparativ (V. 5/6 und 7/8) und zuletzt im doppelten Positiv (V. 11: „tiefe, tiefe Ewigkeit“) – um so auffälliger fehlt es (außer im Eingangs- und im vorletzten Vers) im Schopenhauer-Vers „Weh spricht: Vergeh!“ Ihm fehlt es, scheint Nietzsche zu erkennen zu geben, noch an Tiefe. „Tief“ fehlt dann auch im Refrain des anschließenden Ja- und Amen-Lieds „Denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!“ Hier nennt sich Zarathustra „nach der Ewigkeit brünstig […] und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, – dem Ring der Wiederkunft“. Danach wäre nicht er tief – jedenfalls wenn er noch an einer Lehre hinge –,35 sondern das „Weib“, von dem er nun spricht, das ihm Kinder gebären kann und in dem er die tiefste Tiefe vermutet.36 So trägt Nietzsche auch in dieses Gedicht die von ihm und seinem Zarathustra so geliebten Rätsel ein.
12.9. Die dionysische Tiefe von Weh, Lust
und Ewigkeit
Im Erwachen aus tiefem Schlaf, in dem man sich langsam neu orientiert, spricht die Mitternacht in lapidarem, entschiedenem Stil: nicht nur in meist einsilbigen (29), seltener zweisilbigen (8), noch seltener und erst gegen Ende dreisilbigen (2) Worten, sondern auch ausschließlich in Hauptsätzen, die, bis auf den Schluss, wiederum aus äußerst kurzen, einfachen, bündigen Formeln bestehen. Sie bleiben, auch wenn sie, zur Erhaltung und Steigerung der Dynamik, meist nur durch Kommata, Gedankenstriche und Doppelpunkte getrennt sind, wohlgeordnet – bis plötzlich die unbändige „Lust“ die grammatische Ordnung durchbricht („Tief ist ihr Weh –, / Lust – tiefer noch als Herzeleid“). Nietzsche zeigt an der zerbrechenden Syntax unmittelbar, wie die Lust den Bann der Sprache sprengt, der sie ausschließt, sie nicht mehr erfahren lässt, so wie die traditionelle philosophische, auf definierbare Begriffe festgelegte, im Sinn von JGB 62 „festgestellte“ Sprache nach FW 372 die „Musik des Lebens“ nicht mehr hören lässt. Wohl „spricht“ im Mitternachts-Lied das „Weh“. Es ist das „Weh“, das nach JGB 6 und JGB 198 und nach der neuen Vorrede zu FW (2) auch und gerade Philosophen zum Sprechen bringt, das sie drängt, ihre jeweiligen Triebe, Schmerzen, Nöte und Leiden in mehr oder weniger moralisch zurechtgelegten „Welt-Interpretationen“ (FW 373) auszusprechen. Die Lust dagegen, das Tiefste, zu dem die Mitternacht hinabführt und das die Sprechordnung auflöst, spricht nicht, die Mitternacht spricht nur über sie, widerspricht aus der Tiefe des Traums heraus, in den sie versunken war, dem „Vergeh!“, das das „Weh“ will, widerspricht dem Aufhören aller Triebe, Schmerzen, Nöte und Leiden, mit einem entschiedenen „Doch“. Dieses „Doch“ ist die erste Konjunktion im Gedicht, die erste logische Verknüpfung nach dem Erwachen aus dem Traum. Man scheint wieder in der Oberflächen- und Zeichenwelt und ihrer Logik angekommen. Und nun folgt auch der erste ausgreifendere und rhythmisch flüssigere Satz, freilich noch im Modus der sich anreichernden Wiederholung. Aber auch ihn unterbricht ein doppelter Gedankenstrich, lässt ihn gleichsam sich besinnen und Atem holen für die letzte, entscheidende Aussage: „Doch alle Lust will Ewigkeit –, / – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ Das im Traum Gesagte wird klar und bestätigt sich aufatmend selbst.
Doch es bleibt eine Logik des Traums. Die Mitternacht sagt, was die Lust „will“, ohne alle Gründe will:37 „Ewigkeit“, nicht als Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, für die man wiederum Gründe haben muss, sondern als „tiefe, tiefe Ewigkeit“, eine Ewigkeit, in die man, wie in den Schlaf und seine Träume, Stufe für Stufe versinkt. Wie zuvor das verdoppelte „Ich schlief, ich schlief“ das Versunkensein, so evoziert das verdoppelte „tiefe, tiefe“ ein neues Versinken: das erste verklingt im zweiten und wird schließlich unhörbar – in dem vom zwölften Glockenschlag angekündigten zwölften unhörbaren Vers.
Bei dieser tiefen Unhörbarkeit setzen die mystischen Deutungen ein. Aber vielleicht sagen auch sie und sagt auch Schopenhauers buddhistisches Nirwana noch zu viel. Nach dem vorausgehenden Geflüster Zarathustras mit dem Leben ist die Lust an der tiefen, tiefen Ewigkeit nicht die Lust an einem noch und gerade im Unaussprechlichen ewig Bleibenden, in dem alles Dasein doch noch einen letzten Halt findet, sondern die Lust auch noch am Tod, dem Tod des Einzelnen, dem Tod, in den Zarathustra zu gehen bereit ist und über den hinaus das Leben ewig weitergehen wird.38 Sie will nicht das Vergehen, sondern das Weitergehen, und Lebendiges kann nach Nietzsche auch nichts anderes wollen, nicht für sich, als Selbsterhaltung, sondern über sich hinaus durch alle Zufälle hindurch als weitere unabgrenzbare und unabschließbare, ziel- und sinnlose Evolution des Lebens. Das Mitternachts-Lied führt über die Angst vor Leid und Tod hinaus zur Lust am weiteren Werden jenseits aller Vernunft, Metaphysik und Moral, die, so Nietzsche, selbst diesem Werden entspringen, um es dann ängstlich in Ordnungen zu bannen, die nur in der Oberflächen- und Zeichenwelt als wahre gelten. Lustvoll auch mit Leid und Tod zu leben aber empfahl schon die Weisheit des Silen, dass nicht geboren zu sein alles andere übertreffe und bald zu sterben das Zweitbeste sei. Es ist die dionysische Weisheit, die das Leben auch und eben dann noch ertragen lässt, wenn aller Glaube verloren ist, die Weisheit, die Nietzsche auch im Tragischen seines Philosophierens fröhlich und – unter Tränen – heiter erhielt oder doch erhalten sollte und die er darum immer heilig hielt.39 Sie ist die Lust an der tiefen, tiefen Ewigkeit, weil sie mit ihren Tiefen alle Oberflächen und ihren begrenzenden, ordnenden, feststellenden Umgang mit der Zeit zugleich unterläuft und erzeugt. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen kann man als einen Weg zu dieser Lust verstehen,40 an- und ausgesprochen wird sie hier nicht.
