2. Nietzsches Neubestimmung
der Philosophie
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.02
2.1. Die Aufgabe einer Steigerung der Kultur
In der Zeit um 1870, als Nietzsche seine ersten großen Schriften, die Geburt der Tragödie und die Unzeitgemässen Betrachtungen, erarbeitete, waren die Diadochen-Kämpfe um Hegels Philosophie verebbt. Zurückblieb ein Übermaß an Philosophie. Die Zeit, die in Deutschland auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet eine ,Gründerzeit‘ war und eine Stimmung von Aufbruch und Fortschritt auch in Wissenschaft und Philosophie hinein verbreitete, brachte in kurzer Folge eine solche Fülle von ,Logiken‘, ,Erkenntnistheorien‘, ,Systemen‘ und ,Weltanschauungen‘ mit hohem Anspruch auf eine jeweils neue Weltdeutung, fast möchte man sagen, auf den Markt, dass sie selbst uns erstaunt, die wir uns inzwischen an eine Vielzahl von Schulen, Strömungen und Moden in der Philosophie gewöhnt haben. Es macht den Rang Nietzsches aus, dass er dem Übermaß an ,Systemen‘ nicht ein weiteres hinzufügte, sondern nach dem ,Wert‘ der Philosophie zu seiner Zeit überhaupt fragte. Er trat bewusst von der Philosophie und ihrer Tradition zurück, um aus seiner Zeit zu erfassen, was die Philosophie für diese Zeit noch bedeuten konnte. Wie der Historie, so wollte er auch der Philosophie nur ,dienen‘, soweit sie dem ,Leben‘ diente. Aufgabe einer Philosophie aber, die dem Leben diente, war für ihn nicht das ,System‘, sondern die „Erhöhung“, das „Wachsthum“ oder die Steigerung der Kultur.1
Der Gedanke, dass eine Kultur gesteigert werden sollte, ist uns heute fremd geworden. Kultur ist nach Nietzsches berühmter Bestimmung in der Ersten Unzeitgemässen Betrachtung „vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes.“ (DS 1, KSA 1.163) Er nimmt hier den modernen Kultur-Begriff Herders auf, der ihn zu einem Begriff der Gesellschaft und der Geschichte gemacht hat. In ihrem ursprünglichen, römischen Sinn ist Kultur dagegen ein Begriff der Erziehung und Bildung des Einzelnen und wird analog zu cultura agri mit dem Genetiv animi gebraucht: cultura animi ist die geduldige Pflege des animus, der Tatkraft eines Römers von Rang, der sich als Redner, Staatsmann und Feldherr zu bewähren und sich dazu auch mit Kunst und Wissenschaft vertraut zu machen hat, und hierbei kommt der Philosophie dann entscheidende Bedeutung zu – Cicero setzt cultura animi geradezu mit philosophia gleich.2 Dass eine solche Kultur des Einzelnen gesteigert werden kann, ist leicht zu sehen. Wie aber sollte eine Kultur im modernen, Herderschen Sinn gesteigert werden? Nietzsche folgt nicht mehr Lessings und Schillers Ideal einer „Erziehung des Menschengeschlechts“. Eine nationale und geschichtliche Kultur kann nicht nach einem vorgegebenen Bildungsideal planmäßig gesteigert werden, sondern ist von einer unabsehbaren Fülle unberechenbarer Bedingungen abhängig. Sie kann sich nur steigern, indem sie „wächst“ – Nietzsche deutet sie wie Herder nach dem organologischen Modell, das seinerseits aus der Antike stammt und gegen das wir besonders misstrauisch geworden sind, seit Spengler seine ideologischen Prophetien aus ihm abgeleitet hat. Nach diesem organologischen Modell kann eine Kultur „erblühen“ und „erstarken“ – auch hier nicht nur zur „Blüte“ von Kunst und Wissenschaft, sondern ebenso zu ökonomischer, politischer und militärischer Stärke – , und sie muss nach diesem Modell auch wieder „niedergehen“ und „absterben“. In einem solchen Niedergang sieht Nietzsche die deutsche und europäische Kultur begriffen. Er notiert 1884, er habe an seiner Jugend gelitten „wie an einer schweren Krankheit. Das macht die Zeit, in die wir geworfen sind, – die Zeit eines großen immer schlimmeren Verfallens und Auseinanderfallens […]: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes – wo wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen können.“ (Nachlass 1884, 25[9], KSA 11.11 f.)
