16. Nietzsche, die Juden und Europa
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.16
Die Juden und Europa sind für Nietzsche ein Thema. Sie sind es in zweifacher Hinsicht: einerseits, sofern aus dem Judentum das Christentum und aus dem Christentum das christliche Europa hervorgegangen war,1 und andererseits, sofern jetzt, nachdem das christliche Europa an sich verzweifelte, es wiederum die Juden sein würden, die ein neues, besseres Europa hervorbringen könnten.2 Im Blick auf die Vergangenheit griff Nietzsche zugleich mit dem Christentum auch „die Juden“ scharf an, und dies trug dazu bei, dass er – fälschlich – für einen Antisemiten gelten konnte.3 Doch er griff die Juden nur an, um das Christentum zu treffen, und auch das Christentum nur, um die verfestigte Selbstgerechtigkeit der Moral aufzubrechen, die sich in seinem Namen in Europa ausgebildet hatte. Im Blick auf seine Gegenwart, die erhitzten Nationalismen und kämpferischen Sozialismen im Europa des 19. Jahrhunderts, zeichnete er die Juden dagegen vor allen andern Völkern aus, eben weil sie keinen Nationalismus brauchten, um ein Volk zu sein,4 und keinen Sozialismus, um Gerechtigkeit zu lernen. Dies machte ihn zu einem erklärten „Anti-Antisemiten“.5
Im Blick auf die Zukunft Europas im 20. und 21. Jahrhundert schienen ihm (schon damals) alle Nationalismen und Sozialismen „klein“ gedacht, in allzu engen moralischen Horizonten, die gute, zukunftsfähige Politik nicht zuließen. Erst wenn beide überwunden sein würden, waren für Nietzsche neue politische Horizonte zu gewinnen, Horizonte einer „großen“ Politik eines „guten“ Europa.6 Die Juden aber hatten früh gelernt, lernen müssen, in solchen Horizonten zu denken, dank der Lebensbedingungen, die ihnen in der europäischen Geschichte aufgezwungen worden waren. Nietzsche zog daraus die Folgerung, dass das zu Kriegen und Revolutionen aufgelegte Europa seiner Zeit am ehesten zu einem „guten“ Europa werden könnte, wenn es sich, statt die Juden auszugrenzen, auf sie einließ.
Die Juden, von denen er dabei sprach, waren wiederum die europäischen, genauer: die mittel- und westeuropäischen, nicht die orientalischen, aber auch nicht die osteuropäischen Juden, die im Einflussbereich Russlands lebten. Die mittel- und westeuropäischen Juden hatten sich nach der Emanzipation um die Wende zum 19. Jahrhundert weitgehend an die modernen europäischen Gesellschaften assimiliert und sich in vielen Bereichen an ihre Spitze gesetzt. In Russland hatte man im Zuge der Teilungen Polens den Juden am Ende des 18. Jahrhunderts einen „Ansiedlungsrayon“ ausgewiesen, der von Litauen und Kurland im Norden über den russisch okkupierten Teil Polens, Weißrussland und die Ukraine bis zum Schwarzen Meer im Süden reichte und in dem sich die spezifisch jüdische Kultur des „Schtetl“ entwickelte.7 Von den osteuropäischen Juden, die ebenfalls aus den Ghettos herauszudrängen begannen, ging schon Ende der 80er Jahre, als Nietzsche noch kaum bekannt war, ein erster Nietzscheanismus, der „Jüdische Nietzscheanismus“ aus.8 Nietzsche selbst erfuhr davon nichts mehr. Jedoch war für ihn Russland, „jenes ungeheure Zwischenreich, wo Europa gleichsam nach Asien zurückfliesst“ (JGB 208), die stärkste Herausforderung Europas. Wenn es am ehesten die Juden waren, durch die Europa sich erneuern konnte, so war es vor allem Russland, das es dazu zwang.9
16.1. Die Identität Europas oder:
Europa und seine „christliche Moral-Hypothese“
Man kann in Europa eine territoriale, eine ökonomische, eine politische und eine kulturelle Einheit sehen. Für Nietzsche war es all dies nicht. Als Kontinent war Europa nur ein „vorgeschobenes Halbinselchen“ Asiens (JGB 52),10 seine ökonomische und politische Einheit war nicht in Sicht, deren Notwendigkeit noch nicht einmal erkannt, und die Kultur Europas war für ihn noch keine, die den Namen verdiente. Und doch war Europa Europa. Es war für ihn durch etwas anderes, kaum Greifbares, aber um so stärker Zwingendes bestimmt, durch eine Moral, „eine Summe von kommandirenden Werthurteilen [...], welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind.“ (FW 380) Was in Fleisch und Blut übergegangen ist, bestimmt das Denken und Handeln so sehr, dass es nicht mehr wahrgenommen wird. Es sei denn, es versagt. Im 19. Jahrhundert hatte die Moral Europas zu versagen begonnen: ihr Nihilismus, so Nietzsche, wurde offenkundig. Am Rand Europas, in Russland, war man darauf zuerst und am stärksten aufmerksam geworden, und von dort übernahm Nietzsche auch den Begriff des Nihilismus.11 Dort wollte man den Nihilismus jedoch gerade durch eine Erneuerung des Christentums, also religiös überwinden.12 Nietzsche versuchte den „europäischen Nihilismus“ stattdessen philosophisch aufzuklären und fand, dass die Moral Europas von Anfang an nihilistisch gewesen war – seit es sich als christliches Europa formiert hatte.13
Europa wurde danach zu Europa durch die „christliche Moral-Hypothese“. Sie gab, so Nietzsche, dem Einzelnen einen „absoluten Werth“ (vor Gott) und dem „Leid und Übel“ in der Welt „Sinn“ (durch das Leiden Gottes am Kreuz), und die Philosophie, die ihr diente, sicherte für das „Wissen um absolute Werthe beim Menschen“ „adäquate Erkenntniß“ zu. Durch diese dreifache Sinngebung habe die „christliche Moral-Hypothese“ damals die Gefahr des „Nihilismus“ bannen können, die bedrohliche Einsicht, dass es mit dem immer ungewissen und so oft leidvollen Leben, seiner „Kleinheit und Zufälligkeit im Strom des Werdens und Vergehens“ nichts ist, nichts auf sich hat. Die „christliche Moral-Hypothese“ machte, so Nietzsche, diesen Nihilismus erträglich, sie war, mit einem Wort, „das große Gegenmittel“ gegen das Leiden, und sie war es, indem sie dem Leiden selbst einen „absoluten“ Wert zusprach, einen Wert, der nun durch keine Erfahrung mehr anzufechten war (LHN 1). Nach Nietzsches Vermutung machten also nicht so sehr bestimmte Werte Europa zu Europa, sondern die Absolutsetzung von Werten, die sich in einem einzigen Wert konzentrierten, dem Leiden des Einzelnen und der Sinngebung dieses Leidens. Europa hätte sich danach um den Gedanken versammelt, dem Einzelnen sein Leiden unter den Zufällen des Lebens erträglich zu machen, indem es ihn auf ein Absolutes, allen Zufällen Enthobenes, Unbedingtes blicken ließ, auf das er sein Handeln ausrichten sollte. Dieses Absolute, Unbedingte war eine „Hypothese“ und als grundsätzlich nicht überprüfbare eine „metaphysische“ Hypothese. In ihr fanden sich – darin ist sich Nietzsche mit vielen früheren Interpreten, darunter Hegel, einig – das Judentum und das Griechentum zusammen, das Judentum mit seinem Gedanken eines einzigen jenseitigen Gottes und die griechische Philosophie mit ihrem Gedanken einer ebenfalls jenseitigen, sonnengleichen, alles erhellenden und in sich seligen Vernunft. Zusammen ergab das, so Nietzsche, den „Platonismus für’s ,Volk’“, das Christentum (JGB, Vorrede). Das Christentum vereinigte in seiner Sicht so das Judentum des Orients mit dem Griechentum des Okzidents zu einer auf Jahrtausende wirksamen „moralischen Ontologie“ (Nachlass 1886/87, 7[4], KSA 12.265). Das Verlangen eines kleinen jüdischen für alles Leiden auf’s äußerste empfindlichen „Berg-, See- und Wiesenpredigers“ (AC 31) nach „Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz“ (AC 29), nach „Liebe als einziger, als letzter Lebensmöglichkeit“ (AC 30) des Leidenden, wurde mit Hilfe der griechischen Philosophie, die er, dieser Jesus von Nazareth, nicht kannte und die ihrerseits an derartiges nicht gedacht hatte, nach und nach mit einer so weit- und tiefgreifenden philosophischen Begründung ausgestattet, dass es die Gestalt einer metaphysischen Moral-Hypothese annehmen konnte, die unabhängig von allen besonderen Erfahrungen unbedingt und universal gelten sollte. Es wurde „gut“ und „wahr“. Wenn das Gute aber zugleich das Wahre und das Wahre das Gute ist, werden beide unanfechtbar, gegen alle Kritik immun. So konnte die metaphysisch-christliche Moral zum „herrschenden Gedanken“ Europas werden (Za I, Vom Wege des Schaffenden). Europa war schließlich so vollkommen von der Universalität seines Guten und Wahren überzeugt, dass es sich in der Folge moralisch berechtigt und verpflichtet glaubte, auch all die, die noch nicht fähig oder bereit waren, sich ihm anzuschließen, von ihm zu überzeugen oder, wenn sie sich nicht überzeugen ließen, mit Gewalt zu unterwerfen.
