14. Die Nöte des Lebens und die Freiheit für andere Moralen. Nietzsches Moralkritik und Nietzsches Ethik
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.14
Nietzsche ist für seine Moralkritik berühmt und berüchtigt. Er stilisiert sich selbst als Immoralisten, als jemand, der auf Moral keinen Wert legt, und tut das, um die Selbstgerechtigkeit der Moralisten bloßzustellen, die ihrerseits moralisch anstößig ist. Seit Nietzsche ist es leichter möglich, nicht nur an einer bestimmten Moral, sondern an der Moral als solcher Kritik zu üben, sie der philosophischen Kritik zu unterwerfen, Kritik nicht als Tadel oder Verwerfung der Moral, sondern im Sinn Kants als Begrenzung ihres Anspruchs auf allgemeine Geltung.
Nietzsche hat seine philosophische Kritik der Moral als Frage nach dem „Werth der Moral“ (GM, Vorrede 5) formuliert und dabei vom Doppelsinn des Begriffs ,Wert‘ Gebrauch gemacht: einerseits als moralischem Wert oder Wert in sich und andererseits als ökonomischem Wert oder Wert für anderes. Mit der Frage nach dem moralischen Wert der Moral wird die Moral durch sich selbst in Frage gestellt. Sie ist, so Nietzsche, eine Frage nach der Moralität „aus Moralität“ (M, Vorrede 4). Ist die Moral, wird hier gefragt, nach ihren eigenen Maßstäben haltbar? Könnte die Moral, so gut sie zu sein scheint, nicht auch, kurz- oder langfristig, schaden? Nietzsche gibt dreierlei zu bedenken:
1. Mit ihrem Anspruch auf Allgemeinheit „verallgemeinert“ die Moral die Individuen – damit „vergemeinert“ (FW 354) sie sie aber auch, zwingt sie, sich einander anzupassen, nivelliert sie.
2. Mit ihren (vorgeblich) allgemeingültigen Werten und Normen nimmt sie den Individuen ihre eigene Verantwortung ab und lässt sie im Stolz, gerechtfertigt zu sein, selbstgerecht werden.
3. Mit ihrem Angebot der allgemeinen Selbstrechtfertigung lädt sie zur Schauspielerei, zur Unaufrichtigkeit, zur Unredlichkeit ein.
Will man aber moralischen Menschen nicht von vornherein Bequemlichkeit und Verlogenheit unterstellen, muss man fragen, warum sie einer Moral folgen oder wozu und wem die Moral dient, und tiefer noch, und so fragt Nietzsche, welcher Not die Moral entspringt und abhilft oder was sie für wen ,not-wendig‘ macht. Dies ist die ökonomische Frage nach dem Sinn der Moral für das Leben. Sie ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Moral, wenn sie Lebensnöten entspringt, könnte diese Lebensnöte gerade verbergen, und auch Moralwissenschaften und Moralphilosophien, die sich ihnen widmen, könnten noch, so Nietzsche, ihr „Werk- und Spielzeug“ sein (Za I, Von den Verächtern des Leibes) und das Verbergen nur verstärken. Denn Wissenschaften erheben wie die Moral einen Anspruch auf allgemeine Geltung, und es könnte, so Nietzsche, eben dieser Anspruch sein, der die Not erleichtert, die Not, die am Grund aller Nöte liegen könnte, die Not, im Leben alleine zu stehen, auf sich selbst angewiesen und ohnmächtig gegen Mächtigere zu sein. Für die Moral und die Wissenschaften aber gibt es keine Mächtigeren, sie bieten sich gerade an, für alle gleich einsichtig zu sein und darum auch für alle gleich zu gelten, und daher kann man mit Moral und Wissenschaft gegen die Macht antreten, die Macht bekämpfen, hat man an ihnen ein Mittel gegen seine Ohnmacht im Leben. Je mehr das gelingt, kann man die Machtverhältnisse des Lebens vergessen oder, mit Freud, verdrängen.1 Wissenschaft setzt die Freiheit der Einsicht in allgemeingültige Zusammenhänge voraus, Moral die Freiheit, sich für ein allgemein gültiges Gutes und gegen die Vorteile der eigenen Macht zu entscheiden. So kann man mit einer wissenschaftlich begründeten Moral andere nötigen, auf ihre Macht, auf Überlegenheiten jeder Art zu verzichten.
