17. Nietzsches Kritik der Toleranz
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.17
17.1. Toleranz in der Konkurrenz der Kulturen
Nietzsche hat sich mit harten Sprüchen vor allem seines Zarathustra den Ruf des Intoleranten schlechthin erworben. Nun ist Nietzsche nicht sein Zarathustra, und er wollte nicht mit ihm verwechselt werden. Doch auch in seinen Notaten hat Nietzsche die Toleranz als „moderne Idee“ gegeißelt, die die Realitäten des modernen Lebens verfehle und darum „falsch“ sei – für ihn eine ebenso falsche „moderne Idee“ wie „Freiheit“, „gleiche Rechte“, „Menschlichkeit“, „Mitleiden“, „das Genie“, „das Volk“, „die Rasse“, „die Nation“, „Demokratie“, „das milieu“, „Utilitarismus“, „Civilisation“, „Weiber-Emancipation“, „Volks-Bildung“, „Fortschritt“ und „Sociologie“.1 Aber seine Notate – und hier handelt es sich um ein sehr spätes von 1888 – hat er für sich, nicht für Leser(innen) niedergeschrieben; er veröffentlichte sie so nicht. Es sind Notate eines Philosophen, der fragte, was die Ideen seiner Zeit für Europa bedeuteten, und dabei auf Selbstverstellungen stieß, die ihm die Zukunft Europas zu gefährden schienen. Sein Ideal war der „gute Europäer“, den er sich als „freien Geist“ dachte, der den „alteuropäischen“ Ideen verbunden war, zugleich aber zu ihnen in Distanz treten und sich frei zu ihnen verhalten konnte, um unter neuen Bedingungen neue Alternativen zu ihnen zu sehen. Die Zukunft Europas war für Nietzsche nicht „das Volk“, nicht „die Nation“, schon gar nicht „die Rasse“,2 sondern die Weltgesellschaft. Darüber hatte er sich schon in seinem ersten Aphorismen-Buch Menschliches, Allzumenschliches öffentlich ausgesprochen. Er nannte seine Zeit dort ein „Zeitalter der Vergleichung“ und charakterisierte es so:
Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluten der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können [...]. Es ist das Zeitalter der Vergleichung! Das ist sein Stolz, — aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt. (MA I 23)3
Jede Kultur ist heute dem Vergleich ausgesetzt und damit für sie selbst nicht mehr selbstverständlich. Sie versteht sich mehr und mehr von anderen Kulturen her, die so auch mehr und mehr in sie einfließen. So toleriert sie mehr und mehr andere Kulturen – nach ihren eigenen Maßstäben, denn jeder Vergleich von Kulturen geht unvermeidlich von der eigenen Kultur des Vergleichenden aus. Aber sie konkurriert nun auch mit anderen Kulturen in der „neuen Cultur“ einer Weltgesellschaft, in der es darum geht, „die Erde als Ganzes ökonomisch [zu] verwalten“:
die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann [...]. Aber die Menschen können mit Bewusstein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. (MA I 24)
Die Konkurrenz transformiert die Kulturen – und die Toleranz: Die „Privatmoral“ einer „abgeschlossenen originalen Volks-Cultur“ muss sich nun auf eine „Weltmoral“ einlassen, zu der die alteuropäische Toleranz nicht zwingend gehört. Europäer, die „sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen“, können sich nicht mehr auf „die ältere Moral“ verlassen, die davon ausging, dass alle Menschen im Rahmen einer gemeinsamen Vernunft handeln. Das war, so Nietzsche im Blick auf die entstehende Weltgesellschaft,
eine schöne naive Sache; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende Kenntniss der Bedingungen der Cultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts. (MA I 25)
17.2. Kritik der bequemen Toleranz
Sofern die „Kenntniss der Bedingungen der Cultur“ nur von der jeweils eigenen Kultur aus zu erwerben ist, muss sie von einer Kritik im Sinn Kants ausgehen, dessen Kritik der reinen Vernunft eine Selbstbegrenzung der Vernunft war.4 Kritik der Toleranz im Sinne Kants und Nietzsches hieße danach Selbstbegrenzung der europäischen Toleranz an Stelle der „naiven“ Erwartung ihrer globalen Durchsetzbarkeit in der entstehenden Weltgesellschaft aufgrund einer als gemeinsam vorausgesetzten Vernunft.