Wenn Nietzsche die europäisch-christliche Moral eine „Hypothese“ nannte, stellte er sie damit in Frage. Im modernen, wissenschaftlichen Sinn lässt eine Hypothese immer auch andere Hypothesen zu. Eine Moral aber, die vollkommen von sich überzeugt ist, duldet keine andere neben sich. Sie akzeptiert nicht, eine bloße Hypothese zu sein, und greift jeden, der sie so nennt, als unmoralisch an. Nietzsche gestand der europäisch-christlichen Moral das zu und stellte es in Rechnung. Er sah, dass eine absolute Moral durch nichts anderes als durch sie selbst in Frage gestellt werden kann. Die europäisch-christliche Moral aber war so angelegt, dass sie mit der Zeit nicht umhin konnte, eben das zu tun.
Sie konnte nicht umhin, sich in Frage zu stellen, weil sie den Anspruch auf „Wahrheit“ erhob. Denn dieser Anspruch auf Wahrheit schloss den Anspruch auf deren Überprüfbarkeit ein. Mit der philosophischen Vernunft war auch die philosophische Kritik Teil der europäischen Moral geworden.14 Im christlichen Kontext sprach diese Kritik als Gewissen, und aus dem Gewissen konnte im modernen wissenschaftlichen Kontext wiederum, so verwoben sich nach Nietzsche die Fäden, die Gewissenhaftigkeit werden, mit der nun die „extreme Hypothese“ „,Gott‘“ (LHN 3) in Frage gestellt wurde:
Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. (FW 357)15
Nietzsche spricht von der „Selbstaufhebung“ der griechisch-christlichen Moral,16 von „Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ (FW 357, GM III 27). Sie müsste dazu führen, dass über Moral und Wahrheit nun anders gedacht werden kann, als es bisher möglich und erlaubt war, dass das europäische Denken sich dafür öffnet, dass es jenseits seines eigenen Gut und Böse andere Moralen mit ihrem Gut und Böse geben konnte, die ihm selbst fremd geblieben waren und über die es darum auch nicht zu richten befugt war. Öffnete es sich dafür, würde es, so Nietzsches These, erst zu einem „guten Europa“ werden, einem Europa, das über seine eigene Moral hinausdenken und andere Moralen gelten lassen kann. Auch vom künftigen Europa hat Nietzsche also einen moralischen Begriff, den Begriff einer Moralität, die sich selbst zur Disposition stellen kann.
Es gab für Nietzsche Anzeichen dafür, dass es „nunmehr vorbei“ war, mit gutem Gewissen auf der Wahrheit der eigenen Moral zu bestehen; dies hatte nun, zumindest bei „allen feineren Gewissen“, „das Gewissen gegen sich“. „Feinere Gewissen“ sind solche, die fähig sind, auch gegenüber ihrem eigenen Gewissen gewissenhaft, auch gegenüber ihrer eigenen „Wahrheit“ wahrhaftig zu sein, und „mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ (FW 357, GM III 27).
Vorerst jedoch war es noch ein gewagtes „Abenteuer“ weniger Einzelner, so zu denken. Im Ganzen konnte so schnell nicht umgedacht werden. Nietzsche erwartete zunächst katastrophale Folgen der Umorientierung. Mit der „Selbstaufhebung“ des absoluten Anspruchs der Moral, durch den in Europa die Gefahr des Nihilismus gebannt worden war, musste auch der Nihilismus zurückkehren, und nun in einer neuen, bedrohlicheren Gestalt. Die scheinbar absolute, wahre Moral war nun als eine nur bedingt gültige zu erkennen, als bloße „Interpretation“, die bestimmten Menschen von bestimmter Art unter bestimmten Bedingungen zu leben half. An eine Interpretation aber kann man nicht glauben, und wenn nun die Wahrheit selbst eine Interpretation ist, kann sie auch nicht mehr durch eine andere Wahrheit ersetzt werden; denn auch sie wäre dann eine bloße Interpretation. So war man durch die Enttäuschung über die „Wahrheit“ als solche, die dem Dasein und seinen Übeln „Sinn“ geben sollte, „überhaupt gegen einen ,Sinn‘ im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden“. Das Ergebnis war, dass nun „alles umsonst“ schien:
Eine Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei. (LHN 4)
Europa konnte nur ein „gutes Europa“ werden, wenn es sich seinem neuen Nihilismus tapfer stellte – den es selbst aus der Moral hervorgebracht hatte, die ihn ursprünglich bannen sollte. Nietzsche wollte darauf aufmerksam machen, zeigen, dass die scheinbar absolute Wahrheit der europäischen Moral eine Interpretation im Lebensinteresse der Europäer war. Er tat dies nicht, indem er die alte Wahrheit zu widerlegen versuchte – eine absolute Wahrheit lässt sich nicht widerlegen –, sondern indem er seinerseits Gegen-Interpretationen zu ihr entwarf. Solche Gegen-Interpretationen sind seine späten „Streitschriften“, vor allem Zur Genealogie der Moral und Der Antichrist.17
Dort nun schreibt er „den Juden“ die Kraft zu einer „radikalen Umwerthung“ von Werten zu, der Werte ihrer „Feinde und Überwältiger“, der Römer, die mit aristokratischen Tugenden und militärischer Stärke die Herrschaft über ein Weltreich errichtet hatten. Er entwirft eine welthistorische Intrige: das kleine Volk, das, von einem machtvollen Gott geführt, sich sein heiliges Land erorbert und dort große Könige erlebt hatte, dann, nach innerem Zwist, von den Babyloniern unterworfen und ins Exil getrieben worden war, hier nur noch durch seine Religion ein Volk bleiben konnte, so schließlich ganz auf seine Priester hörte und zum „priesterlichen Volk“ wurde, dieses tief religiöse und tief gedemütigte Volk, das mit allen militärischen Aufständen gegen die verhasste Herrschaft der Römer gescheitert war, habe sich „durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu schaffen“ gewusst – es habe sich das Leiden aller Ohnmächtigen, Schwachen und Schlechtweggekommenen im Römischen Reich zunutze gemacht, um ihm durch Moral Sinn zu geben und selbst als Verwalter dieser Moral über sie zu herrschen. Es habe einen „Sklavenaufstand in der Moral“ verursacht und damit das Christentum auf den Weg gebracht, das zuletzt tatsächlich über Rom gesiegt und in der Folge Europa unumkehrbar geprägt habe (GM I 7 u. 16).18 Nietzsche kann dem, bei aller Kritik der Moral selbst und den Gefühlen des „Hasses“ und der „Rache“, von denen sie ausgegangen sei, seine Achtung nicht versagen: eine solche Politik durch Moral, wie sie „den Juden“ gelungen sei, sei „wahrhaft grosse Politik“ (GM I 8).19
Dies war für jeden, der es sehen wollte, nicht historische Wahrheit, sondern eine polemische, extrem zugespitzte Gegen-Interpretation, allein dazu entworfen, die christliche Moral (oder was dafür galt) in ihrer Selbstgerechtigkeit zu treffen. Die Juden zu Nietzsches Zeit fühlten sich denn auch wenig davon betroffen.20 Was seine Interpretation der Zukunft Europas, der Folgen des Nihilismus seiner Moral, betraf, verfuhr Nietzsche weit zurückhaltender. Er sprach davon nur wenig in den Werken, die er noch zur Veröffentlichung vorbereitete (das sind vor allem die Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Ecce homo). Deutlicher sind sie dem Nachlass zu entnehmen, Notaten, die Nietzsche für sich selbst anfertigte.