Aber warum will man das, warum will jemand das? Denn Macht wird ja auch geschätzt: immer dort, wo sie eine allgemeine Ordnung schafft und aufrechterhält, und wir alle brauchen allgemeine Ordnungen zum eigenen Leben, weil unser Leben sonst zu gefährdet, zu abenteuerlich wäre. Moral hat also nicht nur einen moralischen Wert in sich, sondern auch einen ökonomischen für das Leben, sie dient der Erhaltung schwächeren gegen stärkeres Leben. Indem sie aber schwächeres auf Kosten von stärkerem Lebens erhält, übt sie zum einen selbst Macht aus und wird sie zum andern, das war Nietzsches Sorge, auf lange Sicht das Leben im Ganzen schwächen. Der Vorteil der Moral für das Leben der Schwächeren ist ihr Nachteil für das Leben überhaupt, und darum muss das Leben, wenn es sich erhalten will, die Wirkung der Moral ihrerseits begrenzen – und tut das auch.
Dies ist in groben Zügen das Konzept der Moral und Moralkritik, das Nietzsche seit Menschliches, Allzumenschliches erarbeitet und vor allem in der Morgenröthe, der Fröhlichen Wissenschaft, in Jenseits von Gut und Böse und in Zur Genealogie der Moral vertieft und verdichtet hat. Seit einiger Zeit wird in der Nietzsche-Forschung jedoch auch mehr und mehr der anderen Seite von Nietzsches Moralkritik nachgegangen, der Moral oder Moralität, aus der heraus Nietzsche um des Lebens willen Kritik an der Moral übt. Greift man Moral von außen an, wird man schlicht für unmoralisch, zum Immoralisten erklärt, damit aus der Debatte ausgeschlossen, bleibt so wirkungslos und schadet nur sich selbst – Nietzsche hat damit gerechnet und damit gespielt. Indem er aber zeigte, dass die Moral gegen die Macht antritt, um selbst für die Ohnmächtigen Macht zu gewinnen, unterwarf er sie einer Kritik von innen und überführte sie eines Selbstwiderspruchs, dem sie sich aus moralischen Gründen stellen muss – oder müsste, denn auch auch diese Kritik kann sie natürlich als unmoralisch zurückweisen oder schlicht ignorieren. Nimmt sie die Kritik an, muss sie sich neu denken – als selbstkritische Moral, als Moral, die weiß, dass sie immer auch als Unmoral wirken kann. So wird sie dann zu einer Moral zweiter Ordnung, einer Moral im Umgang mit Moral, und diese Moral im Umgang mit Moral ist dann nicht mehr auf sich selbst fixiert, sondern kann auch andere Moralen neben sich gelten lassen.2 Sie rechnet damit, dass jeder in schwachen Situationen eine allgemeingültige Moral nötig haben kann, um Stärke zu zeigen, aber nicht jeder dieselbe Moral und nicht jeder in jeder Situation und nicht in jeder Situation im gleichen Maß. Stattdessen wird jeder nach seinen Lebensbedingungen eine (mehr oder weniger) andere Moral nötig haben, die nach ihm allgemein gelten soll, und dies macht auch den endlosen Streit der Moralphilosophen darüber verständlich, welche denn nun die allgemein gültige Moral und ihre allgemein gültige Begründung sein soll. Moral erhebt regelmäßig den Anspruch auf allgemeine Geltung, aber es sind immer Einzelne, die ihn erheben, und unter ihren unterschiedlichen Lebensbedingungen erheben sie ihn für unterschiedliche Moralen. Moral wird in der Kommunikation stets unterstellt, doch wenn sie zur Sprache kommt, ist nichts so strittig wie Moral. Mit dem Streit aber kommt wieder die Macht ins Spiel, und der Selbstwiderspruch der Moral wird offenbar. Die Moral im Umgang mit Moral, die Freiheiten gegenüber der eigenen Moral und für andere Moralen einschließt, werde ich, um einen einfachen Begriff dafür zu haben, im folgenden Ethik nennen, und Nietzsches Ethik ist eine Ethik der Freiheit für andere Moralen, sie leitet seine Moralkritik.