Die Kritik der Idee der Toleranz in diesem Sinn hat schon am Ende des 18. Jahrhunderts und gerade bei ihren bedeutendsten Autoritäten eingesetzt. Moses Mendelssohn, Galionsfigur der religiösen Toleranz, der Jude, der es als Aufklärer zu höchster Anerkennung in Deutschland gebracht und dem sein Freund Lessing in seinem Nathan der Weise ein großes Denkmal gesetzt hatte, schrieb 1784: „Von der Toleranz, welche in allen Zeitungsblättern so sehr herrscht, habe ich bei weitem die günstigste Meinung nicht [...]. So lang noch das Vereinigungssystem im Hinterhalte lauert“ – gemeint ist die Absicht, mit Geduld und Entgegenkommen die Juden schlussendlich zum Christentum zu bekehren –, „scheint mir diese Toleranzgleißnerei noch gefährlicher als offene Verfolgung.“5 Kant würdigte die Gewährung der Religionsfreiheit durch Friedrich II. von Preußen ausdrücklich und öffentlich dafür, dass er „selbst den hochmüthigen Namen der Toleranz von sich ablehnt[e]“. Er hielt dabei fest, dass Friedrich zugleich ein „wohldisciplinirtes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat[te]“, also Freiheit (zum „Räsonnieren“) gewährte, aber zugleich Gehorsam verlangte, ein, so Kant, „befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen betrachtet, darin fast alles paradox ist.“6 Und nach Goethe sollte Toleranz „eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“7
Sie alle und auch Nietzsche waren keine Gegner der Toleranz und selbst als höchst tolerante Menschen bekannt. Sie drängten im Gegenteil darauf, dass Toleranz nicht ausreiche und ihrerseits der Aufklärung bedürfe. Nietzsche begann damit schon in seiner Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung zum Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Er schrieb dort, die meisten brächten es
nur zur Toleranz, zum Geltenlassen des einmal nicht Wegzuläugnenden, zum Zurechtlegen und maassvoll-wohlwollenden Beschönigen, in der klugen Annahme, dass der Unerfahrene es als Tugend der Gerechtigkeit auslege, wenn das Vergangene überhaupt ohne harte Accente und ohne den Ausdruck des Hasses erzählt wird (UB II / HL 6, KSA 1.288 f.)
Und in der Morgenröthe heißt es dann:
In den Angelegenheiten der Sitte auch einmal wider seine bessere Einsicht handeln; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen: – das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als „honett“, „human“, „tolerant“, „nicht pedantisch“, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird: und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhass verdammt, und ein Dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. (M 149)
Mit der selbstverständlich gewordenen Toleranz ist auch „das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen“ worden. Was Nietzsche und zuvor schon Mendelssohn, Kant und Goethe angreifen, ist das Es-sich-bequem-Machen mit der Toleranz, das sich rasch einstellte und einstellen musste, als sie zur modernen Leitidee ausgerufen, moralisch anerkannt und politisch durchgesetzt wurde.8 Dieses Es-sich-bequem-Machen habe auch die Wissenschaft erfasst, in der es „gar kein Recht zu dieser Toleranz-Übung“ gebe. Die „huldreiche Gebärde“ könne „eine gröbere Verunglimpfung der Wissenschaft [sein] als ein offener Hohn, welchen sich irgend ein übermüthiger Priester oder Künstler gegen sie erlaubt“. Denn als tolerante laufe die Wissenschaft Gefahr, unliebsame ,Wahrheiten’ zurückzuhalten und auszubilden. Sie trübe mit einer solchen Toleranz „jenes strenge Gewissen für Das, was wahr und wirklich ist,“ und hindere daran, dass es „quält und martert“ (M 270).