Im Anschluss an Zur Genealogie der Moral notierte Nietzsche, er wolle „die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte“ erzählen und darin beschreiben,
was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese Geschichte kann schon jetzt erzählt werden: denn die Nothwendigkeit selbst ist hier am Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt sich überall an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen. (Nachlass 1887/88, 11[411]2, KSA 13.189)
Nietzsche will die „Logik“ dieser Notwendigkeit „zu Ende“ denken, um aus ihrer rückhaltlosen Kenntnis Möglichkeiten einer „Gegenbewegung“ abschätzen zu können. Seine Mittel, fügt er hinzu, sind die eines Philosophen, der „Nichts bisher gethan [hat] als sich zu besinnen“, eines Philosophen jedoch, der „Einsiedler aus Instinkt“ war, der
seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand; als ein Wage- und Versucher-Geist, der sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat; als ein Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat ... (Nachlass 1887/88, 11[411]3, KSA 13.190)
Einen „Wahrsagevogel-Geist, der zurückblickt, wenn er erzählt, was kommen wird“, nennt man sonst einen Propheten; die Propheten der hebräischen Bibel tun nichts anderes, als Schlüsse aus der Gegenwart und der Vergangenheit auf die nächste Zukunft zu ziehen. Und wie sie dem Volk, dem sie prophezeien, selbst zugehören und sein Schicksal teilen, schließt sich auch Nietzsche in den Nihilismus Europas ein, als den, der ihn ganz durchlebt hat. Seine Prophezeiungen waren denkbar düster. Der neue, gegenwärtige „europäische Nihilismus“, erwartet er, wird weit schwerer zu ertragen sein als der ursprüngliche. Denn er ist nun ein Nihilismus der Enttäuschung, der Enttäuschung über das christlich-moralische Denken, das sich als „Gegenmittel“ gegen den Nihilismus selbst diskreditiert hat.21 Mehr noch: mit der gewissenhaften Kritik seiner selbst, seiner moralischen Kritik der Moral, war das moralische Denken in einen „Antagonismus“ geraten, eine Aporie, die es nicht mehr auflösen kann: Es war der Antagonismus, „das was wir erkennen, nicht zu schätzen“ – nämlich die dunklen Gründe seiner Moral – „und das, was wir uns vorlügen möchten“ – die Absolutheit eben dieser Moral, die nun in ihre dunklen Gründe blickt –, „nicht mehr schätzen zu dürfen“ (LHN 2). Die Folge ist, so Nietzsche, dass sich die „christliche Moral-Hypothese“ selbst auflöst.
Ihr „Auflösungsprozeß“ würde dann nicht nur sie selbst betreffen, sondern das Leben im Ganzen, das durch sie strukturiert ist. Der neue Nihilismus tritt zwar, überlegt Nietzsche weiter, einerseits unter günstigeren Lebensbedingungen der Menschen ein: „das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig in unserem Europa“, Technik und Medizin, ein differenziertes Rechtssystem, eine rational organisierte Verwaltung und inzwischen auch umfassende Sozialversicherungssysteme haben es erheblich erleichtert. Die „moralische Interpretation“ der Leiden der Menschen ist dadurch nicht mehr „so nöthig“ (LHN 3). Andererseits aber hat diese „moralische Interpretation“ im Laufe von Jahrtausenden den Europäern das Bedürfnis nach einem „Sinn“ des Lebens so „eingefleischt“ (LHN 2), das es nun weiter seine Erfüllung fordert. Die Europäer sind moralische Wesen geworden und können ohne moralische Interpretationen des Lebens im Ganzen nicht mehr leben. Sie werden nicht mehr an solche Interpretationen glauben, aber sie werden auch den Verlust des Rechts auf sie nur schwer verkraften. So werden sie, schließt Nietzsche, zunächst im Denken selbst gelähmt sein:
Das Mißtrauen gegen unsere früheren Werthschätzungen steigert sich bis zur Frage „sind nicht alle ,Werthe‘ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?“ Die Dauer, mit einem ,Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht <ist>, sich nicht foppen zu lassen. (LHN 5).
Lähmung des Denkens ist völlige Desorientierung. Sie führt, so Nietzsche, zu einem „blinden Wüthen“. Man musste damit rechnen, dass die „Schlechtweggekommenen“, denen die Moral verloren ging, die sie am Leben gehalten hatte, in einen „Willen zur Zerstörung“ verfielen, zur Zerstörung ihrer selbst und von allem, was nun „in diesem Grade sinn- und ziellos“ geworden war. Die Erfahrung des Nihilismus musste hier in einen „Willen ins Nichts“ umschlagen, aus „Instinkt“, nicht aus Überlegung. Menschen, die „keinen Trost mehr haben“, werden „zerstören, um zerstört zu werden,“ sie werden, befürchtete Nietzsche ebenso hellsichtig wie beängstigend, am Ende „die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein.“ (LHN 4, 9, 11, 12, 14)
Die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die Totalitarismen, die Weltkriege, die Shoa, könnten „Symptome“ (LHN 11), vielleicht nur erste Symptome des Nihilismus der europäischen Moral gewesen sein.
16.2. Der „Prozess des werdenden Europäers“
Nietzsche versucht die „Crisis“ der europäischen Moral (LHN 14) zugleich philosophisch und „psychologisch“ zu fassen, einerseits vom Selbstverständnis der Moral und andererseits von ihren Wirkungen auf den Einzelnen her (LHN 4). Daneben und früher schon verfolgt er die Wandlungen der europäischen Moral anhand der Wandlungen der Gesellschaft, nach heutigen Begriffen also in einer soziologischen Perspektive.22 Er beobachtet einen Prozess der Europäisierung der europäischen Gesellschaften im Fortgang des 19. Jahrhunderts.23 In diesem Prozess erweisen sich, um es vorwegzunehmen, die Juden als die Zukunftsfähigsten.
Für die Europäisierung der europäischen Gesellschaften gibt es nach Nietzsche insbesondere fünf Anhaltspunkte:
- die „demokratische Vermengung der Stände und Rassen“,
- das Ende der Kleinstaaterei,
- die Entwicklung des „historischen Sinns“,
- die Umstellung von sozialen „Ständen“ auf soziale „Rollen“ und
- die Auflösung des „Grundglaubens“ an einen „festen Bau“ der Gesellschaft.
(1) Die „demokratische Vermengung der Stände und Rassen“: Nietzsches soziologischer Ausgangspunkt ist der „unsinnig plötzliche Versuch von radikaler Stände- und folglich Rassenmischung“ in „unserem Europa von heute“ (JGB 208). Er spricht damit den Prozess an, der ansonsten „mit einer politischen Formel die demokratische Bewegung Europa’s“ genannt wird (JGB 242). Damit wird er auch moralisch gedeutet, sofern dabei auf die Gleichheit der Menschen gedrängt wird. Nietzsche will hinter solche „moralischen und politischen Vordergründe“ zurückgehen und möglichst nüchtern ansetzen: er versucht es „physiologisch“ im Sinn der neuen Vererbungslehren seiner Zeit. Sie arbeiten unbefangen auch mit dem Rassebegriff.24 Das bedeutet nicht schon, dass es ihnen – und Nietzsche – um die ,Reinheit’ und ,Reinhaltung‘ von Rassen geht; Nietzsche weist die „verlogne Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht“ ausdrücklich zurück.25 Stattdessen geht es ihm im Blick auf Europa um die Ergebnisse von Rassenmischungen.