Ethik als Wissenschaft der Freiheit für andere Moralen, die um ihre Abhängigkeit von besonderen Lebensbedingungen und aktuellen Situationen weiß, ist, so Nietzsche, „fröhliche Wissenschaft“, eine leicht bewegliche, darum dem jeweiligen Andern gerecht werdende und so, im Sinn der „gaya scienza“ der provençalischen Troubadours, auch mutig und uneigennützig liebende ethische Orientierung.3 Fröhliche Wissenschaft ist ein programmatischer Titel. Mit dem Aphorismen-Buch, das Nietzsche so nannte, hat es zudem eine besondere Bewandtnis. Seine ersten IV Bücher erschienen 1882 nach der Morgenröthe und vor Also sprach Zarathustra – das Ende des IV. Buches (FW 342) ist auch der Anfang von Also sprach Zarathustra –, das V. Buch fügte Nietzsche fünf Jahr später, 1887, hinzu, nachdem er nacheinander die vier Teile von Also sprach Zarathustra und zu dessen „Erläuterung“ Jenseits von Gut und Böse veröffentlicht hatte und bevor er Zur Genealogie der Moral niederschrieb, die erste seiner zunehmend polemischen Schriften, die sein Spätwerk kennzeichnen und die mit Der Antichrist schließen. Das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft scheint mir Nietzsches reifstes Werk zu sein, eine abgeklärte Summe seines aufgeklärten Denkens – die berühmten ,Lehren‘ aus Also sprach Zarathustra kommen darin kaum vor. Nietzsche geht auch dort wohl vom „grösste[n] neuere[n] Ereigniss“ aus, „dass ,Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“ (FW 343, KSA 3.573), und damit vom „Nihilismus“ (FW 347), und einmal, doch eher nebenbei, verweist er auf den „Willen zur Macht“ (FW 349). Er greift jedoch nicht auf die Lehren vom „Übermenschen“ und von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ zurück. Sie scheinen für ihn, wie er in seinem berühmten Lenzer Heide-Entwurf vom 10. Juni 1887, kurz nach Abschluss des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft notierte, „extreme Glaubenssätze“ gewesen zu sein, die gerade „die Stärksten“ nicht „nöthig haben“ – das sind für ihn „die Mäßigsten“, die „die erreichte Kraft des Menschen mit bewusstem Stolze repräsentiren“ (Nachlass 1887, 5[71], KSA 12.217) .4
Bald darauf, in Zur Genealogie der Moral (II 2), wird er diesen Typus des durch seine Mäßigkeit Mächtigen „das autonome übersittliche Individuum“ oder kurz „das souveraine Individuum“ nennen, das „versprechen“ und seine Versprechen „verantworten“ kann – im Bewusstsein seiner „seltenen Freiheit“ und seiner „Macht über sich“ und ohne Berufung auf eine allgemein gültige Moral. Die Aphorismen des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, die sich meist zu kleinen Abhandlungen auswachsen, sind konsequent geordnet. Sie schlagen unter dem Vorzeichen der Fröhlichkeit den Bogen von der Not der Moral zur Freiheit der Ethik. Dabei spielen zahlreiche weitere Themen mit, die Themen der Heiterkeit und der Frömmigkeit, des Sinns von Metaphysiken und der Nöte, aus denen sie erwachsen, der Gelehrsamkeit, soweit Moralphilosophen sie nötig haben, und der Nähe von Moralphilosophen zu Religionsstiftern, die Themen des Sinns des Bewusstseins für die Kommunikation überhaupt, der Erkenntnis für das Leben, der Kunst für Europa, des Deutschen in Europa, der Kirche, der Unterscheidung von treibender und dirigierender Kraft, des Schauspielens, besonders für Juden und Frauen, die Themen des Sinns von Geschlecht und Liebe in Europa, der „Musik des Lebens“ (FW 372) als einzig befriedigender Gestalt von Sinn, des Vergessens und der „Musik des Vergessens“ (FW 367), der unvermeidlichen Unverständlichkeit unter Individuen, der Vieldeutigkeit des – immer individuellen – Daseins, des „Phänomenalismus und Perspektivismus“ (FW 354), des einzigen Titels, den Nietzsche selbst seiner Philosophie gegeben hat, der Langsamkeit des Lebens und zuletzt der „grossen Gesundheit“ (FW 382). Sie sind die Kontexte des Lebens und der Kontext von Nietzsches Moralkritik und Ethik und müssten alle hier berücksichtigt werden.5 Doch wir müssen uns hier auf die Grundlinie konzentrieren, die sich noch komplex genug darstellt. Wir können darin drei große Abschnitte unterscheiden, die unserer Thematik genau entsprechen:
14.2 Die Befreiung von der alten Moral,
14.3 Die Freiheit für andere und neue Moralen.
14.1. Die Not der Moral
Mit dem ,Tod Gottes‘, so eröffnet Nietzsche das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, verliert die Moral, die in Europa auf Gott gebaut war, ihre Selbstverständlichkeit, die „alte Welt“ wird „fremder“. Ihr steht nun eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“ bevor, deren Vorgeschmack dann in der Tat das 20. Jahrhundert gegeben hat. Zunächst aber, so Nietzsche, kommt etwas wie „Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe“ über die Erkennenden und „Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, [...] jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offnes Meer‘.“ Das historische Ereignis, „dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“ (FW 343), hat nach Nietzsche neue Bedingungen der Moralkritik und des Erkennens überhaupt geschaffen. Gott war der ewige Gott, und mit ihm hat die Ewigkeit, die Zeitlosigkeit nun ihre Zeit gehabt. Die Erkenntnis, die schon Hegel ausgesprochen hatte, dass alle Erkenntnis ihre Zeit hat, ist nun, vor allem nach Darwins Evolutionstheorie, unabweisbar geworden. Für Nietzsche ist, bei aller Kritik am Darwinismus im Einzelnen,6 selbstverständlich, dass alles Leben und mit ihm auch alle Erkenntnis an Zeitumstände, an wechselnde Lebensbedingungen gebunden und damit perspektivisch ist, und das macht alles Pochen auf Zeitlosigkeit unglaubwürdig. Man kann nun fragen und fragt auch, wie es zum Glauben an den Gott gekommen ist, der nun unglaubwürdig geworden ist, welches die damaligen Lebensbedingungen waren und worin sie sich inzwischen geändert haben. Moral wirkt als Nötigung, gegen die eigenen Interessen unter den eigenen Lebensbedingungen oder, wie Kant sagte, gegen seine Neigungen zu handeln, z.B., wie die alten Gebote besagten, nicht zu lügen, zu stehlen oder die Ehe zu brechen, wenn man davon einen Vorteil hätte oder einem ,einfach danach ist‘; das Evangelium hält in einer weiteren Steigerung dazu an, selbstlos für andere einzustehen, Unrecht gegen sich selbst hin- und auf sich zu nehmen und seine Feinde zu lieben. Moral wirkt als Nötigung aber nur dann, wenn ihre Autorität außer Zweifel steht, für das Christentum also durch den Glauben an Gott und seinen Sohn, der für sein Evangelium gestorben ist. Beider Botschaft aber wurde als ewig, als zeitlos gedacht, und wenn nun nach ihrer Herkunft gefragt wird und damit auch nach der Herkunft der Moral, die auf sie baut, bricht ihre Autorität ein. Autorität besteht eben darin, dass nicht nach ihrer Herkunft, nicht der Zeit gefragt wird, die sie bedingt hat – eine Autorität auf Zeit ist keine Autorität.
Nun aber ist Gott nicht einfach tot – der ,Tod Gottes‘ ist nicht einfach eine Wahrheit, und Nietzsche setzt sie Anführungszeichen. Er ist der Tod eines Glaubens, und auch dieser Tod kann seinerseits nicht mehr als ein Glaube sein. Der Glaube ist also nicht gestorben. Nietzsche ist das sehr bewusst, und er zieht daraus eine starke Folgerung. Danach glaubt auch die Aufklärung noch, die Aufklärung, die an die Stelle der Wahrheit des Glaubens die Wahrheit der Wissenschaft gesetzt hat und aus ihr heraus den Tod Gottes behauptet, noch an die Wahrheit, und auch dieser Glaube verdankte sich seiner Zeit und könnte nun ebenfalls seine Zeit gehabt haben – „und hiermit“, so Nietzsche, „sind wir auf dem Boden der Moral.“ Denn warum, fragt er, will man Wahrheit, warum will man an die Wahrheit glauben? Auch Wahrheit, das ,es ist so‘, soll zeitlos sein, was wahr ist, soll jetzt und immer wahr sein, die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit der Wissenschaft teilen den Glauben an die Zeitlosigkeit. Wer aber zeitlose Wahrheit will und an sie glaubt, „bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte“, eine andere als „unsre Welt“, in der es keine zeitlose Wahrheit gibt (FW 344). So ist die Not, die nicht nur zur Moral und Religion, sondern auch zum Glauben an die Wahrheit nötigt, zuletzt die Zeit, in der alles anders werden kann. Sie nötigt, von der Zeit los- und zu zeitlos Gültigem zu kommen, und damit nötigt sie die Individuen, gegen ihre Interessen oder Neigungen zu handeln, sofern diese Interessen und Neigungen bei jedem und zu jeder Zeit andere sein können. Moral als Grund ebenso von Religion und Wissenschaft nötigt die Individuen, sich allgemein und zeitlos zu machen, sich zu entindividualisieren.