Die Mitternacht sagt nichts über das Dasein der Welt, ob sie wirklich ist oder nur Schein, nichts über das Wiesein der Welt, ob sie, Schein oder nicht, selbstständig oder von anderem (z.B. einem Gott) abhängig ist, nichts über das Wassein der Welt, darüber, was zu ihr gehört und was nicht und wie das ihr Zugehörige geordnet und bestimmt ist, und nichts dazu, wie all das zu erkennen sei, also nichts über die großen ontologischen und epistemologischen Fragen der Tradition. Sie sagt nur, dass für all solche Fragen und die Antworten auf sie „Weh“ und „Lust“ maßgebend sind, ohne dass den Fragenden und Antwortenden das hinreichend bewusst würde, die „Lust“ aber „tiefer“ noch als das „Weh“. Die „Welt“ ist danach, wie oft in der Tradition, dreifach abgestuft, jedoch nicht hinauf ins immer Hellere, Bestimmtere und Festere, sondern hinab ins immer Nächtlichere und Unbestimmtere und Flüchtigere – die mögliche Vertiefung der Oberflächen- und Zeichenwelt in eine Welt, die diesen als Traumwelt gilt, kommt nie an ein Ende, nie zu einem Letzten; sie müsste sonst wieder in einer ontologischen Metaphysik formuliert werden. Die Mitternacht entwirft also in diesem Sinn „tief“ unter der Oberflächen- und Zeichenwelt der Vernunft, klaren Einsicht und rationalen Berechnung die Welt als Welt des Leidens an den Scheidungen, die Leben und Tod mit sich bringen, einschließlich aller Unterscheidungen und Entscheidungen, durch die man sie zu bewältigen versucht, und noch „tiefer“ unter ihr die Welt als Welt des lustvollen Bejahens auch noch all dieser Scheidungen und der gelingenden und scheiternden Versuche ihrer Bewältigung. Danach herrscht in der Oberfläche das (möglicherweise scheinbare) Sein („Die Welt ist“), in der Tiefe des Wehs das Sollen – das Leid soll vergehen, die Welt soll anders sein, als sie ist („Weh spricht: Vergeh!“) – und in der noch tieferen Tiefe das Wollen („Doch alle Lust will Ewigkeit“), aber kein Anders-haben-Wollen, sondern ein Wollen der Welt so, wie sie ist und war und sein wird, als ein bloßes Weitergehen ohne Zweck, Ziel und Sinn, ohne Rücksicht auf die Vernunft und auf das Leiden an ihr, deren Spiel sie achtlos unterhält. Von der Oberfläche der Vernunft aus betrachtet ist dies Nihilismus, von der Tiefe der Lust aus amor fati; mit dem Perspektivenwechsel kehrt sich die rationale Verneinung um in liebende Bejahung.41 Nietzsche führt hier eine andere, dionysische Logik vor, die Unterscheidungen und Gegensätze nicht mehr einfach hinnimmt, sondern alle scheinbar festen Begriffe kritisch unterläuft, indem sie sie in ihren Gegensatz verkehrt, dann „tiefer“ nach ihrem Grund fragt und diesen Grund auf der bisher negativ bewerteten, moralisch diskriminierten, religiös verfemten Seite findet. Nietzsche hat damit die Wahrheit nicht mehr (nur) als positiven Gegensatz des Irrtums, sondern (auch) als eine Art des Irrtums, den Überfluss nicht mehr (nur) als positiven Gegensatz der Not, sondern (auch) als eine Art der Not und das Leben nicht mehr (nur) als positiven Gegensatz des Todes, sondern (auch) als eine Art des Todes zu verstehen, den negativen Begriff (Irrtum, Not, Tod) kritisch als Oberbegriff zu erkennen gelernt, aus dem die Entgegensetzung im Ganzen und damit auch der scheinbar positive Begriff (Wahrheit, Überfluss, Leben) entspringt.42 Auf diese Weise macht er im Mitternachts-Lied die „Lust“ aus einem Gegensatz des „Weh“ zugleich zu dessen Ursprung, das moralisch und religiös gerechtfertigte Leiden zu einer Art der moralisch und religiös verdächtigten Lust. Die dionysische Logik bringt die scheinbar feststehenden, moralisch asymmetrisierten Unterscheidungen und Gegensätze in Bewegung und hilft dadurch, sich in der Welt, wo sie sich wandelt, durch neue Unterscheidungen neu zu orientieren, und die Werte, wo sie sich überleben, in neue Werte umzuwerten.
1 [Den ursprünglich abschließenden Abschnitt dieses Beitrags „Der dionysische Kommentar des Nachtwandler-Lieds“ habe ich in dem Beitrag: Zarathustras philosophische Auslegung des ‚Mitternachts-Lieds‘, in: Katharina Grätz / Sebastian Kaufmann (Hg.), Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra, Heidelberg 2016, S. 425-442, neu aufgerollt. Er entfällt darum hier. Der übrige Text wurde in einigen Punkten revidiert. Der neue Beitrag kann aus rechtlichen Gründen nicht in den Band aufgenommen werden.]
2 Nach Martin Pernet, der Nietzsches persönlichen Umgang in Sils-Maria intensiv erforscht hat, waren es die Musiker Walter Lampe und Carl Fuchs – mit dem letzteren hatte Nietzsche in ausführlichem Briefwechsel gestanden –, die zusammen mit Gian R. Durisch, dem Besitzer des Hauses, in dem Nietzsche während seiner Aufenthalte in Sils-Maria gewohnt hatte, und der im Jahr 1900 Gemeindepräsident von Sils war, die Errichtung des Denkmals betrieben (Martin Pernet, Friedrich Nietzsches Bekannte im Engadin, Bündner Jahrbuch 1995, S. 71 und S. 81-83). Das geschah sicherlich im Wissen, wenn nicht unter Mitwirkung der Schwester Nietzsches. Nach Peter-André Bloch, dem Fachmann für alles das Nietzsche-Haus Betreffende, war sie die treibende Kraft: „sie ließ auch Haken anbringen, damit Verehrer dort ihre Kränze anbringen konnten … Alle Rechnungen sind erhalten; von einer behördlichen Erlaubnis ist nirgends die Rede; sie verstand es halt wie immer, sich durchzusetzen.“ (persönliches Schreiben vom 27. November 2012) Ob Nietzsche das Gedicht auch auf der Chastè verfasst hat, wie zuweilen vermutet wird, ist nicht zu belegen. Die Schwester sagt in ihrer Biographie nichts dazu.