In seinen Notaten gestand sich Nietzsche noch weitere unangenehme ,Wahrheiten‘ über die Toleranz ein. Sie könne, hält er fest, gerade bei denen, die hohe Ideale haben, zur habituellen Unehrlichkeit führen – und zugleich ein Zeichen der Schwäche solcher Ideale sein:
Was ist Toleranz! Und Anerkennung fremder Ideale! Wer ganz tief und stark sein eigenes Ideal fördert, kann gar nicht an andere glauben, ohne sie abschätzig zu beurtheilen — Ideale geringerer Wesen als er ist. Die absolute Höhe unseres Maaßstabes ist eben der Glaube an das Ideal. — Somit ist Toleranz historischer Sinn sogenannte Gerechtigkeit ein Beweis des Mißtrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben. (Nachlass 1881, 11[99], KSA 9.476 f.)
Und so zeigten sich dort auch regelmäßig Grenzen der Toleranz, wo die eigene Freiheit zur Toleranz berührt sei:
Diese Toleranzprediger! Ein Paar Dogmen („fundamentale Wahrheiten“) nehmen sie doch immer aus! Sie unterscheiden sich nur in der Meinung darüber von den Verfolgern, was für das Heil nothwendig sei. (Nachlass 1881, 11[109], KSA 9.480)
Zu diesen Dogmen gehört nach Nietzsche auch die Berufung auf ,die‘ Vernunft, die doch immer die eigene ist und der fremde Vernunft jederzeit widersprechen kann. Und eben darin folgt er Kant, der, was erst Josef Simons Kant-Interpretation deutlich gemacht hat,9 selbstverständlich vom Gegensatz von eigener und fremder Vernunft ausging – Kants berühmte Maxime der Aufklärung, jeder solle wagen, „sich seines eigenen Verstandes“ – im Weiteren sagt Kant: „seiner eigenen Vernunft“, „in seiner eigenen Person“10 – zu bedienen, hat nur Sinn unter Voraussetzung dieses Gegensatzes. Nietzsche notiert:
Sich an die Vernunft halten wäre schön, wenn es eine Vernunft gäbe! Aber der Tolerante muß sich von seiner Vernunft, ihrer Schwäche abhängig machen! Dazu: es ist zuletzt nicht einmal diese, welche den Beweisen und Widerlegungen ihr Ohr geschenkt und entscheidet. Es sind Neigungen und Abneigungen des Geschmacks. Die Verfolger sind gewiß nicht weniger logisch gewesen als die Freidenker. (Nachlass 1881, 11[109], KSA 9.480)
17.3. „Tiefe“ Toleranz: Die Paradoxien
der Toleranz
Aber Nietzsche belässt es nicht bei dieser Kritik. Stattdessen denkt er die Toleranz weiter, als „tiefe“ Toleranz. Tiefe Toleranz im Sinne Nietzsches ist eine zur Haltung gewordene Toleranz, die sich auch gegen den „feinen Nothstand“ aufrechterhält, sich von Intoleranz in Frage stellen zu lassen. Nietzsche macht das an einem religiös erzogenen Gelehrten deutlich, der sich von religiösen Einwänden nicht mehr beirren läßt:
Die praktische Gleichgültigkeit gegen religiöse Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut; und es kann gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst mit sich bringt. (JGB 58)
Zwar ist auch ein solcher Gelehrter, so Nietzsche weiter, „im guten Gewissen seiner Toleranz“ noch naiv, denn auch er folgt dabei noch brav den gängigen „,modernen Ideen‘“:
Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von Naivetät, um deren Erfindung sie andre Zeitalter beneiden dürfen: – und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, hinauf gewachsen ist, – er, der kleine anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-flinke Kopf- und Handarbeiter der ,Ideen‘, der ,modernen Ideen‘! (JGB 58)
Doch die Folge seiner ,tiefen Toleranz‘ ist eine Vervielfältigung seines Ich: Wer sich in seiner Wissenschaft gegen religiöse Anfechtungen sicher weiß, kann nebenbei dennoch eine Religion praktizieren. Nietzsche gilt als Herold des vielfältigen Ich und hat es doch – wiederum im veröffentlichten Werk – im Namen des „intellektuellen Gewissens“ unmißverständlich angegriffen:
Zum „intellektuellen Gewissen“. [...] Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen, – sie hüten sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt man sich heute? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist … (GD, Streifzüge 18)