Das erste Ergebnis solcher Rassenmischungen müsste die „Anähnlichung der Europäer“ sein. Da sie beginnen, sich frei in Europa zu bewegen und niederzulassen, und sich so allmählich „von jedem bestimmten milieu“ lösen, müsste sich mit der Zeit „eine wesentlich übernationale und nomadische Art Mensch“ ausbilden, „welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und –kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt.“ (JGB 242; vgl. FW 361) Dies würde „im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen“ bedeuten, die Heranbildung eines „nützlichen arbeitssamen, vielfach brauchbaren und anstelligen Heerdenthiers Mensch“. Nietzsche setzt hinzu: „der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer [wird] wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein“ (JGB 242).
Nach den Vererbungsgesetzen müsste die Rassenmischung aber zugleich zur Ausprägung starker Unterschiede in wenigen Exemplaren führen. Für den „Prozess des werdenden Europäers“, so Nietzsche, hieße das: es müssten zugleich „Ausnahme-Menschen“ entstehen, „Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität“. Sind sie für die übrigen anziehend (attraktiv, faszinierend), können sie sich für leitende Funktionen (Nietzsche sagt provozierend: als „Befehlende“) anbieten. Aber eben darin sind sie auch gefährlich: denn sie geben nun jenseits der alten gesellschaftlichen Ordnungen als Einzelne die Maßstäbe vor. Im Ganzen bedeutete das politisch – Nietzsche formuliert bewusst moralisch provozierend –, dass „die Demokratisirung Europa’s“ einerseits zwar „auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hinausläuft“, andererseits aber „zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen [ist] – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten.“ (JGB 242)26 Blickt man auf das 20. Jahrhundert, so war der gefährlichste Typus des ,Tyrannen‘ der gesellschaftlich entwurzelte ,Führer‘ einer von der breiten Mehrheit der Bevölkerung gut geheißenen ,Bewegung‘, Adolf Hitler.
(2) Das Ende der Kleinstaaterei: Mit Napoleon Bonaparte wurde das Ende der Kleinstaaterei in Europa eingeleitet, von Garibaldi 1861 für Italien durchgesetzt und mit Bismarcks Gründung eines neuen Deutschen Reiches 1871 für Deutschland vollzogen. In Nietzsches europäischer Sicht blieb die „Kleinstaaterei“ Europas (JGB 208; FW 377; GD, Streifzüge 39; EH, WA 3) durch die Bildung von Nationalstaaten jedoch nicht nur erhalten, sondern verstärkte sich noch. Nietzsche konnte den Nationalismus in Europa nur als Hemmnis und Verzögerung der Europäisierung Europas sehen (MA I 475, JGB 242). Er sei „künstlich“, nicht im Interesse der Völker, sondern „bestimmter Fürstendynastien“ und „bestimmter Klassen des Handels und der Gesellschaft“; er brauche „List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten“ (MA I 475), „Todhasse“, um sich aufrechtzuerhalten (FW 377). Der Druck auswärtiger Großmächte, Amerikas auf der einen, Russlands auf der andern Seite, zwinge Europa jedoch zum ökonomischen und politischen Zusammenwachsen: „Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft – den Zwang zur grossen Politik.“ (JGB 208)
(3) Die Entwicklung des „historischen Sinns“: „Gute Europäer“ sind „zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu ,gereist‘“, um „an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können“, – sie hätten, meinte Nietzsche, für Dinge wie Nationalismus und Rassismus zu viel „,historischen Sinn‘“ (FW 377). Der historische Sinn sei im 19. Jahrhundert zum „sechsten Sinn“ in Europa geworden (JGB 224). In engem Austausch zwischen Philosophie und empirischen Wissenschaften wurde man fähig, alles, was auf der Erde bisher als zeitlos galt, die Gebirgsformationen, die biologischen Arten, die Normen der Moral, die Dogmen der Religion, die Wahrheiten der Wissenschaften, die Kategorien des Denkens, als zeitlich, als unter geschichtlichen Bedingungen entstanden und sich wandelnd zu sehen. Alles kam in Fluss. Am empfindlichsten traf das die Moral.
Sie wurde damit aber auch auf neue Weise interessant. Ihre Normen und Werte können und müssen nun jeweils zu ihren geschichtlichen und situativen Bedingungen in Beziehung gesetzt werden. Nietzsche bestimmt den historischen Sinn ganz von hier aus als „die Fähigkeit, die Rangordnung der Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat,“ als „den ,divinatorischen Instinkt‘ für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte“. Wer so zu sehen gelernt hat, wird sich selbst als „eine Art Chaos“ sichtbar, als jemand, in dessen „,moderne Seele‘“ „die Vergangenheit von jeder Form und Lebensweise, von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen,“ eingeströmt ist (JGB 224) – was Nietzsche hier als ,moderne Seele‘ beschreibt, ist ziemlich genau das, was man inzwischen ,postmodernes‘ und ,multikulturelles‘ Denken nennt.
Als Symptom der „demokratischen Vermengung der Stände und Rassen“ scheint es ihm, wie diese selbst, begrüßenswert und bedenklich zugleich, bedenklich, weil der Sinn für „das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen“ darin verlorengehe, aber auch begrüßenswert, weil sich nun neue Tugenden entwickeln. „Menschen des ,historischen Sinns‘“ seien „anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend“. Das bedeute vor allem: sie geben die „zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige“ auf und lassen „einer neuen Begehrlichkeit, einer Unbefriedigung am Eignen, einer Bewunderung des Fremden“ Raum (JGB 224).27 Sie brechen mit der Selbstgerechtigkeit der europäischen Moral.
(4) Die Umstellung von sozialen „Ständen“ auf soziale „Rollen“: Die Europäisierung Europas im Zuge der modernen Ökonomie und Kommunikation bringt auch ein neues Selbstverhältnis mit sich. Man hat in den modernen europäischen Gesellschaften immer weniger einen festen Stand und nimmt immer mehr Rollen auf Zeit ein. In Begriffen der modernen systemtheoretischen Soziologie: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich eine Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung. Die europäischen Gesellschaften geben ihre ständisch-hierarchische Ordnung auf. In ihr war der Einzelne durch Geburt auf schichtenspezifische Verhaltensnormen verwiesen, die streng gegeneinander abgegrenzt und dadurch vergleichsweise stabil waren. Sie setzen stattdessen jetzt auf die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen, durch die er optimal Funktionen erfüllen kann. In der funktional differenzierten Ordnung steht nichts mehr fest: zunehmend konkurrieren alle mit allen auf einer Vielfalt von Märkten. Die Folge ist eine sich selbst beschleunigende Innovationsdynamik in allen Funktionssystemen der Gesellschaft und auch in ihrer Moral.28 Nietzsche spricht hier vom „Rollen-Glauben“ der Europäer. Er ist nicht ganz neu. Schon in der Demokratie des alten Athen sollte jeder jede Rolle übernehmen können, schon damals hatte man gelernt, „Schauspieler“ zu sein, und war erfolgreich damit. Nun, so Nietzsche, kehrt der alte „Athener-Glaube“ als „Amerikaner-Glaube“ wieder, die Schauspieler, „alle Arten Schauspieler“ und Selbstdarsteller werden wieder hoch geachtet und werden „die eigentlichen Herren“. Immer aber, wenn Schauspieler die Macht übernahmen, war es mit den „festeren, beschränkteren Zeitaltern“ vorbei, und es kamen „die interessantesten und tollsten“ herauf. Die „,Baumeister‘“ alten Typs, Menschen, die „Werke [...] unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste“, sinken dann im Wert (FW 356).
(5) Die Auflösung des „Grundglaubens“ an einen „festen Bau“ der Gesellschaft: Zu diesen Werken, die Jahrtausende zu ihrer Vollendung brauchen, gehört auch der Bau von „breiten Gesellschafts-Thürmen“. Mit dem neuen „Europäer-Glauben“ an die Rolle, die Funktion, verändert sich zuletzt die Erfahrung von Gesellschaft überhaupt. Gesellschaft ist dann nichts mehr, was eine dauernde Gestalt hätte, was der Einzelne trägt und von dem er getragen wird. Der „Grundglaube“, so Nietzsche, stirbt aus, nach dem „der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein in einem grossen Baue ist: wozu er allererst fest sein muss, ,Stein‘ sein muss ... Vor Allem nicht – Schauspieler!“ Für eine solche Gesellschaft sind wir alle inzwischen „kein Material mehr“ (FW 356). Wenn es darum geht, sich auf wechselnde Rollen und Partner einzustellen, sind es, in Begriffen der soziologischen Systemtheorie, nicht mehr Individuen und Institutionen, sondern Kommunikationen, worin die Gesellschaft besteht.