3 Vgl. David S. Thatcher, Musical Settings of Nietzsche Texts: An Annotated Bibliography (I), in: Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 284-323 (zu Gustav Mahler S. 318-320); David S. Thatcher, Musical Settings of Nietzsche Texts: An Annotated Bibliography (II), in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 355-383 (zu Richard Strauss S. 365-370); David S. Thatcher, Musical Settings of Nietzsche Texts: An Annotated Bibliography (III), in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 440-452 (zu den jüngeren und jüngsten Komponisten), und zusammenfassend Margot Fleischer, Das Spektrum der Nietzsche-Rezeption im geistigen Leben seit der Jahrhundertwende. Übersicht und Materialien, in: Nietzsche-Studien 20 (1991), S. 1-47, hier S. 42 f. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ wurde nach Thatchers Dokumentation mit am häufigsten, 29 Mal, vertont. Die Dokumentation wäre bis zur Gegenwart fortzuschreiben. – Der Tänzer und Choreograph Maurice Béjart hat zu den zwölf Glockenschlägen des Liedes „mémoires“ in ihrerseits tänzerisch choreographierten träumerischen Szenen erzählt, Traum-Tänze, aus denen er schließlich, in einem „Postlude“, zu seinem Leben als Tänzer und Choreograph erwacht und zu einer „anderen Musik“ aufbricht („J’ETAIS PARTI VERS UNE AUTRE MUSIQUE.“). Dann zitiert er das Lied (Maurice Béjart, L’autre chant de la danse. „Ce que la nuit me dit“, Paris 1974). Nietzsche und vor allem sein Zarathustra prägte, so Béjart, sein ganzes Leben und Denken. Vgl. Maurice Béjart / Michel Robert, Ainsi danse Zarathoustra. Entretiens, Paris 2006. – Der philosophische Ertrag der musikalischen und choreographischen Deutungen von „Oh Mensch! Gieb Acht!“ im Ganzen bedürfte einer eingehenden fachkundigen Untersuchung.
4 So ist nach Rüdiger Ziemann, Art. Die Gedichte, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150-156, S. 150, die „Eingrenzung der Textart ‚Gedicht‘ auf lyrische Versdichtung in einem weiten Verständnis – das freirhythmische Reihen ebenso einschließt wie mit Verssequenzen verbundene Prosateile –“ im Blick auf Nietzsches Werk „nicht ohne Willkür“. Zum Lied enthält das Nietzsche-Handbuch keinen Artikel, das Nietzsche-Lexikon (hg. von Christian Niemeyer, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Darmstadt 2011) weder zum Gedicht noch zum Lied.
5 [Vgl. den Beitrag Anti-Lehren. Szene und Lehre in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in diesem Band.]
6 Es wird zuweilen unter dem Titel „Das andere Tanzlied“ geführt, der sich in Za III jedoch auch auf den vorausgehenden Prosatext bezieht, zuweilen unter dem Titel „Das Nachtwandler-Lied“, wohl weil es im so benannten Kapitel von Za IV nochmals in Gänze zitiert wird, zuweilen unter dem Titel „Das trunkene Lied“, wie es Nietzsche in seinem Handexemplar bezeichnete (vgl. Mazzino Montinari, Kommentar zur KSA, KSA 14.343); unter diesem Titel erschien es dann in mehreren späteren Ausgaben. Um nicht auf seine Interpretation vorzugreifen, benennen wir es mit seinem ersten Vers (dem in Za III, Das andere Tanzlied, allerdings er erste Glockenschlag „Eins!“ vorausgeht) oder, aus Gründen, die im Folgenden erläutert werden, „Mitternachts-Lied“. Der ebenfalls gebräuchliche Name lässt, was für seine Deutung von Belang ist, offen, ob das Lied nur in der Mitternacht erklingt oder auch von ihr gesprochen oder gesungen wird (s. Abschnitt 4). – Der Titel „Das andere Tanzlied“ könnte im Übrigen an Goethe erinnern, der auf „Wandrers Nachtlied“ „Ein gleiches“ folgen ließ. Aus Goethes ersten Nachtlied spricht, wie aus Nietzsches erstem Tanzlied, in dessen Sprache das „Weh“ („Der du von dem Himmel bist, / Alles Leid und Schmerzen stillest, / Den, der doppelt elend ist, / Doppelt mit Erquickung füllest, / Ach, ich bin des Treibens müde! / Was soll all der Schmerz und Lust? / Süßer Friede, / Komm, ach komm in meine Brust!“), aus dem zweiten, wie aus Nietzsches anderem Tanzlied, die „Lust“, ein lustvoller Genuss der Ruhe, zunächst der zeitlichen, dann der ewigen („Über allen Gipfeln / Ist Ruh’, / In allen Wipfeln spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.“). Vgl. (zu Goethe) Erich Trunz, in: Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte und Epen, Bd. 1. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz (Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1), 16., durchges. Aufl., München 1996, S. 555, Anm. 6., und Karl Otto Conrady, Goethe. Leben und Werk, Bd. 1. Hälfte des Lebens, Königstein, Ts., 1982, S. 406. Wiewohl Goethe die beiden Gedichte unüblicherweise auf einer Seite abdrucken ließ (vgl. Hans-Jörg Knobloch, „Wandrers Nachtlied“ – ein Gebet?, in: Hans-Jörg Knobloch / Helmut Koopmann (Hg.), Goethe. Neue Ansichten – neue Einsichten, Würzburg 2007, S. 91-102), wollen Terence James Reed, Wandrers Nachtlied / Ein gleiches, in: Bernd Witte / Theo Buck / Hans-Dietrich Dahnke / Regine Otto / Peter Schmidt (Hg.), Goethe-Handbuch in vier Bänden, Bd. 1: Gedichte, Stuttgart / Weimar 1996, S. 187-194, und Theo Buck, Johann Wolfgang Goethe: „Wandrers Nachtlied“ (1780), in: Th. B., Streifzüge durch die Poesie: von Klopstock bis Celan. Gedichte und Interpretationen, Köln/Weimar/Wien 2012, S. 46-55, hier S. 48, zwischen ihnen keinen Zusammenhang sehen, andere, wie Peter Heller, Gedanken zu einem Gedicht von Goethe, in: Volker Dürr / Géza von Molnár (Hg.), Versuche zu Goethe. Festschrift für Erich Heller, Heidelberg 1976, S. 76-120, und Uwe C. Steiner, Gipfelpoesie: Wandrers Leiden, Höhen und Tiefen in Goethes beiden Nachtliedern, in: Bernd Witte (Hg.), Interpretationen. Gedichte von Johann Wolfgang Goethe, Stuttgart 1998, S. 77-95, durchaus, freilich in ganz unterschiedlicher Weise. Dass Nietzsches Tanzliederpaar auf Goethes Gedichtpaar antworten könnte, scheint jedoch, soweit zu sehen ist, bisher nicht erwogen worden zu sein.