Nietzsche antwortet auf die ,Toleranz gegen sich selbst‘ mit der Konsequenz gegen sich selbst, die sich auf – aus ihrer Sicht – nicht Haltbares nicht einlässt. Konsequenz zieht der Toleranz Grenzen. Dies wird nun freilich gerade von ,modernen Menschen‘ begrüßt, die eine allzu ausgreifende Toleranz als Desorientierung erfahren. Bei dieser Desorientierung setzt Nietzsche zu Beginn von Der Antichrist an:
„Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss“ – seufzt der moderne Mensch … An dieser Modernität waren wir krank, – am faulen Frieden, am feigen Compromiss, an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein. Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles „verzeiht“, weil sie Alles „begreift“, ist Scirocco für uns. (AC 1)
Nietzsche sagt „wir“, er nimmt sich nicht aus, die Erfahrung ist auch seine eigene. Er versucht nun aber, über sie hinauszukommen. Die Begrenzung der Toleranz wird zu Intoleranz und damit paradox. Wer von sich aus Grenzen der Toleranz zieht, handelt sich den berechtigten Vorwurf der Intoleranz ein. Aber auch wer keine Grenzen der Toleranz zieht, gerät in eine Paradoxie, die Paradoxie, Untolerierbares tolerieren zu müssen. Und beide Paradoxien müssen ethisch in Kauf genommen werden. Eine moralische und mehr noch eine religiöse Überzeugung muss intolerant sein, wenn sie konsequent sein will: sie muss ausschließen, wodurch sie in Frage gestellt wird. Wer zur Zeit der Reformation aus tiefer Überzeugung Protestant wurde, konnte den römischen Papst nicht mehr tolerieren, und wer aus tiefer Überzeugung katholisch blieb, musste den Protestantismus aufs äußerste bekämpfen. Er musste es nicht nur für gerechtfertigt, sondern für gefordert halten, den andern auf jede Weise aus seinem Glaubensirrtum, für den er ihn halten musste, zu befreien, und davon abzulassen, musste ihn schwere Überwindung kosten. Er musste dann – nach seiner Überzeugung – Untolerierbares tolerieren. Religiös Untolerierbares zu tolerieren wurde aber notwendig angesichts der verheerenden europäischen Religionskriege der frühen Neuzeit; sie zwangen schließen, die Paradoxie zu akzeptieren.11 Im Römischen Reich, das nach heutigen Begriffen großzügige religiöse Toleranz pflegte, bedeutete ,tolerantia‘ noch nicht moralische oder religiöse Toleranz, sondern Ertragen-Können von Leiden.12 In der christlichen Patristik stand, wie das Historische Wörterbuch der Philosophie ausweist, ,tolerantia‘ noch ,patientia‘, der bloßen Geduld, nahe; auf der islamisch beherrschten Iberischen Halbinsel konnten Islam, Judentum und Christentum lange friedlich koexistieren; in der Scholastik meinte man mit ,tolerantia‘ noch die Duldung sündigen Verhaltens zur Vermeidung größeren Übels; auch Luther befürwortete noch die ,tolerantia Dei‘ für die Sünden der Menschen. Erst mit dem erbitterten Kampf der christlichen Konfessionen wurde die Toleranz zum existenziellen Problem, stand Überzeugung gegen Überleben. Das Überleben verlangte, aus Überzeugung andere Überzeugungen gelten zu lassen, und die Form, die diese Paradoxie schließlich fand, war der moderne Rechtsstaat. Er ist getragen von der Überzeugung, dass jeder seinen religiösen und moralischen Überzeugungen folgen können soll und darum andere Überzeugungen anderer tolerieren muss, auch wenn er sie für ,verkehrt‘ hält. Aber auch dieser Überzeugung vom Tolerieren-Müssen anderer Überzeugungen wird eine Grenze gezogen – vom Rechtsstaat gegen seine Gegner. Die begrenzte Toleranz des Rechtsstaats ist inzwischen so selbstverständlich geworden, dass ihre Paradoxien nicht mehr auffallen. So konnte ,Toleranz‘ schließlich auch einen schlicht technischen Sinn bekommen, den Sinn des notwendigen Spielraums eingepasster Werkstücke in der Fertigungstechnik, der hingenommenen Abweichung vom vorgeschriebenen Edelmetallgehalt im Münzwesen, der Empfindlichkeit gegenüber Arzneimitteln und Giften in der Pharmakologie und des Ertragen-Könnens von Frustrationen in der Psychologie (,Frustrationstoleranzniveau‘).