In diesem Sinn wurde die Moral, so Nietzsche, noch nie ernsthaft zum Problem gemacht, keine „Kritik“ der Moral habe ihren Sinn und Wert für das Leben überhaupt in Frage gestellt. Moral, heißt das, hatte bisher eine so große Autorität, dass auch die Aufklärung sich nicht an sie heranwagte. Man wollte die Moral und setzte darum ihre Notwendigkeit immer schon voraus, und bis heute geht der Streit nur darum, worin ihr Wesen zu sehen und wie es am besten zu begründen sei – alles Denken stand und steht sichtlich schon unter dem Bann der Moral und kann sich so gar nicht gegen sie wenden. Um sich gegen die Not, die zur Moral nötigt, wenden zu können, muss man, so Nietzsche, selbst in einer „Noth“ sein, der Not, so unter ihren Auswirkungen zu leiden, dass man wiederum genötigt ist, sie in Frage zu stellen. Es war, wie er schreibt, „seine persönliche Noth“, die Moral zum Problem machen zu müssen, und er fand darin seine „Qual“, aber auch seine „Wollust“ und „Leidenschaft“. Er stellte das Problem der Moral also nicht wieder (und damit selbstwidersprüchlich) als allgemeines, sondern als sein eigenes, und er bietet auch keine allgemeine gültige Lösung, sondern nur seine Lösung an, die wiederum nur verstehen kann, wer seine Nöte teilt oder zu teilen bereit ist (FW 345). Nietzsche fügt gleich hinzu: „Man wird Mühe haben, uns zu verstehn.“ (FW 346)
Die meisten Menschen werden sich darauf nicht einlassen und nicht einlassen können, weil sie zur meisten Zeit ein „Bedürfniss nach Glauben“ haben (FW 347), und weil sie es haben, haben die meisten „im alten Europa“ auch heute noch sei es das Christentum, sei es eine Metaphysik „nöthig“. In beidem lebt ein „Verlangen“ fort, „durchaus etwas fest haben zu wollen“, ein „Verlangen nach Halt, Stütze, [das] Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber – conservirt.“ Fähig zur Kritik der Moral sind nur die, die dieses Verlangen nicht oder doch weniger und seltener haben, die weniger Autoritäten brauchen, weil sie selbst für sich Autoritäten sind. Nietzsche sagt nicht, dass es so jemanden gibt. Er sagt nur, es
wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence. (FW347)
Die „Nothlage“ ist für Nietzsche jedoch nicht der Grundzug des Lebens; so wie das Leben sich zeigt in seiner ganzen Üppigkeit als pflanzliches und tierisches Leben, ist es vielmehr „der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in’s Unsinnige“ (FW 349). Es sind Nöte des menschlichen Lebens, die zur Moral und – jedenfalls Nietzsche – auch zur Kritik der Moral nötigen. Die Moral, auf die die Europäer so stolz sind, dass sie glauben, sie über die ganze Welt verbreiten zu müssen, muss danach menschlich-allzumenschliche Ursprünge haben, muss „Ausdruck einer Nothlage“ sein, in der sie „sich selbst erhalten“ mussten (FW 349), und dabei könnte sich die Moral erhalten, die Notlage aber längst verändert haben. Um zu erschließen, worin jene Notlage damals bestand, hat Nietzsche dann seine Genealogie der Moral verfasst, in der er historisch den griechischen und den jüdisch-christlichen und systematisch den ökonomischen und psychologischen Ursprüngen der europäischen Moral nachging, ihren Spannungen untereinander und den Verwerfungen, die sich daraus ergaben, und den weiteren Entwicklungen unter wechselnden Bedingungen. Die Grundunterscheidung hatte er jedoch schon in Jenseits von Gut und Böse (JGB 257 ff.) und im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft (FW 370) entwickelt: die einer „vornehmen Werthungsweise“, die aus der „Ueberfülle des Lebens“, und einer „unvornehmen“, die aus der „Verarmung des Lebens“ kommt (FW 370), und sie provozierend auf die Unterscheidung von „Herren- und Sklavenmoral“ zugespitzt. „Vornehm“ ist für ihn jenseits aller gesellschaftlichen Stände ein ethischer Begriff und bedeutet, so wie wir den Ausdruck heute noch gebrauchen, auf