7 Wir müssen hier offen lassen, wieweit die „Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“, von seinem „Grundgedanken“ zu unterscheiden ist (EH, Za 1, Kursivierung W.S.).
8 [Vgl. die Beitrag Nietzsches Anthropologiekritik und Ant-Lehren. Szene und Lehre in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in diesem Band.]
9 Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Vorlesung 1929/30, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann), in: M.H., Gesamtausgabe, Bd. 29/30, Frankfurt am Main 1983, S. 532.
10 Sylvain de Bleeckere, Commentaar op Zarathustra’s Nachtwandelaarslied, Nietzsches positieve verwoording van de eeuwige terugkeer, in: Tijdschrift voor filosofie 39 (1977), S. 624-655.
11 Versteht man die „Ewigkeit“ in „Oh Mensch! Gieb Acht!“ als ewige Wiederkehr des Gleichen, müsste man erklären können, wie diese Wiederkehr als „tiefe, tiefe“, in der Tiefe also steigerbar sein kann, wo sie doch immer gleich wiederkehren soll. De Bleeckere versucht das nicht, und soweit ich sehe, ist es auch später nicht versucht worden. Dass die Doppelungen („Ich schlief, ich schlief –“, „tiefe, tiefe“) ohne Bedeutung sein sollten, kann man für ein so knappes und streng abgerundetes Gedicht wohl ausschließen.
12 Nach de Bleeckere ist das Lied, soweit ich sehe, kaum noch eingehend interpretiert worden und ohne dass auf ihn Bezug genommen worden wäre. Philip Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 108-110, behandelt das Lied merkwürdigerweise zusammen mit dem Gedicht Der geheimnisvolle Nachen aus den Idyllen aus Messina, das Nietzsche später in die Lieder des Prinzen Vogelfrei aufnahm: auch hier gehe es um nächtliche Geheimnisse und Träume. „Ewigkeit“ setzt Grundlehner ohne weiteres mit ewiger Wiederkunft gleich, die mitternächtlichen Glockenschläge bezeichneten „the timeless quality of midnight“. Von Glockenschlägen wird man jedoch kaum sagen können, sie seien zeitlos. – Hans-Georg Gadamer, Das Drama Zarathustras, in: Nietzsche-Studien 15 (1986), S. 1-16, hier S. 8-12, hat „Oh Mensch! Gieb Acht!“ zwar einige Seiten gewidmet, ohne dem Lied jedoch viel abgewinnen zu können: es sei „zu laut“. – Laurence Lampert, Nietzsche’s Teaching: An Interpretation of Thus Spoke Zarathustra, New Haven 1986, S. 234-240, gibt eine ausführliche interpretierende Nacherzählung des Kapitels Das andere Tanzlied, jedoch besonders der ersten beiden Abschnitte, um vor allem die Rätsel zu lösen, (a) was Zarathustra dem Leben ins Ohr flüstert (nach Lampert den Gedanken der ewigen Wiederkehr) und (b) was es mit der Peitsche auf sich hat (nach Lampert dem Leben den Rhythmus der ewigen Wiederkehr zu geben). Die Lust an der Ewigkeit ist dann auch schon die Lust an der ewigen Wiederkehr und das folgende Ja- und Amen-Lied zum 12. Schlag der Glocke ein „marriage song“ zur Heirat mit der „woman Eternity“ – diesen Namen gebe nun der Gatte Zarathustra seiner Braut, dem Leben (S. 240). – Nach Wolfram Groddeck, „Oh Himmel über mir“. Zur kosmischen Wendung in Nietzsches Poetologie, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 490-508, hier S. 502-504, wollte Nietzsche mit dem „Oh Mensch!“, dessen „überspannte[s] Pathos“ an Kants „bestirnte[n] Himmel über mir“ (Kritik der praktischen Vernunft, Beschluss) erinnere, dem Menschen seine Achtung vor sich selbst zurückgeben. Im Blick auf den Himmel deutet Groddeck den Sperrdruck, in dem das Gedicht zuletzt wiedergegeben wird, als „lesbare Sternzeichen“ und kommt zu dem Schluss: „Der einzige Inhalt dieses Lehr-Gedichtes ist das Pathos, die Erweckung der Affekte ‚Weh‘ und ‚Lust‘, deren ‚Ewigkeit‘ es festschreibt.“ Das wäre angesichts des späteren interpretatorischen Aufwands, den Nietzsches Zarathustra dem Gedicht widmet, doch wenig. – Eberhard Simons, „Doch alle Lust will Ewigkeit – will tiefe, tiefe Ewigkeit“. Das Apollinische und das Dionysische im Mitternachtslied, in: Alois K. Soller / Beatrix Vogel (Hg.), Chronik des Nietzsche-Kreises München. Vorträge aus den Jahren 1990-1998, Neuried 1999, S. 129-160 (Mitschnitt eines Vortrags von 1993 in München), dagegen gibt dem Lied in weitgreifenden Deutungen seiner einzelnen Worte einen vor allem anti-modernen, anti-naturwissenschaftlichen und anti-industriellen Sinn. So stehe das „Oh“ zu Beginn für das griechische Omega und rufe statt des „kleinen“, in äußere Zweckzusammenhänge eingebundenen Omikron, den freien und „großen Menschen“ hervor, der in der Gegenwart vergessen sei; im Schlussvers des Liedes hört Simons apollinische Wahrsagekunst. – Ziemann, Art. Die Gedichte, geht in seiner ansonsten ausführlichen Charakterisierung von Nietzsches Gedichten auf das Mitternachts-Lied nicht näher ein. – Kathleen Higgins, The Whip Recalled, in: Journal of Nietzsche Studies 12 (1996), S. 1-18, wieder abgedruckt in: Richard White (Hg.), Nietzsche (The International Library of Critical Essays in the History of Philosophy), Aldershot 2002, S. 511-528, hier S. 523, findet im Mitternachts-Lied, das sie vollständig zitiert, vor allem Mystisches. – Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von Morgenröthe bis Also sprach Zarathustra (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 37), Berlin/New York 1997, S. 615-627, schließt sein Werk mit einer ausführlichen und sorgfältigen Darstellung der Kapitel Das andere Tanzlied und Das Nachtwandler-Lied, wobei er sie in den Kontext des III. und IV. Teils von Za stellt, erläutert allerdings weder den Kontext von Gehalt und Gestalt noch, auf welche Weise das zweite Lied das erste interpretiert. – Renate Reschke, Zarathustra und die alten Männer oder Dionysos trifft den Papst. Tanz als Kritik des Christentums und der Moderne, in: Peter Villwock (Hg.), Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. 