17.4. „Grosse Toleranz“:
Die „grossmüthige Selbstbezwingung“
Für Paradoxien gibt es keine allgemeingültigen logischen Lösungen, nur individuelle und situative: wo sie entstehen, kann und muss man nach eigenen Maßstäben entscheiden. Zu dieser Entscheidung gehört dann Mut und Kraft, und Nietzsche unterscheidet darum eine Toleranz aus Stärke von einer Toleranz aus Schwäche. Auch Toleranz aus Stärke kann leicht sein – eine überlegene Macht, so Nietzsche, kann sie sich aus „Luxus“ leisten (FW 358). Er nennt dafür eben das Beispiel des Römischen Reichs mit „seiner vornehmen und frivolen Toleranz“ in allen Glaubensfragen (JGB 46) und auch der Katholischen Kirche, die in Rom groß wurde. Denn sie habe wie keine andere Institution auf abgestufte Toleranz gehalten und die „Geistigkeit“ von Menschen danach unterschieden, wie viel sie an Toleranz verkraften und wie sehr sie auf Gewalt verzichten können:
eine Kirche ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, – damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere Institution als der Staat. (FW 358)
Nietzsches drittes Beispiel aber ist eine Person: Goethe. Er habe aus Stärke eine solche Toleranz gezeigt, dass Nietzsche ihm den höchsten Namen zuerkannte, den er zu vergeben hatte, den Namen des Dionysos:
Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die Schwäche, heisse sie nun Laster oder Tugend … Ein solcher freigewordner Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im Glauben, dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht — er verneint nicht mehr … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben: ich habe ihn auf den Namen des Dionysos getauft. – (GD, Streifzüge 49)
Menschen nach Rangunterschieden und sei es in ihrer Kraft zur Toleranz zu unterscheiden,13 widerstrebt demokratischen Gewohnheiten. Aber die Demokratie wird dadurch nicht nur nicht in Frage gestellt, vielleicht lebt sie sogar davon.14 Sie muss anders als eine Theokratie und theokratisch legitimierte Monarchie, die institutionelle Autoritäten voraussetzen, aus ihren Bürgern immer neu Einzelne zu Führungsaufgaben gewinnen, die mehr als andere Maßstäbe setzen und festhalten und nach ihnen kollektiv bindende Entscheidungen treffen können. Eine Herrschaftsform, die auf die Kraft aller Einzelnen zur Herrschaft setzt, verlangt, was Nietzsche schon früh in seinen Notaten und zuletzt auch im zur Veröffentlichung bestimmten Werk „grosse Toleranz“ nannte. Groß ist für Nietzsche nicht einfach das, was andere überragt, sondern das, was fähig ist, das ihm Entgegengesetzte für sich fruchtbar zu machen. So macht sich die „grosse Vernunft des Leibes“ auch noch den Geist, „das Leben, das selber in’s Leben schneidet“, als „kleine Vernunft“ zu ihrem „Werk- und Spielzeug“, und eine „grosse Gesundheit“ kann sich schweren Krankheiten „preisgeben“ und dadurch noch robuster werden.15 Die „grosse Toleranz“ wäre danach die, die ihre Paradoxien tolerieren und an ihnen wachsen kann. In einem frühen Notat hatte Nietzsche in ihr ein Kennzeichen der „Liebe zum Leben, zum eigenen Leben“ gesehen –