Zu Nietzsches Zeit war dies (und ist für viele noch heute) ein befremdlicher, abwegiger Gedanke. Die Anzeichen, „dass Europa Eins werden will“, wurden in Nietzsches Sicht denn auch vor allem von Dichtern, Künstlern, Musikern wahrgenommen. Sie waren am ehesten darauf vorbereitet, auf die alten klaren hierarchischen Ordnungen zu verzichten. Als „Virtuosen“ der „Schaustellung“ „mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft,“ waren sie „geborene Feinde der Logik und der geraden Linien“ und so in der europäischen Moderne zuerst „begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden“ (JGB 256). Vor allem aber waren das, nach Nietzsche, die Juden.
16.3. Die Juden als
„Erfinder und Wegzeiger der Europäer“
Beide Perspektiven des Problems der Europäisierung Europas, die moral-kritische und die soziologische, treffen im Denken Nietzsches im „Problem der Juden“ (MA I 475) zusammen. In der moral-kritischen Perspektive würden die Juden, die in den Anfängen Europas die Kraft zu einer „radikalen Umwerthung“ der damals herrschenden Werte hatten, am ehesten zu einer neuen Umwertung fähig sein, zumal sie selbst kaum in den Genuss der christlichen Werte gekommen waren – das christliche Europa hatte sich undankbar gezeigt und sie zu Heimatlosen, Wanderern, Abenteurern gemacht. Auch in der soziologischen Perspektive mussten die Juden zu den ersten „guten Europäern“ gehören. Über Jahrtausende ohne einen festen Stand in den europäischen Gesellschaften – auch nach der Emanzipation und Assimilation blieben sie ja ausgegrenzt –, musste ihnen der Übergang vom sozialen Stand zur sozialen Rolle, von der stratifikatorischen Differenzierung zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, besonders leicht fallen.
Sie waren lange schon gezwungen, „Schauspieler“ zu werden, und hatten, so Nietzsche, in Jahrtausenden ihrer Geschichte einen „Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art“ entwickelt. Ein solcher Überschuss musste sich bei all denen ausbilden,
die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt (FW 361).
Nietzsche zählt zu ihnen den „Hanswurst, Narren, Clown“, der zum sozialen Vorboten des ,freien‘ Künstlers wurde, „in höheren gesellschaftlichen Bedingungen“ den Diplomaten und außerdem – die Frauen.29 Das jüdische Volk aber, das „Volk der Anpassungskunst par excellence“ wurde geradezu zu einer „welthistorischen Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern (FW 361).
Einen „Hanswurst“ nannte sich Nietzsche zuletzt auch selbst (EH, Warum ich ein Schicksal bin 1).30 Hanswurste, Juden und Frauen hatten in seiner Sicht anderen Europäern jetzt einen entscheidenden Vorteil voraus, die Distanz zu den Normen der alten Moral, unter deren Geltung sie an den Rand der europäischen Gesellschaften geraten waren. Sie waren nun freier für andere Begriffe des Moralischen, hatten am wenigsten Scheu vor „dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden“ (JGB 256). Weil die Juden an einer andern Moralität festhielten, die sich nicht griechisch und nicht christlich vereinnahmen ließ, waren sie selbst stets als Fremde in Europa betrachtet worden.
Nietzsche spricht sich über diese andere Moralität – und über die andere Rationalität, die sich damit verband, – nicht aus. Er kannte nicht nur, wie die meisten Nicht-Juden, das Judentum wenig, sondern vermied auch, es in seiner Andersheit zu fassen. Er spricht von ihnen in der europäischen Perspektive und nimmt sie darin als „Erfinder und Wegzeiger der Europäer“ (M 205), als Vorbild für die Modernisierung der europäischen Gesellschaften wahr und für die Tugenden, die sie ermöglichen. Er hat dem – vor der Genealogie der Moral – vier große Aphorismen gewidmet.
(1) Den ersten von ihnen, MA I 475, überschreibt Nietzsche „Der europäische Mensch und die Vernichtung der Nationen“. Er kommt dort nur „beiläufig“ auf das „Problem der Juden“ zu sprechen, vom Problem des Nationalismus aus, und versucht einen ethischen Balanceakt. Er spricht davon, dass die Juden vor allem Opfer des Sozialneids „innerhalb der nationalen Staaten“ geworden seien, sofern „hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willenskapital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss“ – sie wurden „Sündenböcke“ für Modernisierungsdefizite der nationalen Staaten. Aber, setzt Nietzsche dagegen, unter dem Gesichtspunkt der „Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse [...] ist der Jude als Ingredienz ebensogut brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest.“ Dann zitiert er, wohl um zunächst auch nach dieser Seite gerecht zu sein, das antisemitische Klischee von der „widerlichsten Erfindung des Menschengeschlechts überhaupt“, dem „jugendlichen Börsen-Juden“, um dann wiederum dagegenzusetzen, dass man dem Volk, „welches nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, [...] den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt.“ Die Juden als Volk sind nicht gut oder böse, man hat sich ihnen gegenüber mit moralischen Urteilen überhaupt zurückzuhalten.
Nietzsche stellt dann etwas anderes in den Vordergrund: dass das Judentum, dem man Willkür, Irrationalität und Obskurantismus im Denken vorzuwerfen gewohnt war, an der europäischen Auklärung nicht nur beteiligt war, sondern sie über die „dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, [...] unter dem härtesten persönlichen Zwange [...] vertheidigt[...]“ hatte. Sie hätten an „einer natürlicheren, vernunftgemässeren und jedenfalls unmythischen Erklärung der Welt“ festgehalten und so dafür gesorgt, „dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb.“
(2) Der zweite der genannten Aphorismen, M 205, ist ganz dem „Volke Israel“ gewidmet. Nietzsche versucht nun die Tugenden zu benennen, die es in der harten „Schule von achtzehn Jahrhunderten“, seit dem Beginn der Diaspora, erworben hat und durch die es zum „Erfinder und Wegzeiger der Europäer“ werden könnte. Man wird sie als inzwischen hoch geschätzte Tugenden nicht nur einer europäischen, sondern globalen Ethik der Gegenwart wiedererkennen. Dazu gehört nach Nietzsche,
- sich als „Einzelner“, nicht nur in einer „Gemeinschaft“ behaupten zu können,
- in furchtbaren Lagen „kälteste Besonnenheit und Beharrlichkeit“ zu üben,
- Unglück und Zufall geschickt zu überlisten und auszunutzen,
- „Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung“ zu beweisen,
- mit Verachtung umzugehen, ohne sich davon berühren zu lassen,
- Leiden zu ertragen, ohne sich ihnen zu ergeben oder durch sie hart und bitter zu werden,
- sich im engen Kreis – bei den Juden: der Familie – einen auf Dauer angelegten Rückhalt zu schaffen,
- sich aus Gewerben – bei den Juden: „welche man ihnen überliess (oder denen man sie überliess)“ – wirtschaftliche Selbständigkeit zu verschaffen,
- daraus „ein Gefühl der Macht“ – bei den Juden: und „der ewigen Rache“ – zu ziehen, um nicht im Ressentiment zu erstarren,
- die Macht aber so besonnen auszuüben, dass weiterer Verkehr mit den andern immer möglich bleibt,
- in jedem Fall „sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen“, bis man so weit kommt, „Das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen.“
Dies sind Tugenden unter den Bedingungen harter Konkurrenz, denen inzwischen die meisten unterliegen. Es sind dennoch nicht Tugenden eines rücksichtslosen „Willens zur Macht“. Ein besonnener und beharrlicher Wille zur Macht wird gerade Rücksicht auf andere nehmen und sich um ihr Wohlwollen bemühen. Er wird dagegen nicht zum Schutz seiner Schwächen gegenüber andern auf eine allgemeingültige Moral pochen; man würde darin allzu leicht einen Vorwand seines eigenen „Willens zur Macht“ erkennen. Die Juden, so Nietzsche, „besitzen die bei Weitem grösste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung“. Ihre Tugenden sind Tugenden ebenso der Schwäche wie der Stärke. Tugenden der Stärke sind sie aus der Rücksicht auf die Stärken und Schwächen der andern.