20. Silser Nietzsche-Kolloquium 2000, Basel 2001, S. 158-188, arbeitet die erotisierte Grundstimmung im Kapitel Das andere Tanzlied heraus, ohne auf das Lied selbst einzugehen. – Nach Jill Marsden, Lunar rapture: Nietzsche’s religion of the night sun, in: John Lippitt / Jim Urpeth (Hg.), Nietzsche and the Divine, Manchester 2000, S. 252-268, ist im Nachtwandler-Lied das Mondlicht ausschlaggebend, weil „it comes to light up the dark Dionysian underworld of inhuman passion and hence to overcome the wisdom of the day, much like the Apollinian power of dream comes to radiate and intensify Dionysian night.“ (S. 264) – Alexander Nehamas, For whom the Sun shines: A Reading of Also sprach Zarathustra, in: Volker Gerhardt (Hg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, S. 165-189, macht im Kapitel Das andere Tanzlied das Peitschen-Motiv stark: nach dem Gespräch mit dem Leben könne Zarathustra nun auf die Peitsche verzichten. – Auch Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 54), Berlin/New York 2009, S. 52-54, bezieht sich nur auf das Peitschen-Motiv. – T. K. Seung, Nietzsche’s Epic of the Soul. Thus Spoke Zarathustra, Lanham 2005, will Dionysos nicht mit Zarathustra, sondern mit dem Leben gleichsetzen und zieht dafür v.a. das Kapitel Das andere Tanzlied heran. – Christian Niemeyer, Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Werkinterpretation, Darmstadt 2007, sieht im Kapitel Das andere Tanzlied eine Erinnerung an „Nietzsches Liebesleid in Sachen Lou v. Salomé“ (S. 85); mit dem „Nachtwandler-Lied“ verlöre der Wiederkunftsgedanke „seine Bedrohlichkeit“ (S. 122). – Nach Bruce Ellis Benson, Pious Nietzsche. Decadence and Dionysian faith, Bloomington 2008, S. 184, geht es in Das andere Tanzlied um „learning to dance with life, which means learning to dance with uncertainty and tragedy“. – Klaus Möning, „Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden!“ Nietzsches späte Lyrik, in: Barbara Neymeyr / Andreas Urs Sommer im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Akademie der Wissenschaften des Landes Baden-Württemberg (Hg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 193-221, gibt einen Überblick über Nietzsches Lieder von 1880 an. Auf das Lied „Oh Mensch! Gieb Acht!“ geht er jedoch nicht ein. – Im Ganzen wird wenig beachtet, dass Also sprach Zarathustra nicht einfach eine Lehrdichtung, sondern eine episch-dramatische Lehrdichtung ist, deren Lehren, die ‚Inhalte‘ oder Gehalte, aus dem dargestellten Geschehen, der ‚Form‘ oder der Gestaltung, hier dem Scheitern Zarathustras mit seinen Lehren, zu verstehen sind. – Für ihre Hilfe bei den Literaturrecherchen danke ich Benjamin Alberts und Andreas Rupschus.
13 Zu Konzept und Methode der kontextuellen Interpretation von Nietzsches Textes vgl. Werner Stegmaier, Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 80-94; englische Übersetzung von Lisa Anderson unter dem Titel: After Montinari. On Nietzsche Philology, in: The Journal of Nietzsche Studies 38 (Fall 2009), S. 5-19; ferner: Nietzsche zur Einführung, passim; und Werner Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs des Fröhlichen Wissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 75-82.
14 Das „Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir tanzen und schrein! Ich vergass doch die Peitsche nicht? – Nein!“ wurde zum Anlass immer neuer Debatten. Vgl. dazu die Anmerkung 11 und Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), 2., verbesserte und erweiterte Aufl., Berlin/New York 1999, S. 454 f., mit den dortigen Hinweisen auf weitere Literatur zum Peitschen-Motiv.
15 Zum Spektrum der Forschungsmeinungen darüber, was Zarathustra da dem Leben ins Ohr flüstert, vgl. David Kishik, Zarathustra’s Whisper, in: New Nietzsche Studies 8 (2009/2010), S. 58-65. Wie für die meisten, so ist es auch für Douglas Burnham / Martin Jesinghausen, Nietzsche’s Thus Spoke Zarathustra. An Edinburgh Philosophical Guide, Edinburgh 2010, fraglos der Gedanke der ewigen Wiederkunft. Wir wissen es nicht und sollen es offenbar auch nicht wissen. Sicher ist aus dem Kontext nur, dass es um ein Wissen vom Leben geht, das Zarathustra dem – ungewollten oder auch gewollten – Tod nahebringt.
16 Zur Rekonstruktion des Entstehungsprozesses des Gedichts vgl. Roger Hollinrake / Manfred Ruter, Nietzsche’s Sketches for the Poem ‚Oh Mensch! Gieb Acht!‘, in: Nietzsche-Studien 4 (1975), S. 279-283. Nietzsches Ziel war danach vor allem, die Verse auf die Zwölf-Zahl der Mitternachts-Glockenschläge zu bringen. Um die „zwölf Schläge des Mittags“, „die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres Seins“ komponiert Nietzsche später in der Tat den 1. Aphorismus seiner Vorrede zu GM. Ein Rechenexempel dürfte das Gedicht dennoch kaum sein.