Vergeltung und damit auf Gegenseitigkeit verzichten zu können, anderen Gutes tun zu können, ohne Gleiches von ihnen zu erwarten. Dies aber ist nur aus einer „Ueberfülle des Lebens“, nicht in seiner „Verarmung“ möglich; je mehr jemand in Not ist und unter ihr leidet, desto schwerer wird es ihm, sich als vornehm zu erweisen. Durchgesetzt habe sich in Europa aber die unvornehme Wertungsweise, das Bestehen auf Gleichheit und Gegenseitigkeit, also einer für alle und für alle Zeit gleich gültigen Moral, und das Ergebnis dieser „Umwerthung“ seien die „modernen Ideen“ – in einer Liste, die Nietzsche sich 1888 anlegte, nennt er u.a. „Freiheit“, Gleichheit der Rechte, „Menschlichkeit“, „das Volk“, „die Rasse“, „die Nation“, „Demokratie, „Toleranz“, „das milieu“, „Weiber-Emancipation“, „Volks-Bildung“, „Fortschritt“, „Sociologie“ (Nachlass 1888, 16[82], KSA 13.514). Diese Ideen aber seien „falsch“, sofern sie neue Entwicklungen des Lebens nachhaltig beschränkten, und um so falscher, je leichter das Leben in Europa inzwischen mit Hilfe seiner modernen Technik und Medizin geworden sei. Mit ihnen könnte eine neue Zeit gekommen sein, in der nicht nur für wenige die alte „Moral-Interpretation“ nicht mehr „so nöthig“ sei (Nachlass 1887, 5[71], KSA 12.212), eine Zeit, in der man von der ängstlichen und neidvollen Gleichheits- und Gegenseitigkeits-Moral Abschied nehmen könne. Eine Moral, die im eigenen Interesse Gleichheit und Gegenseitigkeit einfordert, ist nach Nietzsche ein Armutszeugnis. Bisher aber sei sie den Europäern „kaum entbehrlich“ gewesen: sie hätten die „Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung“ wie eine „Maskerade“, wie eine „Verkleidung“ gebraucht, die ihre unschöne Nacktheit verberge (FW 352). Und es sei nicht Stärke, sondern Schwäche, die sich da verkleidet:
Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers findet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer auf – gestehen wir es ein! – in’s Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in’s ,Göttliche‘ – (FW 352)
Die Tendenz zur „verallgemeinerten“, „vergemeinerten“ Wertungsweise hat jedoch tiefe, über die historischen hinausreichende Gründe. Sie liegen, wie Nietzsche im herausragenden Aphorismus Nr. 354 zeigt, im Bewusstsein selbst. Das Bewusstsein, vermutet er dort, sei mit dem Mitteilungsbedürfnis entstanden und gewachsen – bewusst wird, was anderen unter dem Risiko des Missverstehens mitgeteilt wird. Das Mitteilungsbedürfnis aber dient der „Gattung“ und damit der „Heerden-Perspektive“, alle „Mitteilungszeichen“ sind für sie erfunden und tradiert. Das aber bedeutet, dass nur das der gegenseitigen Verständigung Dienende, nicht das individuell Erlebte und Erfahrene bewusst und mitteilbar ist: Das Bewusstsein ist „nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt“, und so wird
folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ,sich selbst zu kennen‘, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen [...], sein ,Durchschnittliches‘, [...] unser Gedanke selbst [wird] fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins – durch den in ihm gebietenden ,Genius der Gattung‘ – gleichsam majorisirt und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt (FW 354).
Danach ist alles Bewusstsein durch und durch im Sinn von Gleichheit und Gegenseitigkeit moralisiert. Im folgenden Aphorismus Nr. 355 fügt Nietzsche an, dass auch alle Erkenntnis dem Prinzip der Ängstlichkeit folgt, sofern sie nämlich alles beunruhigend Fremde auf beruhigend Bekanntes zurückzuführen sucht. Beides macht Philosophen, die sich den Nöten der Menschen entziehen, um sich dem reinen Denken zu ergeben, anfällig für die Gleichheits- und Gegenseitigkeits-Moral. Sie wird zu ihrem „Versteck“, einem Versteck vor dem „Geist“ der Lebendigkeit des Lebens und seiner immer neuen Möglichkeiten (FW 359).