Es sind nicht oder noch nicht die Tugenden der „Vornehmheit“, die, nach Nietzsche, zur Leitung anderer empfehlen. Die sozialen Zwänge, so sah er es zu seiner Zeit, hätten die Juden vorerst zur „geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit“, noch nicht zu „Herren“ erzogen. Er rechnet es ihrem intelligenten Verhalten zu, dass sie darum noch vorsichtig sind, „die Herren Europa’s zu werden“. Die Entscheidung, ob sie das wollten, aber liege bereits bei ihnen. Dennoch, fügt er später hinzu, strebten sie offensichtlich eine derartige Herrschaft nicht an:
Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen –, jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben könnten, steht fest; dass sie nicht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls. (M 205)
Sie wollten stattdessen „von Europa ein- und aufgesaugt“, also Europäer werden, und dem sollte man besonnen entgegenkommen – „wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen.“ (JGB 251)
Die Alternative wäre für die Juden, „Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten.“ In Ägypten waren sie zum ersten Mal Sklaven, und mit ihrem Auszug aus Ägypten begannen sie ein eigenes, das auserwählte Volk eines machtvollen Gottes zu werden. Dass sie im Europa des 20. Jahrhunderts vernichtet werden sollten, kam Nietzsche, trotz aller düsterer Erwartungen, nicht in den Sinn.
(3) Er dankt den Juden für das, was Europa ihnen verdankt, und bekräftigt das noch einmal im dritten der genannten Aphorismen, JGB 250.31 Er tut dies, nachdem in Jenseits von Gut und Böse bereits vom „Sklaven-Aufstand“ des jüdischen Volkes in der Moral die Rede war, der das Christentum auf den Weg gebracht habe (JGB 195). Wenn hier ein Widerspruch vorliegt, dann in der europäischen Moral selbst, die „[a]us Moralität“ zu ihrer „Selbstaufhebung“ gekommen war (M, Vorrede 4). Nietzsche betont nun gerade bei den Juden die „Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten“, um sie aus den jüdischen Erfahrungen als „Verführungen zum Leben“ verstehen zu lernen, „in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar.“ (JGB 250)
Die Bedingtheit, Vielfalt, Vielseitigkeit des Moralischen ist die Voraussetzung, sich in ihr auszuzeichnen, und damit die Voraussetzung, dass sie überhaupt etwas Auszeichnendes sein kann. Dazu gehört der fremde Blick auch auf die eigene Moral, die Fähigkeit, die eigene Moral als besondere Moral neben anderen sehen können. Nietzsche hat dafür Formel „Pathos der Distanz“, der Distanz zu einer Moral für jedermann. Sie ist möglich geworden durch die Selbstaufhebung der scheinbar absolut gültigen Moral und insofern ein kritischer ethischer Begriff. Das Pathos der Distanz ist ein Pathos, weil es kein Wissen sein kann – man kann von individuellen Moralen nicht in einem allgemeingültigen Sinn wissen. Man braucht aber auch nicht von ihnen zu wissen. Es genügt, dass es im Handeln damit „Ernst“ ist (JGB 251). Den Juden spricht Nietzsche ausdrücklich ein solches „Pathos der Distanz“ zu.32
(4) Im vierten der genannten Aphorismen schließlich, dem unmittelbar folgenden Aphorismus JGB 251, zieht Nietzsche eine Art Summe seines Denkens über die Juden und Europa. Er führt jetzt umgekehrt vom Problem der Juden aus zum „,europäischen Problem‘“ hin, wie er es verstehe und bei dem sein Ernst liege, „die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste“. Er vollführt noch einmal den ethischen Balanceakt, einerseits die „eigentliche Antisemiterei“ „unbedingt“ abzulehnen, dabei aber doch auf den „allgemeinen Instinkt“ des Volkes zu hören, das keinen unbegrenzten Zuzug von Juden, zumal aus Osteuropa, zulassen will, und andererseits dem uneingeschränkten Respekt vor den Juden und ihren Tugenden, „die man heute gerne zu Lastern stempeln möchte“. Dann trägt er noch einmal die Kritik am europäischen Nationalismus vor und beschließt sie mit dem schon zitierten Verzicht der Juden auf „die Herrschaft über Europa“. Und er endet nun mit einer „heiteren Deutschthümelei“, dem Vorschlag, zunächst einmal sollten sich „die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums“ mit den Juden einlassen, „zum Beispiel der adelige Offizier aus der Mark: es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse.“33
Aber Nietzsche wäre nicht Nietzsche, wenn er nicht auch hier einen neuen Akzent gesetzt hätte. Er stellt nun die jüdisch-europäische Ethik in den umfassenderen Zusammenhang des Umgangs mit der Zeit und verknüpft das Judentum mit dem „russischen Reich“: die Juden „verändern sich, wenn sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist –: nämlich nach dem Grundsatze ,so langsam als möglich!‘“ (JGB 251) Und er folgert daraus: „Ein Denker, der die Zukunft Europa’s auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. (JGB 251)
In der Epoche seiner metaphysisch fundierten Moral sah Europa die Zeit im Gegensatz zu einem Zeitlosen und in diesem Zeitlosen das absolute Gültige. Alle weiteren Gegensätze, die sein Denken leiteten, folgten diesem Gegensatz: Gott und Mensch, Sein und Werden, Vernunft und Sinnlichkeit, Form und Inhalt, Bedeutung und Zeichen. Das Zeitlose war darin stets der Wert, das Zeitliche der Unwert. Sich so in einem Jenseits der Zeit gegen die Zeit versichern zu müssen und die Moral seines Lebens darauf zu gründen, mag Ausdruck einer tiefen Lebensangst und Ursache des „europäischen Nihilismus“ gewesen sein. Die Juden und die Russen zeigen, so Nietzsche, dass ein anderes Verhältnis zur Zeit immer schon möglich war: die Geduld, das Ausharren auch unter ungünstigsten Umständen, die Kraft, sich und anderen Zeit zu lassen, Leiden lange hinzunehmen. Ein solches Verhältnis zur Zeit, die „asiatische Dauerhaftigkeit“ (M 206), ist uns heute, im europäischen und globalen Konkurrenzdruck, noch fremder geworden. Aber vielleicht werden wir sie auf Dauer ja brauchen. „Gute Europäer“, gerade die „Gesündesten“, „Stärksten“, so Nietzsche, werden „Zeit-Überwinder“ sein (MA II, Vorrede 6). Wir haben noch keine hinreichenden Begriffe dafür, wie sie es sein können.
Nietzsche hatte keine Sympathie für das jüdische Volk und schrieb: „Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre.“ (JGB 251) Das Fremde, als das er die Juden wahrnahm, kann kein Gegenstand der Sympathie sein. In seiner europäischen Perspektive gewann er jedoch wachsende Achtung vor den Juden und ihren Tugenden, und Achtung ist, was Fremden als Fremden zuerst gebührt. Aber auch Nietzsches heute so erfreuliche europäische Perspektive auf die Juden, nach der sie Europa dazu verhelfen können, zu einem „guten Europa“ zu werden, macht sie noch zum Mittel, nimmt sie noch in Dienst. Sie kann nicht die Perspektive der Juden selbst sein.
Was eine jüdische Perspektive für die Philosophie, die Europa-Philosophie, bedeuten könnte, ist erst in den letzten Jahrzehnten unseres 20. Jahrhunderts vor allem von Emmanuel Levinas und Jacques Derrida deutlich geworden. Beide kennen ihren Nietzsche und berühren sich in ihrem Denken eng mit ihm.34 Und dennoch ist das jüdische noch einmal ein „ganz anderes“ Denken.35
1 Vgl. Josef Simon, Nietzsche on Judaism and Europe, in: Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture, London/New York 1997, S. 101-116 (dtsch. unter dem Titel: Das Judentum und Europa bei Nietzsche, in: Jacob Golomb (Hg.), Nietzsche und die jüdische Kultur. Übers. v. Helmut Dahmer, Heidelberg 1998, S. 112-125). Simon macht vor allem deutlich, inwiefern Europa nach Nietzsche den Juden „den grossen Stil in der Moral“ (JGB 250) verdankt.