Was auch jeder Einzelne dafür erdenkt, das wird der Andere gelten lassen, und eine neue große Toleranz dafür sich aneignen müssen: so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt! (Nachlass 1881, 11[183], KSA 9.502)
– und sie neben der „Feindschaft gegen alles und Alle, die den Werth des Lebens zu verdächtigen suchen“ als eine „Haupttendenz“ seines eigenen Philosophierens vermerkt. Danach soll die Liebe zum Leben nur „Finsterlinge und Unzufriedene und Murrköpfe“ nicht tolerieren. Doch Nietzsche fügt schon hier hinzu: „unsere Feindschaft muß selber ein Mittel zu unserer Freude werden!“ So wird, nach diesem Notat, aus der Liebe zum Leben ein „Todkampf“ (Nachlass 1881, 11[183], KSA 9.502).16 Zuletzt aber, in Der Antichrist, seiner harten Polemik nicht gegen Christus, sondern gegen das zum Dogma gewordene, zum Dogma verhärtete, intolerante Christentum, bringt er die „grosse Toleranz“ auf den Begriff der „grossmüthigen Selbstbezwingung“ gegenüber allem Geschehenen und Vergangenen:
Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung. (AC 38)
Großmütige Selbstbezwingung ist die Toleranz, anderen um ihretwillen und ohne Erwartung von Gegenseitigkeit so viele Spielräume zu lassen, wie man eben noch ertragen kann.17 Man sucht dann Intoleranz nicht bei andern, sondern bei sich selbst, als Mangel an Kraft zur Toleranz. Macht man die Toleranz zur „normativen Grundorientierung“ und zum „normativen Kern einer offenen Gesellschaft“,18 so kann das „intellektuelle Gewissen“ dies doch nur von jedem selbst, nicht von andern fordern, die vielleicht nicht dieselben Spielräume und dieselbe Kraft dazu haben. Die Kraft zur Toleranz steht dem einen mehr, dem andern weniger und jedem wiederum in der einen Situation mehr, in der andern weniger zu Gebote. Sie lässt sich nicht verallgemeinern und darum auch nicht normieren, jeder ist mit ihr allein. Nietzsche hat darum zuletzt noch, nur für sich selbst, notiert und für sich selbst noch einmal bekräftigt: „Nur der Einsiedler kennt die große Toleranz.“ Und weil die Toleranz unter nicht immer toleranten Menschen so paradox ist, hat er, für sich, hinzugefügt: „Die Liebe zu den Thieren – zu allen Zeiten hat man die Einsiedler daran erkannt…“19 Wer sich großmütig der grossen Toleranz auch gegen Menschen aussetzt, die immer nur begrenzt tolerant sein können, muss sich von Zeit zu Zeit von den Menschen erholen.
1 Nachlass 1888, 16[82], KSA 13.514. – Nietzsches Beurteilung der Toleranz ist, soweit ich sehe, bisher kaum Thema der Nietzsche-Forschung gewesen. Einige eher beiläufige Bemerkungen finden sich bei Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, 4. Aufl. 1974, aus dem Am. übers. v. Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982, S. 292, 328 u. 370, Henning Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 17), Berlin/New York 21999 , S. 210-213 („pluralistisch-tolerante Autonomiemoral“) und Michael Steinmann, Die Ethik Friedrich Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 43), Berlin/New York 2000 , S. 9 u. 179.
2 Vgl. Gerd Schank, „Rasse“ und „Züchtung“ bei Nietzsche (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 44), Berlin/New York 2000.