14.2. Befreiung von der alten Moral
Aber mit dem ,Tod Gottes‘ haben sich auch neue Möglichkeiten des Philosophierens eröffnet und umgekehrt: neue Möglichkeiten des Philosophierens haben den ,Tod Gottes‘ herbeigeführt. Die „christliche Moralität“, so Nietzsche im Aphorismus Nr. 357 (am Ende von Zur Genealogie der Moral wird er den Passus wieder zitieren), hat sich selbst aufgehoben, indem sich „der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt [hat] zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis“, und eben darin lag „Europa’s längste und tapferste Selbstüberwindung“. Die Moral aus christlichem Ursprung nötigt sich selbst zur Selbstkritik, sie kann nicht bei der Verallgemeinerungs- und Vergemeinerungs-Moral bleiben oder wird nicht bei ihr bleiben können. Doch es werden zunächst wieder nur Wenige und Einzelne sein, die sich dem stellen und umso eher stellen können, je mehr sie, wie Nietzsche, der Pastorensohn, selbst von der christlichen Moralität imprägniert wurden. Nietzsche setzt auf „Einsiedler“, „Zyniker“, „Heimatlose“ und „Wanderer“ (all das war er auch selbst), die sich von sich aus Gemeinschaften entzogen haben, die auf Gegenseitigkeit verpflichten, und bietet ihnen so etwas wie einen fröhlichen Grundkurs an, schwer verdauliche Mitmenschen ertragen zu lernen. Es sind Praktiken der Selbstüberwindung, die er empfiehlt, und sie gehen bis zum Übermütigen: unwillkürliche Abneigungen „hinunterstopfen“, Mitmenschen so loben, dass sie ihr „Glück über sich selbst auszuschwitzen“ beginnen, und eine so lange „Selbsthypnotisierung“, dass sie zur „Geduld“ wird (FW 364). Solche Fügungen ins Unvermeidliche aber sollen, was sie ohnehin sind, Maskeraden bleiben, durch die man sein Anderes, Eigenes, Individuelles schützen könne, durch die man zum „Gespenst“ werde: „man greift nach uns und bekommt uns nicht zu fassen“ (FW 365). Der „Zyniker“ empfiehlt, statt auf moralische Nötigungen auf seinen Leib zu hören, ob er – das Beispiel ist hier die Wagnersche Musik – leicht mitgeht oder „revoltiert“ (FW 368). Im Ganzen verhalte man sich am besten wie Künstler, die, notgedrungen, „auf eine wunderliche Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachsthum für sich haben, – ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung, Reif, Mürbe, Faul“ (FW 369). Und soweit die Kunst, wie die Wagners, ihrerseits eine Metaphysik braucht, könne man sich „vielleicht mit Rubens“ an die „dithyrambische“, mit Hafis an die „selig-spöttische“, mit Goethe an die „helle und gütige“ und mit Homer an die „Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitende“ Kunst halten (FW 370). Man solle nicht darüber klagen, „missverstanden, verkannt, verwechselt, verleumdet, verhört und überhört zu werden“, sondern dies vorerst als „Auszeichnung“ verstehen, solange man selbst noch „fortwährend wechselt“ und „alte Rinden abstößt“ (FW 371). Es befreie, nicht „idealistisch“ über die „Musik des Lebens“ hinwegzuhören, die sich jenseits der „Mitteilungszeichen“ auftut, die der Vergemeinschaftung dienen (FW 372), den „vieldeutigen“ und „perspektivischen Charakter des Daseins“ anzunehmen, sich vor rechenhaften „Welt-Interpretationen“ in Acht zu nehmen und sich stattdessen auf „unendliche Interpretationen“ einzulassen (FW 373 und 374). So seien schon die Epikureer „gegen letzte Überzeugungen“ vorsichtig geblieben, hätten „den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen“, sich den „Widerwillen gegen die grossen Moral-Worte und -Gebärden“ bewahrt (FW 375). Wie Künstler müsse man auf jedes Gelingen hin bereit und reif zum Tod sein (FW 376).
Solche in der Moral „Heimatlosen“ sind, so Nietzsche, die „Kinder der Zukunft“, weil sie „sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit noch heimisch fühlen“ und sie darum gestärkt überstehen können. Wer nicht in Ordnungen beheimatet ist, wird erst recht abgeneigt sein, „dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden“, und am ehesten fähig sein, „über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen“ nachzudenken, auch unerhörter, „auch einer neuen Sklaverei“ für die, die ohne die Garantie fester Ordnungen, ohne Rundumversicherungen nicht leben wollen und können (Rundumversicherungen verlangen versklavende Rundumverwaltungen). Solche Heimatlose wären, so Nietzsche,
gute Europäer, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. (FW 377)
Es sind Menschen, die die eigene Moral und Ordnung um anderer Moralen und Ordnungen willen zurückstellen können, ohne Erwartung von Gegenseitigkeit.