17 Vgl. zu den ähnlichen Verhältnissen in den Dionysos-Dithyramben Ziemann, Art. Die Gedichte, S. 155.
18 Das fehlende Schluss-Anführungszeichen könnte auf den 12. Vers verweisen, in dem die Mitternacht in Za III, nicht aber in Za IV unhörbar weiterspricht (s.u.). Es könnte sich aber auch um einen Satzfehler handeln. Weder Montinari, Kommentar, KSA 14.325, noch der Nachbericht (Marie-Luise Haase / Mazzino Montinari, Nachbericht zum ersten Band der sechsten Abteilung: Also sprach Zarathustra, KGW VI 4, Berlin/New York 1991) geben darüber Auskunft. Der Nachbericht verweist jedoch auf eine Variante in der Reinschrift (Za II 4.66), in der das Schluss-Anführungszeichen steht (KGW VI 4.538). Andererseits gibt er auf S. 534 zwei Arbeitsfassungen des Gedichts wieder, in deren erster Nietzsche nur vor „Ich schlief“ ein Anführungszeichen setzt – ohne am Ende des Gedichts ein Schluss-Anführungszeichen zu setzen, und in deren zweiter er nach „Ewigkeit!“ ein Schluss-Anführungszeichen setzt und nach „Zwölf!“ ein ebenfalls gesetztes wieder herausstreicht. Die Anführungszeichenfrage scheint ihm also wichtig gewesen zu sein. Im Erstdruck fehlt dann jedenfalls das Schluss-Anführungszeichen (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. 3. [Teil], Chemnitz 1884, S. 111).
19 De Bleeckere, Commentaar, S. 634, nimmt fraglos für das ganze Gedicht Zarathustra als Sprecher an. Die Anführungszeichen beachtet er nicht; nach ihnen spricht für ihn der schaffende Mensch.
20 Hans Hellenbrecht, Das Problem der freien Rhythmen mit Bezug auf Nietzsche (Sprache und Dichtung, Heft 48), Berlin 1931, S. 72 f., rückt „Oh Mensch! Gieb Acht!“ darum an Novalis’ Hymnen an die Nacht heran, nach Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst. Annäherung an einen Denkartisten, Frankfurt am Main / Leipzig 2000, S. 243, hat Nietzsche die Hymnen an die Nacht „gleichsam nebenbei […] parodiert[]“.
21 Gustav Mahler hat, anders als etwa Lukas Foss in seinem 1960 in New York von Leonard Bernstein uraufgeführten und von Publikum und Kritik gefeierten Time Cycle (vgl. Thatcher, Musical Settings of Nietzsche Texts I, S. 303 f.), die Glockenschläge in seiner Vertonung übergangen. Bei ihm scheint die Mitternacht ganz in sich versunken; bei Nietzsche spricht sie aus dem weiter wachgehaltenen, technisch organisierten Zeitbewusstsein der menschlichen Gesellschaft.
22 Nach der modernen Schlafforschung wird in sogenannten REM- (rapid-eye-movement) Phasen eher gefühlsbetont und erotisch geträumt, in Non-REM-Phasen eher das wache Leben kognitiv rekapituliert; sie wechseln einander ab. In beiden Phasen, nimmt man an, reorganisiert das Gehirn das Tages-Gedächtnis und ermöglicht so Neuorientierungen nach dem Erwachen. Man hat dann ‚über etwas geschlafen‘ und ‚sieht nun klarer‘, ‚das Gefühl‘, sich entscheiden zu können, wird ‚sicherer‘; gerade im noch halbtraumartigen Zustand des Erwachens können dann schwerwiegende Einsichten aufgehen und entsprechende Entscheidungen fallen.
23 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 265-288.
24 Vgl. schon Muneto Sonoda, Zwischen Denken und Dichten, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 234-246, hier S. 245 f.: „,In die Tiefe steigen‘ bedeutet: sich in die neue Welt hineintauchen und dort, von jedem Bezug entbunden, sich aufs Spiel setzen.“ Das soll freilich in einem „reine[n] Sprechen“, „reine[n] Dichten“ und „reine[n] Denken als dem „reine[n] Ausdruck des Lebens“ geschehen. Sonoda bleibt schuldig anzugeben, wovon und wozu all dies „rein“ sein soll.
25 Dem Substantiv ‚Weh‘, das im Althochdeutschen noch in allen drei Geschlechtern auftrat, ging nach dem Grimmschen Wörterbuch wohl die Interjektion, der Ausruf „weh! weh!“ voraus, vor allem als biblischer Ausdruck der Verwünschung, später auch der Klage über schicksalhaftes Unglück (Jacob Grimm / Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14/I/1, bearb. von Alfred Götze, Leipzig 1955, Art. Weh, Sp. 1-64, hier 1, 4, 6, 19 f.). In diesem Sinn kommt ,weh‘ auch in Nietzsches Werk am häufigsten vor. Schon zu seiner Zeit war dagegen das Substantiv ‚Weh‘ als Klage über seelisches und körperliches Leid (die Verwendung für das seelische ging der für das körperliche voraus) nur noch in Zusammensetzungen wie ‚Wehtun‘ und ‚Wehmut‘ bzw. ‚Heimweh‘ (unter den ,Wehs‘ bei Nietzsche mit Abstand am häufigsten), ‚Fernweh‘, ‚Kopfweh‘, ‚Zahnweh‘, ‚Halsweh‘, ‚Bauchweh‘ gebräuchlich. Nietzsche (und ähnlich schon Richard Wagner: „gehrt‘ ich nach Wonne, / weckt ich nur Weh: – / drum mußt‘ ich mich Wehwalt nennen; / des Wehes waltet‘ ich nur“, so Siegmund in Die Walküre I 2) verwendeten auch weniger gängige Zusammensetzungen wie ‚Weh- (oder Wehe-) gefühl‘, ‚Wehgeheul‘, ‚Weheruf‘, ‚Weheschrei‘, ‚Wehstimme‘ und ‚Weh(e)mensch‘ (Ödipus). Das geläufige ‚Wehtun‘ gebrauchte Nietzsche sehr oft, wogegen er den Plural „die ,Wehen der Gebärerin‘“, die Geburtswehen, die in Zarathustas „Genesung“ von seinem Gedanken der ewigen Wiederkehr eine bedeutende Rolle spielen, im veröffentlichten Werk nur ein einziges Mal zitiert, in GD, Was ich den Alten verdanke 4 („In der Mysterienlehre ist der Schmerz heilig gesprochen: die „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende bedingt den Schmerz …“). Der poetisch-pathetisch generalisierende substantivische Gebrauch des bloßen Stammworts ‚Weh‘ im Singular, wie er im Mitternachts-Lied erscheint, war durch den Eingangsmonolog in Goethes Faust prominent geworden: „Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen, / Mit Stürmen mich herumzuschlagen / Und in des Schiffbruchs Knirschen nicht zu zagen.