3 Nach Niklas Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: N.L., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt am Main 1995, S. 31-54, entstand die Kultursemantik im Europa des 18. Jahrhunderts eben zum Zweck der Vergleichung, d.h. der Reflexion der Kulturen aneinander – als die Semantik der Universalien ihre Plausibilität zu verlieren begann: „Die Artikulation und Formulierung von Kultur ersetzt die weltinvarianten Wesensformen auf der Basis vergleichender Beobachtungen – durch Reflexion. Damit können auch die Raum und Zeitdifferenzen überbrückt werden. Die Thematisierung von Kultur ist ein Indikator dafür, daß, von Europa ausgehend, eine Weltgesellschaft im Entstehen begriffen ist.“ (S. 49)
4 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B XXII. Vgl. Josef Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie, Berlin/New York 2003, S. 228: Kritik im Sinn Kants „kritisiert die Verabsolutierung jeder begrifflich-logischen Bestimmung vom eigenen Standpunkt der Urteilsbildung aus. Damit bringt sie den Gesichtspunkt fremder Vernunft zur Geltung, deren anderer Standpunkt vom eigenen aus wohl zu bemerken, aber nicht einzusehen ist.“
5 Moses Mendelssohn an Herz Homberg am 1. 3. 1784, in: Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, hg. von A. Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff., Bd. XIII, S. 179, zit. von Friedrich Niewöhner, „Es hat nicht jeder das Zeug zu einem Spinoza“. Mendelssohn als Philosoph des Judentums, in: Michael Albrecht u.a. (Hg.), Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 19), Tübingen 1994 , S. 291-313, hier S. 310 f.
6 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Akademie-Ausgabe [AA], Bd. VIII, S. 40 f.
7 Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 12, München 1981/1998, S. 385. Vgl. Nietzsche, Nachlass 1885/86, 1[182], KSA 12.51: „gegen das Unverständliche bleibt man kalt, und Kälte beleidigt.“
8 Nietzsche hält daran bis in seine späten Notate hinein fest. In einer Aufstellung, die er doppelt mit „Die Guten“ und „Zur Kritik der Heerden-Tugenden“ überschreibt, heißt es: „Die inertia thätig
1) im Vertrauen, weil Mißtrauen Spannung, Beobachtung, Nachdenken nöthig macht
2) in der Verehrung, wo der Abstand der Macht groß ist und Unterwerfung nothwendig: um nicht zu fürchten, wird versucht zu lieben, hochzuschätzen und die Machtverschiedenheit als Werthverschiedenheit auszudeuten: so daß das Verhältniß nicht mehr revoltirt.
3) im Wahrheitssinn. Was ist wahr? Wo eine Erklärung gegeben ist, die uns das minimum von geistiger Kraftanstrengung macht. Überdies ist Lügen sehr anstrengend.
4) in der Sympathie. Sich gleichsetzen, versuchen gleich zu empfinden, ein vorhandenes Gefühl anzunehmen ist eine Erleichterung: es ist etwas Passives gegen das activum gehalten, welches die eigensten Rechte des Werthurtheils sich wahrt und beständig bethätigt. Letzteres giebt keine Ruhe.
5) in der Unparteilichkeit und Kühle des Urtheils: man scheut die Anstrengung des Affekts und stellt sich lieber abseits, ,objektiv‘
6) in der Rechtschaffenheit: man gehorcht lieber einem vorhandenen Gesetz als daß man sich ein Gesetz schafft, als daß man sich und Anderen befiehlt. Die Furcht vor dem Befehlen — Lieber sich unterwerfen als reagiren.
7) in der Toleranz: die Furcht vor dem Ausüben des Rechts, des Richtens“ (Nachlass 1886/87, 7[6], KSA 12.274 f.).
Vgl. auch Nachlass 1887, 9[165], KSA 12.432, wo Nietzsche die Toleranz nicht mehr an den Schluss, sondern an den Anfang stellt: „Die Zuchtlosigkeit des modernen Geistes unter allerhand moralischem Aufputz: Die Prunkworte sind: die Toleranz (für ,Unfähigkeit zu Ja und Nein‘)“.
9 Simon, Kant. Die fremde Vernunft und die Sprache der Philosophie.
10 Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, AA VIII, S. 35, vgl. S. 38.
11 Vgl. Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Münster 32007.
12 Vgl. G. Schlüter / R. Grötker, Art. Toleranz, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel/Darmstadt 1998, Sp. 1251-1262, hier Sp. 1252.