14.3. Die Freiheit für andere und neue Moralen
Sie müssen jedoch „Freigebige und Reiche des Geistes“ sein (FW 378). Das „Geben“ und „Schenken“, das anderen Freiheit zu eigenem „Schaffen“ gibt, ist auch das große Thema von Also sprach Zarathustra (alle übrigen Themen sind ihm zugeordnet), und die Freiheit zu geben, anderen Spielräume eigener Freiheit zu geben, ist der Sinn, den Nietzsche der Freiheit gibt. Gabe in diesem Sinn, als Gabe ohne Erwartung einer Gegengabe, ohne Gegenseitigkeit, ist die vornehmste Tugend in Nietzsches Ethik. Sie hat zwei Voraussetzungen: auf der einen Seite den Reichtum des Geistes, den Überfluss an Möglichkeiten, Anderen gerecht zu werden, auf der anderen Seite Menschen, die solchen Reichtum abnehmen und mit ihm etwas anfangen können und die darin ihrerseits Gebende sind oder zu sein beginnen. Zarathustra findet solche Menschen nicht bei seinem Gang unter die Menschen, seinem „Untergang“. Nietzsche lässt auch ihn leiden, an seinem Mitleid mit den Menschen, die ihm seine Gabe nicht abnehmen können, weil selbst die „höheren Menschen“ von der alten Moral nicht loskommen. Gäbe es Menschen, die seine Gabe anzunehmen verstünden, entstünde eine neue Gleichheit und Gegenseitigkeit, unter Menschen, die einander die Freiheit geben – zu geben. Aber Zarathustra bleibt in Nietzsches Dichtung einsam.
Im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft bringt er die Gabe des Geben-Könnens in das Bild eines „offnen Brunnens an der Strasse“, aus dem jeder schöpfen und in den jeder seinen „Unrath“ hineinwerfen kann und der doch nie leer und immer „wieder hell“ wird, sein Wasser mit unendlicher Geduld erneuert (FW 378).7 Dann lässt er einen „Narren“ einwenden, dass mit dieser „Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit“ wohl auf den Hass gegen die Menschen, nicht aber „aufs Verachten Verzicht“ geleistet wird, das „feine Verachten“, das die Distanz unter den Individuen wahrt, ohne sie gegen sie zu kehren. Und auch in dieser Verachtung soll man „Künstler“ sein, sie virtuos beherrschen – und mit ihr allein stehn. Dieser Narr scheint weise, weise, wie Nietzsche ihn sich wünscht, so weise, dass er seine Weisheit als Narrheit vorbringt, um jedem die Freiheit zu lassen, zu anzunehmen oder nicht (FW 379).
Und bevor Nietzsche dann noch einmal bekräftigt, dass er „nicht nur verstanden werden“ will, „sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden“, nämlich von denen, für die diese Weisheit zu gefährlich ist, deren „Geschmack [nicht] auf Unabhängigkeit gerichtet [ist], auf schnelles Kommen und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind“ (FW 381), und von seiner „grossen Gesundheit“ spricht, die ihn selbst fähig machte, auch die schwersten Anfechtungen auszuhalten (FW 382), lässt er den „Wanderer“, seinen Wanderer aus Menschliches, Allzumenschliches den Bogen von seiner Moralkritik zu seiner Ethik schließen. Dieser Bogen führt, lässt er ihn sagen, über „unsre europäische Moralität“ hinaus, um ihrer „einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden Moralitäten zu messen“, hin zu einem „Jenseits von unsrem Gut und Böse“, von dem aus auch noch die eigenen „,Gedanken über moralische Vorurtheile‘“ – das war der Untertitel der Morgenröthe – auch noch als „Vorurtheile über Vorurtheile“ sichtbar werden können. Aber „dorthinaus, dorthinauf will“ niemand gehen, der Weg ist zu beschwerlich und gefährlich, man geht ihn nur, wenn man muss, wenn einen die Not dazu treibt (FW 380). So bleibt es zuletzt bei einer Not. Aber dies ist nun die Not, aus der eine neue Freiheit kommt, die Freiheit für andere, neue Moralen.
1 Schon Nietzsche spricht in einem späten Notat 1888/89 (14[216], KSA 13.392) von einer „Verdrängung“ „aus dem Bewußtsein“.
2 Vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2007, Kap. 15 und 16.
3 Zur Herkunft der „fröhlichen Wissenschaft“ oder „gaya scienza“ (vgl. FW 377) von den Troubadours vgl. Tilman Borsche, Vom romantischen Traum einer fröhlichen Wissenschaft. Nostradamus, Nietzsche und die Inquisition, in: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 175-199, und: Fröhliche Wissenschaft freier Geister – eine Philosophie der Zukunft?, in: Mihailo Djurić (Hg.), Nietzsches Begriff der Philosophie, Würzburg 1990, S. 53-72.
4 [Vgl. den Beitrag Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in diesem Band.]
5 [Vgl. jetzt Werner Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin/Boston 2012. S. dort auch weitere Literatur.]
6 [Vgl. den Beitrag Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution in diesem Band.]
7 [Vgl. den Beitrag Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches in diesem Band.]