“ (V. 464-466) Nietzsche hatte im Nachlass 1880, 6[128], KSA 9.229, den V. 465 entweder aus dem Kopf zitiert: „der Erde Lust, der Erde Weh zu tragen“ oder bewusst „Glück“ durch „Lust“ ersetzt und „Der Erde Weh“ betont nachgestellt und gesperrt. In M 545 spielte er mit seiner Frage an scheinbare „Menschenkenner“ offenbar auf den Goethe-Verehrer Wagner an: „Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen? Und das Wehe und die Art Glück der schlechtesten hinzu?“ Im Eingangsgedicht der Idyllen aus Messina mit dem Titel „Prinz Vogelfrei“ „schläft“ das „Weh“ der Welt – für den, der sich leicht wie ein Vogel über es zu erheben versteht: „Das weisse Meer ist eingeschlafen, / Es schläft mir jedes Weh und Ach. / Vergessen hab’ ich Ziel und Hafen, / Vergessen Furcht und Lob und Strafen: / Jetzt flieg ich jedem Vogel nach.“ Der vogelfreie Prinz blickt aus höherer Perspektive auf die stolpernde, stotternde Vernunft der Oberflächen- und Zeichenwelt („Vernunft? – das ist ein bös Geschäfte: / Vernunft und Zunge stolpern viel!“), und er kündigt auch den Sinn der Form des Liedes für Nietzsche an, den dieser dann in Za III und IV in Szene setzt (wir kommen auf ihn zurück): „Einsam zu denken – das ist weise. / Einsam zu singen – das ist dumm! / So horcht mir denn auf meine Weise / Und setzt euch still um mich im Kreise, / Ihr schönen Vögelchen, herum!“ (KSA 3.335 f.) In die Lieder des Prinzen Vogelfrei, die sich weitgehend aus den IM speisen, hat er aus dem Gedicht nur noch das Lied vom Lied, nicht mehr das Lied vom Weh übernommen („Im Süden“, KSA 3.641 f.); das letztere wollte er nun offenbar Also sprach Zarathustra vorbehalten. In Also sprach Zarathustra präludiert die Paarung „Lust und Weh“ in Za I, Von den Verächtern des Leibes, („Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und Weh.“). Am häufigsten erscheint das „Weh“ dann im Kommentar des Nachtwandler-Lieds in Za IV, danach in Nietzsches Werk nur noch vereinzelt wie in JGB 30 („Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken; und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob sein Anblick nothwendig gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde? …“) oder JGB 245 (Robert Schumann als „ein edler Zärtling, der in lauter anonymem Glück und Weh schwelgte“). – Der gängige, formelhafte Gegensatz zu ‚Weh‘ wäre ‚Wohl‘ (‚Wohl und Wehe‘). Vgl. Grimm / Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14/I/1, Sp. 30, das u.a. wiederum auf Goethe und den von Nietzsche hoch geschätzten Gottfried Keller verweist. Es geht also nicht nur um das Wohlfühlen, auch nicht nur um Freude, sondern, weder utilitaristisch noch idealistisch, um ‚tiefere‘ Lust ohne Ziel und Zweck, Lust, die alles Lebendige antreibt, Lust, die aufbauen und zerstören, die vielfältigste Formen annehmen kann bis hin zu ästhetischen, wissenschaftlichen und philosophischen (vgl. Nachlass 1873, 29[16], KSA 7.632: „Der Mensch schwimmt […] immer in einem Lustmeere.“). Vgl. Knut Ebeling, Art. Lust, in: Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch, S. 278 f., und Enrico Müller, Art. Lust, in: Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, S. 225 f. Das hier regelmäßig zitierte, in ein älteres Heft eingetragene Notat von 1888: „Lust oder Unlust – darauf reduzirt sich Alles –“ (Nachlass 1884/85, 32[22], KSA 11.418) steht allerdings in einem kritischen Kontext, unter der Überschrift „Die nihilistische Katastrophe“. Auf Lust im elementarsten Sinn zu rekurrieren, um alles Übrige von ihr abhängig zu denken, heißt alle übrigen Werte zu entwerten. – Zum Problem der englischen Übersetzung von „Lust“ vgl. Joan Stambaugh, All Joys Want Eternity, in: Nietzsche-Studien 33 (2004), S. 335-341. Mit dem üblichen „joy“ werde das deutsche „Lust“ zu stark vereindeutigt, vor allem seiner erotischen Komponente beraubt.
26 Die Formel „Die Welt ist tief –: und tiefer als je der Tag gedacht hat“ ließ Nietzsche Zarathustra schon im Kapitel Vor Sonnen-Aufgang von Za III (KSA 4.210) gebrauchen, wo es ebenfalls um die nächtliche Loslösung von der „ewige[n] Vernunft-Spinne“ des Tages geht, die Schopenhauer angebahnt hatte. Im Übrigen ist das Mitternachts-Lied eine Neuschöpfung innerhalb der episch-dramatischen Lehrdichtung.
27 De Bleeckere, Commentaar, S. 646 f., spricht zwar von „niet-pessimistisch“ und sehr viel vom Willen zur Macht, aber nicht von Schopenhauer.
28 Vgl. zur Interpretation des Aphorismus im Ganzen Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 465-495.
29 Goethe, Faust II, V. 11581–11586: „Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, du bist so schön! / Es kann die Spur von meinen Erdentagen / Nicht in Äonen untergehn. – / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick“. Folgt die Regieanweisung: „Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden.“ Zarathustras Glück, so wie es die veröffentlichte Fassung von Also sprach Zarathustra zeigt, scheint ein anderes, bewusst auf den Augenblick begrenztes zu sein, den Augenblick, in dem das Mitternachts-Lied erklingt. In die Dionysos-Dithyramben hat er es nicht aufgenommen, vielleicht weil er es ganz im Kontext von Also sprach Zarathustra belassen wollte.
30 Vgl. Nachlass 1885/86, 2[110], KSA 12.116: „Das Glück am Dasein ist nur möglich als Glück am Schein / Das Glück am Werden ist nur möglich in der Vernichtung des Wirklichen des ,Daseins‘, des schönen Anscheins, in der pessimistischen Zerstörung der Illusion. / in der Vernichtung auch des schönsten Scheins kommt das dionysische Glück auf seinen Gipfel.“
31 Voraus gingen noch prosaische Versuche. Vgl. Nachlass 1883, 18[59], KSA 10.581, und 23[4], KSA 10.637, beide verzeichnet in: Haase / Montinari, Nachbericht, KGW VI 4.530. Zu den poetischen Vorstufen s. S. 534.