2 Hierauf liegt das Schwergewicht des folgenden Beitrags.
3 Dies ist von der Nietzsche-Forschung immer wieder richtiggestellt worden. Vgl. zunächst den „Versuch“ von Richard Maximilian Lonsbach, Friedrich Nietzsche und die Juden. Ein Versuch, Stockholm 1939, 2. um einen Anhang und ein Nachwort erw. Aufl., hg. v. H.R. Schlette, Bonn 1985, später Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), Berlin/New York 1987, S. 249-253; Michael Ahlsdorf, Nietzsches Juden. Die philosophische Vereinnahmung des alttestamentlichen Judentums und der Einfluß von Julius Wellhausen in Nietzsches Spätwerk, Phil. Diss. FU Berlin 1990, S. 7; Yirmijahu Yovel, Nietzsche, the Jews and Ressentment, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche’s Genealogy of Morals (Philosophical Traditions 5), Berkeley u.a. 1994, S. 214-236; Weaver Santaniello, Nietzsche, God, and the Jews. His Critique of Judeo-Christianity in Relation to the Nazi Myth, Albany (SUNY) 1994, und zuletzt die Beiträge des Bandes Golomb (Hg.), Nietzsche and Jewish Culture. Hubert Cancik, ,Judentum in zweiter Potenz‘. Ein Beitrag zur Interpretation von Friedrich Nietzsches ,Der Antichrist‘, in: Jörg Mertin u.a. (Hg.), „Mit unsrer Macht ist nichts getan ...“. Festschrift für Dieter Schellong zum 65. Geburtstag, Frankfurt am Main 1963, S. 55-70, hat Nietzsche erneut „Antijudaismus“, nun „in zweiter Potenz“ (S. 61 f.), vorgeworfen. Vgl. auch Hubert Cancik / Hildegard Cancik-Lindemaier, Philhellénisme et antisémitisme en Allemagne: le cas Nietzsche, in: Dominique Bourel / Jacques le Rider (Hg.), De Sils-Maria à Jérusalem, Paris 1991, S. 21-46. Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 32), Berlin/New York 1996 , S. 318-340, hat auch diesen Vorwurf sorgfältig an Nietzsches Texten und deren Quellen widerlegt. Dass Nietzsche kein Antisemit war, heißt nicht – und darin ist sich die jüngere Forschung einig –, dass er den Juden darum schon „gewogen“ gewesen wäre (vgl. JGB 251; s.u.). Wir sind heute, nach dem Holocaust, geneigt, die Stellung zum Judentum nach einem strengen Entweder-Oder zu beurteilen: wer nicht für „die Juden“ ist, muss gegen sie (gewesen) sein. Zu Nietzsches Zeit hat man dagegen vom Antisemitismus als einem generellen „kulturellen Code“ auszugehen (vgl. Shulamit Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Zehn Essays, München 1990, S. 13 ff.). Hier sind darum die Differenzierungen des „Problems der Juden“ (MA I 475) bedeutsam, die Nietzsche vornimmt, insbesondere in Bezug auf das Problem Europas.
4 Vgl. JGB 251 und dazu Simon, Das Judentum und Europa bei Nietzsche, S. 119 f., und Josef Simon, Die eine Wahrheit und die fremde Vernunft. Volk und Judentum bei Nietzsche, in: Werner Stegmaier / Daniel Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus. Forschungskonferenz des Instituts für Philosophie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg vom 3. bis 6. September 1995 in Greifswald (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36), Berlin/New York 1997, S. 3-14.
5 Vgl. Nietzsches Brief an seine Schwester Elisabeth Förster vom 7. Februar 1886, Nr. 669, KSB 7.147, in dem er sich einen „unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten“ nennt. Er verbindet hier unmittelbar Europäertum und Gegnerschaft zum Antisemitismus. Die halb geliebte, halb verabscheute Schwester hatte einen bekennenden Antisemiten geheiratet, der daran ging, in Paraguay eine nationale und soziale Kolonie zu gründen, und dafür auch Nietzsche um finanzielle Unterstützung gebeten. Nietzsche weist die Bitte gewunden zurück und versucht stattdessen die Schwester vom Unternehmen ihres Mannes abzubringen. Um des überseeischen „Abenteuers“ eines „Agitators in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung“ willen sei sie bereit, „ganz die Tradition ihres Bruders“ aufzugeben: „wir freuen uns nicht mehr über das Gleiche.“
6 Einen kurzen und klaren Überblick zu Nietzsches politischem Denken über Europa gibt Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, S. 124-146.
7 Der Ansiedlungsrayon beherbergte am Ende des 19. Jahrhunderts knapp 5 Millionen Juden, die Hälfte aller Juden auf der Erde. Dennoch machten sie nur ca. ein Neuntel der dort lebenden Gesamtbevölkerung aus. Als besonders „nützlich“ betrachtete Juden wie Großkaufleute, Ärzte, Handwerker bestimmter Berufe durften sich außerhalb des Rayons aufhalten. Die armen Schichten lebten weitgehend in Ghettos. Seit 1880 setzte eine Massenauswanderung vor allem in die USA ein. Die assimilierten Juden in Mittel- und Westeuropa grenzten sich ihrerseits stark von den osteuropäischen Juden ab und unterstützten Bestrebungen, ihre Zuwanderung zu verhindern (vgl. JGB 251: „,Keine neuen Juden mehr hinein lassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren!‘“). Näheres s. Ludger Heid, Das Ostjudenbild in Deutschland, in: Julius H. Schoeps, Neues Lexikon des Judentums, Gütersloh 1992, S. 350-352.
8 Er war in sich wiederum außerordentlich vielgestaltig. Vgl. Stegmaier/Krochmalnik, Jüdischer Nietzscheanismus, Einleitung.
9 „Asien“ wirkte auf Europa und seinen Anwalt, Nietzsche, ähnlich fremd und irritierend wie „die Juden“ (vgl. MA I 475). Die Angst vor „Asien“ und vor „den Juden“ vereinigte und potenzierte sich in der Angst vor den Ostjuden (vgl. Heid, Das Ostjudenbild in Deutschland). Ernst Nolte hat daraus Hitlers Krieg gegen Russland und seine Vernichtung der europäischen Juden erklärt und zunehmend auch mit der Vereinnahmung von Nietzsches Denken legitimiert (Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschismus, der Nationalsozialismus, München 1963, bes. S. 533 f.; Der europäische Bürgerkrieg 1917-1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Berlin 1987, bes. S. 514 f.; Nietzsche und der Nietzscheanismus, Frankfurt am Main/Berlin 1990, bes. S. 192 f.; vgl. Steven E. Aschheim, The Nietzsche Legacy in Germany 1890-1990, Berkeley 1992, dtsch.: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, aus dem Engl. v. K. Laermann, Stuttgart/Weimar 1996, S. 344-348). Nietzsche selbst, erklärter Anti-Nationalist, Anti-Sozialist und Anti-Antisemit, dürfte nichts mehr als das Denken der Nationalsozialisten zurückgewiesen haben.
10 Vgl. Paul Valéry, Zur Krise des europäischen Geistes (Beiträge aus den Jahren 1897 bis 1937), in: P.V., Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 7: Zur Zeitgeschichte und Politik, Frankfurt am Main und Leipzig 1995, S. 34: „Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlands?“ Auf beide, Nietzsche und Valéry, greift Jacques Derrida mit seinen Europa-Essays zurück (Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, aus dem Frz. v. A.G. Düttmann, Frankfurt am Main 1991).
11 Zur Herkunft des Nihilismus-Begriffs vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Art. Nihilismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel/Darmstadt 1984, Sp. 846-853, zum Nihilismus-Begriff in Russland daran anschließend W. Goerdt (Sp. 853-854), zum Eingang des Nihilismus-Begriffs in Nietzsches Philosophie Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 25), Berlin/New York 1992.