13 Vgl. Nachlass 1886/87, 7[6], KSA 12.280: „Meine Philosophie ist auf Rangordnung gerichtet: nicht auf eine individualistische Moral. Der Sinn der Heerde soll in der Heerde herrschen, — aber nicht über sie hinausgreifen: die Führer der Heerde bedürfen einer grundverschiedenen Werthung ihrer eignen Handlungen, insgleichen die Unabhängigen, oder die ,Raubthiere‘ usw.“
14 Vgl. die Forschungsberichte von Martina Bretz / Doris Vera Hofmann, Nietzsche now. Zum Stand der amerikanischen Nietzsche-Forschung, in: Nietzsche-Studien 29 (2000), S. 332-354, bes. S. 333-339, und Herman Siemens, Nietzsche’s Political Philosophy. A Review of Recent Literature, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 509-526. Zum politischen Nietzsche in der aktuellen französischen Nietzsche-Forschung vgl. Martina Bretz / Doris Vera Hofmann, Französische Neuerscheinungen zur Nietzsche-Forschung, in: Nietzsche-Studien 32 (2003), S. 453-488, hier S. 457- 464.
15 Za I, Von den Verächtern des Leibes; Za II, Von den berühmten Weisen; FW 382. [Zum Sinn von „groß“ bei Nietzsche s. auch den Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches in diesem Band.]
16 Zugleich mahnt sich Nietzsche aber zur Toleranz auch hier. Vgl. Nachlass 1880/81, 10[E94], KSA 9.436: „Wir wollen diese Denkweise welche in dem kleinen oder großen Irrsinn den Richter und Verurtheiler des Daseins erkennt, nicht mehr in der Philosophie dulden und uns dagegen sträuben daß sie unter dem Schleier der Kunst geborgen weiter lebe. – Sind wir hier ohne Toleranz? Von neuem fanatisch? – Man sehe erst zu, was wir thun wollen: nichts mehr und nichts weiteres als uns nicht mehr um die verkehrte Welt kümmern.“
17 Vgl. JGB 27: „man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber ,die guten Freunde‘ anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn“. [S. dazu den Beitrag Nietzsches Zeichen in diesem Band.]
18 Julian Nida-Rümelin, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Toleranz ist mehr als Gleichgültigkeit gegenüber abweichenden Verhaltensweisen: Eine Rede aus gegebenem Anlaß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 2001, S. 48. Nida-Rümelin unterscheidet in seinen konsequent normativ angelegten Ausführungen Toleranz aus Indifferenz, aus Empathie und aus Respekt: „Die Haltung der Toleranz aus Respekt ist die Basis einer human verfaßten Gesellschaft.“ Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003, unterscheidet in normativer Hinsicht eine (schwache) „Erlaubnis-Konzeption“ (Minderheiten wird ein Existenzrecht eingeräumt, solange sie Minderheiten bleiben), eine „Koexistenz-Konzeption“ (gleich Starke dulden einander gegenseitig), eine „Respekt-Konzeption“ (man achtet einander und anerkennt die Verschiedenheit ihrer Überzeugungen) und eine (starke) „Wertschätzungs-Konzeption“ der Toleranz (man schätzt einander und die anderen Überzeugungen auch für sich selbst, doch ohne sie zu übernehmen) (S. 42-48). Sie gewinnen jedoch erst in der Geschichte konkretes Profil, können in ihr auch selbst Konflikte erzeugen und zur Rechtfertigung von Sanktionen gebraucht werden. Rechtfertigungen sollen jedoch „den Kriterien von Allgemeinheit und Wechselseitigkeit standhalten“ und dadurch „Relativismus“ ausschließen (S. 590). Nietzsche hat nach Forst „den Begriff der Toleranz falsch verwendet: [...] Ein Verleugnen der eigenen Ideale wäre keine Toleranz.“ Sein „Missverständnis“ sei jedoch „insofern produktiv, als er darauf verweist, wie schwierig es ist, die Balance zwischen Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung zu halten“ (S. 512).
19 Nachlass 1888, 19[1] und 19[7], KSA 13.542 u. 545 (Entwürfe zu Vorworten für geplante Bücher).