32 Vgl. den berühmten Brief an seine Schwester vom 20. Mai 1885, Nr. 602, KSB 7.53: „Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den Deutschen Schopenhauern oder Wagnern anempfehle, bald Zarathustra’s ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor Allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen kann.“ Vgl. zu den Gedankenstrichen in den Aphorismen Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 175-177.
33 Nach Gadamer, Das Drama Zarathustras, S. 9, gibt das Gedicht dagegen „in metrisch ungebundener Weise den nicht sehr gewählten Reimen, in denen es gehalten ist, einen fast bänkelsängerischen Akzent“. So wenig Gehör des großen Hermeneutikers für Nietzsches Gedicht ist erstaunlich. – Bruno Hillebrand, Gesang und Abgesang deutscher Lyrik von Goethe bis Celan, Göttingen 2010, S. 252, sieht sich dagegen an Goethe erinnert: „zu reinster Lyrik verdichtet sich ein Kosmos-Entwurf von unendlicher Tragweite und entsprechender philosophischer Komplexität. Vergleichbares gab es bis dahin lyrisch nur in Goethes Gedichten.“ Im Übrigen geht es Hillebrand freilich, wie den meisten Interpreten, nur um „Nietzsches philosophische Essenz der Ewigen Wiederkehr“.
34 Vgl. zu Nietzsches bahnbrechenden philologischen Studien zur antiken Rhythmik Friederike Felicitas Günther, Rhythmus beim frühen Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 55), Berlin/New York 2008, und Christian Benne, Good cop, bad cop: Von der Wissenschaft des Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft, in: Helmut Heit / Günter Abel / Marco Brusotti (Hg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 59), Berlin/Boston 2012, S. 189-212, bes. S. 194 f. Beide, Günther und Benne, stellen Nietzsches Überlegungen zur Rhythmik freilich nur theoretisch dar, machen selbst keinen Versuch zu zeigen, wie er sie in seiner philosophischen Schriftstellerei, zu der auch seine Gedichte gehören, in die Tat umsetzt. Auch sonst ist das, soweit ich sehe, bisher nicht geschehen. Benne, der es zu Recht „für die Nietzscheforschung das Gebot der Stunde nennt“, der „Trinität aus Zeichen, Tempo und Gebärde“ (im Sinn von EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 4) nachzugehen (S. 208), überzieht wohl die These vom Genuss der Rhythmik als solcher, wenn er sie von der Semantik, die „‚Form‘“ also vom „‚Inhalt‘“ völlig ablösen will: Nietzsche gehe es darum, „die Musik eines Textes unabhängig von seinem Gehalt zu genießen“ (S. 202). Man kann bei der Lektüre eines sinnvollen Textes kaum zugunsten seiner sinnlichen „Präsenz“ (nach: Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt am Main 2004) völlig von seinem Sinn absehen.
35 Sein Lenzer Heide-Notat zum „europäische[n] Nihilismus“ vom Juni 1887 wird Nietzsche mit der Frage schließen: „Welche werden sich als die Stärksten dabei erweisen?“ und antworten: „Die Mäßigsten, die, welche keine extremen Glaubenssätze nöthig haben, […] Menschen die ihrer Macht sicher sind, und die die erreichte Kraft des Menschen mit bewußtem Stolze repräsentiren.“ Als Lehre wäre auch die ewige Wiederkunft ein Glaubenssatz. So fragt Nietzsche zuletzt: „Wie dächte ein solcher Mensch an die ewige Wiederkunft?“ (5[71]15–16, KSA 12.217)
36 Als Titel für Das andere Tanzlied hatte Nietzsche zunächst erwogen „vita femina“, für Von der grossen Sehnsucht „Ariadne“ und für Die sieben Siegel „Dionysos“. Vgl. Montinari, Kommentar, KSA 14.324, und Jörg Salaquarda, Noch einmal Ariadne. Die Rolle Cosima Wagners in Nietzsches literarischem Rollenspiel, in: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 99-125, hier S. 113.
37 Von „wollen“ und „Wille“ spricht man im Deutschen eben dann, wenn es nicht mehr um Gründe geht: Gründe sind Behauptungen, von denen man erwartet, dass andere ihnen zustimmen können. Erwartet man das nicht, steht Wille gegen Wille. Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 22 f.
38 Schon in den Jugendgedichten, so Ziemann, Die Gedichte, S. 151, geht es „immer um den einsamen Menschen, der sich mit inniger Liebe dem Tod zuwenden, der aber auch in heroischem Trotz seine einsame Höhe feiern kann.“ Die ‚Liebe‘ zur ‚Ewigkeit‘ klingt ebenfalls schon an. – In Die Geburt der Tragödie kehrt das Motiv, nun unter dem Namen des Dionysischen, wieder: „Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht [wie die apollinische, W.S.] in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus.“ (GT 17, KSA 1.109) Mit der Loslösung von Schopenhauer ging der metaphysische Trost verloren. Jochen Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 1/1, Berlin/Boston 2012, S. 325), weist an dieser Stelle seinerseits, freilich kommentarlos, auf das Nachtwandler-Lied in Za IV [!] voraus. – Auch seinen Zarathustra wollte Nietzsche lange – teils im Schmerz, teils im Glück – sterben lassen. Vgl. Nachlass 1883, 16[3], [8], [38], [42], [55], KSA 10.496, 500, 512 f., 518; 20[10], KSA 10.594 („Hinreißende Wirkung des Todes“); 21[3], KSA 10.599 f.; Nachlass 1885, 34[144] u. [145], KSA 11.468. Zuletzt gibt Nietzsche den Plan, Zarathustra sterben zu lassen, auf und lässt ihm stattdessen das Zeichen des lachenden Löwen begegnen (Nachlass 1884/85, 31[11] und [14], KSA 11.364).
39 Vgl. GT 20, KSA 1.132: „Die Tragödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwermüthigen Gesange – er erzählt von den Müttern des Seins, deren Namen lauten: Wahn, Wille, Wehe.“ Zur Verbreitung der Weisheit des Silen in der Antike s. Schmidt, Kommentar zu Nietzsches Die Geburt der Tragödie, S. 142 f., zur Heiterkeit Nietzsches angesichts dieser Weisheit s. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 25-28 und S. 95-101.
40 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 19-21.
41 Hier ist Nietzsche Spinoza am nächsten. Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 524-532.
42 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 147.