12 Der Versuch zur religiösen Überwindung des Nihilismus in Russland gipfelte im Werk Dostojewskis und in Tolstois Bekenntnisschrift Mein Glaube (1884/85), die Nietzsche beide hoch schätzte (vgl. Lev Schestov, Tolstoi und Nietzsche, Köln 1923; und: Dostojewskij und Nietzsche, Köln 1924). Sie trugen ihrerseits dazu bei, der starken Wirkung Nietzsches in Russland den Weg zu ebnen (vgl. Maria Deppermann, Nietzsche in Rußland, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 211-252, bes. S. 227, die über zwei von George Kline und Bernice Glatzer Rosenthal veranstaltete Forschungskonferenzen berichtet).
13 Nachlass 1886/87, 5 [71] / KSA 12.211-217, datiert „Lenzer Heide den 10. Juni 1887“, im folgenden Lenzer Heide-Notat (LHN). Nietzsche hat dem ungewöhnlich langen, zum Teil ausgearbeiteten, zum Teil nur skizzenhaften Notat nachträglich die Überschrift „Der europäische Nihilismus“ gegeben. Er versucht dort über sein Denken zu Europa, dessen Moral und deren Nihilismus Übersicht zu gewinnen.
14 Die kritische Tradition der europäischen Philosophie geht bis auf Sokrates zurück, der beharrlich nach einem Wissen vom Guten und Bösen fragte und ebenso beharrlich verneinte, selbst ein solches Wissen zu haben oder bei andern gefunden zu haben. Vgl. JGB 202: „Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa’s Einfluss herrscht: man weiss ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte Schlange einst zu lehren verhiess, – man ,weiss‘ heute, was Gut und Böse ist.“ Auch Christus versteht der späte Nietzsche nicht als Begründer einer Moral, sondern als Kritiker aller Moral [S. dazu den Beitrag Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von „Der Antichrist“ und „Ecce homo“ in diesem Band.]
15 Vgl. LHN 2 und GM III 27, wo Nietzsche die Stelle zitiert und den Schluss nochmals bestärkt.
16 Nachlass 1886/87, 5[72], KSA 12.217 (im unmittelbaren Anschluss an LHN), und GM III 27. Zu Nietzsches – von dem Hegels abweichenden – Begriff der Selbstaufhebung vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche, Göttingen 1992, S. 298-304, und (ohne Kenntnis des vorigen) Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Würzburg 1995.
17 Zur Genealogie der Moral verfasste Nietzsche wenige Wochen nach der Niederschrift des Lenzer Heide-Notats zwischen dem 10. Juli und dem 28. August 1887 (vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral‘. Werkinterpretation, Darmstadt 1994, S. 32-35), Der Antichrist Ende 1888.
18 Vgl. zuvor schon JGB 195 (zitiert in GM I 7) und danach AC 24-26.
19 Die Juden hätten mit ihrer Rache, fügt er GM I 16, hinzu, „eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen“ bewiesen: „man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist.“ Vgl. AC 24.
20 Vgl. die Beiträge von Friedrich Niewöhner, Menachem Brinker, Manfred Voigts, Uschi Nussbaumer-Benz, Hanna Delf, Jacob Golomb und Renate Reschke in: Stegmaier/Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus.
21 Der Philosoph dieser Enttäuschung war für Nietzsche Arthur Schopenhauer.
22 Die Soziologie seiner Zeit hatte in Nietzsches Sicht noch eine stark metaphysisch-moralische Gestalt. Vgl. Horst Baier, Die Gesellschaft – ein langer Schatten des toten Gottes. Friedrich Nietzsche und die Entstehung der Soziologie aus dem Geist der Décadence, in: Nietzsche-Studien 10/11 (1981/82), S. 6-33. Die moderne Soziologie – insbesondere philosophisch orientierte Autoren wie Georg Simmel, Max Weber, Max Scheler, Karl Mannheim, Arnold Gehlen, Norbert Elias, Pierre Bourdieu und wohl auch Niklas Luhmann – war maßgeblich von Nietzsche beeinflusst.
23 Anlass ist immer wieder die zu seiner Zeit rege diskutierte Frage „Was ist deutsch?“. Nietzsche erörtert sie in einer Reihe von Aphorismen vor allem des V. Buches der Fröhlichen Wissenschaft und von Jenseits von Gut und Böse, die Zur Genealogie der Moral unmittelbar vorausgehen. Dabei stellt sich heraus, dass gute Antworten auf diese Frage europäische Antworten sind. Vgl. MA II, VM 323: „Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen.“
24 Zu Nietzsches Quellen im einzelnen vgl. Orsucci, Orient – Okzident, S. 53-57. Die Vererbungs-Forschung war damals in starker Bewegung.
25 FW 377. „Es giebt“, bemerkt er schon früh (M 272), „wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in großer Seltenheit“. Der Aphorismus schließt: Die Griechen, die sich mit einer Vielfalt von Rassen vermischt und gekreuzt hatten, „geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur: und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Kultur.“
26 In FW 377 formuliert Nietzsche noch aggressiver: „wir denken über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus ,Mensch‘ gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu – nicht wahr?“
27 Vgl. das Siebente Hauptstück von JGB, überschrieben „Unsere Tugenden“ (Nr. 214-239) im Ganzen.
28 Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, Kapitel 4: Differenzierung (S. 595 ff.), Kapitel 5: Selbstbeschreibungen (S. 866 ff.).
29 Daran hat sich eine breite Literatur angeschlossen, ausgehend vor allem von Jacques Derrida, Sporen. Die Stile Nietzsches, in: Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt am Main/Berlin 1986, S. 129-168.
30 [S. den Beitrag Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1) in diesem Band.]
31 Vgl. zur Interpretation dieses Aphorismus Stéphane Mosès, Nietzsche und der Gedanke des auserwählten Volkes, in: S.M., Spuren der Schrift. Von Goethe bis Celan, Frankfurt am Main 1987, S. 39-51, und Simon, Nietzsche on Judaism and Europe / Das Judentum und Europa bei Nietzsche.
32 Vgl. Nachlass 1887/88, 11[377], KSA 13.169 f. (korr.): „die Juden haben mit dem Hochmuth einer geistlichen Aristokratie das Fundament, auf dem ihr künstliches Gebilde von Theokratie erst möglich war, den Staat verachtet ... Ohne den Staat kann keine ,Kirche‘ bestehen ... Die Fremdherrschaft hält das Pathos der Distanz aufrecht.“ Die Bemerkung findet sich unter Exzerpten aus Julius Wellhausens Werk Prolegomena zur Geschichte Israels (2. Aufl. Berlin 1883), das zu einer wichtigen Quelle für Nietzsches Der Antichrist wurde.
33 Das liest sich wie ein vorgreifender Kommentar zu Theodor Fontanes Stechlin und den vorsichtigen Annäherungen des alten Grafen an ,seine‘ Juden. Auch Fontane, dessen Stellung zu den Juden der Nietzsches sehr ähnlich ist, hatte hier noch Schwierigkeiten. Vgl. Hans-Heinrich Reuter, Fontane, 2 Bde., Berlin 1968, Bd. 2, S. 742 ff. (mit dem Ergebnis, Fontane sei „an der ,Judenfrage‘ gescheitert“, S. 749), und Ernst Simon, Fontanes jüdische Ambivalenz, in: E.S., Entscheidung zum Judentum, Frankfurt am Main 1979, S. 266-275. Nietzsche nahm Fontane nicht nachweislich, Fontane Nietzsche nur oberflächlich zur Kenntnis (vgl. seine Briefe an Fr. Stephany vom 8. Juni 1893 und vom 1. Febr. 1894, an seine Tochter Mete vom 9. Aug. 1895 und an Otto Neumann-Hofer vom 1. März 1895 über die Kontroverse um Lou Andreas-Salomés Nietzsche-Buch von 1894).
34 Vgl. zu Derrida Boris Markov, Das andere Europa – aus der Perspektive Rußlands, und Byung-Chul Han, Zu Derridas Gedanken über Europ in Das andere Kap, beide in: Werner Stegmaier (Hg.), Europa-Philosophie, Berlin/New York 2000, S. 157-176 und 177-188, zu Emmanuel Levinas’ Verhältnis zu Nietzsche Werner Stegmaier, Levinas’ Humanismus des anderen Menschen – ein Anti-Nietzscheanismus oder Nietzscheanismus?, in: Stegmaier / Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus, S. 303-323.
35 Vgl. Werner Stegmaier (Hg.), Die philosophische Aktualität der jüdischen Tradition, Frankfurt am Main 2000.