Steigerung der Kultur heißt für Nietzsche darum „Lebenssteigerung“ (Nachlass 1887/88, 11[83], KSA 13.40), Lebenssteigerung aber „Macht-Steigerung“ (Nachlass 1888, 14[184], KSA 13.370): „Die Bedingungen jeder Erhöhung der Cultur […] sind die Bedingungen allen Wachsthums.“ (Nachlass 1885/86, 2[128], KSA 12.127) Macht-Steigerung aber ist nichts, worauf ein lebendiges Wesen auch verzichten könnte, um sich nur auf seine Erhaltung zu beschränken. Unablässig und unberechenbar sich verändernden Bedingungen ausgesetzt, kann es nur bestehen, wenn es seinerseits immer neue Kräfte und Fähigkeiten entwickelt, um den neuen Bedingungen zu entsprechen, wenn es also seine Macht steigert. Erhaltung und Steigerung sind keine Gegensätze, Erhaltung ist nur durch Steigerung möglich. Die vier Unzeitgemässen Betrachtungen Nietzsches handeln von der Steigerung der Kultur in diesem Sinn: sie ist nach der ersten nicht schon durch den militärischen Sieg über Frankreich erwiesen – „bis jetzt giebt es keine originale deutsche Kultur“ (DS 1, KSA 1.164) –, sie erfordert nach der zweiten ein neues Wissenschafts-Verständnis, und sie braucht nach der dritten große Erzieher in Philosophen wie Schopenhauer, Erzieher, die jedoch nicht wie bestallte Lehrer, sondern ebenso unberechenbar auftreten wie die übrigen Bedingungen einer Kultur und denen sie darum entsprechen kann oder auch nicht. Dass für den jungen Nietzsche die deutsche und europäische Kultur aber alle Möglichkeiten hat, sich zu steigern, wenn sie sie nur wahrnimmt, zeigt sich nach der Vierten Unzeitgemässen Betrachtung im Stil der neuen Kunst, die sich in Wagner ankündigt.
Wenn wir heute Mühe haben, diesen Sinn einer Steigerung der Kultur nachzuvollziehen, so deshalb, weil unser Kulturverständnis konservativ und föderalistisch geworden ist: Unsere Weltgesellschaft, die sich vorrangig ökonomisch und politisch definiert, lässt nationale oder kontinentale Kulturen gleichsam in Reservaten fortbestehen, in denen ihnen unter Vermeidung von Wettbewerb und Verdrängung eine begrenzte Autonomie zugestanden und ihr materielles Auskommen gesichert wird. Nur wenn man bereit ist, die unterschiedlichen ökonomischen und politischen Gesellschaftssysteme als Kulturen anzusprechen, wird auch heute ein Wettbewerb sichtbar, in dem solche Kulturen ihre Stile zugleich bewahren und aneinander steigern. Nietzsche hat die Weltgesellschaft heraufkommen sehen und ihre Bedeutung für die Philosophie und der Philosophie für sie erkannt. Es ist jedoch kaum in seinem Sinn, Gesellschaftssysteme, die ihre Ziele vorrangig in der Steigerung ihrer ökonomischen, politischen und militärischen Macht sehen, als Kulturen zu betrachten.
In einer Zeit, die er als Niedergang der deutschen und europäischen Kultur empfand, fragte Nietzsche also nach der „Kraft“ der Philosophie, aus den Bedingungen eben dieser Zeit eine neue, „höhere“ Kultur hervorzubringen. Dass er der Philosophie diese Kraft zutraute, war, so obsolet uns das heute anmutet, im 19. Jahrhundert nicht ungewöhnlich; es war üblich, Philosophien unter große gesellschafts- und kulturpolitische Perspektiven zu stellen. Nietzsche beließ es jedoch nicht bei Appellen in Vorworten. Mit dem Ziel einer Steigerung der Kultur ließ er einerseits die Politisierung, die die Philosophie nach Hegel ergriffen hatte, und andererseits die Akademisierung hinter sich, die im Nachmärz darauf gefolgt war.3 Eine Steigerung der Kultur setzte für Nietzsche voraus, deren Bedingungen im Ganzen zu erfassen und zwar so tief zu erfassen, dass darin schon die Spielräume der neuen, „höheren“ Kultur erkennbar wurden. Dies lag weder im Bereich politischer Umgestaltung noch akademischer Traditionspflege. Nachdem es aber im Nachmärz fraglich geworden war, ob Hegels Philosophie auch die neue Zeit „in Gedanken erfassen“ könne, keine andere aber deren Breite und Tiefe erreichte, stand das Verhältnis der Philosophie zur Zeit überhaupt in Frage. Aus ihm musste darum der Begriff der Philosophie neu bestimmt werden. Was Hegel noch wie selbstverständlich in Vorworten notierte, dass die Philosophie selbst „ihre Zeit, in Gedanken erfaßt“ sei, rückte Nietzsche ins Zentrum der Philosophie und machte es zu ihrem ersten Problem.4 Er begann dessen Lösung damit, dass er in der Philosophie nicht mehr nach einem letzten, zeitlosen Halt suchte, sondern die Haltlosigkeit selbst als Charakter seiner Zeit und daher auch als Bedingung einer dieser Zeit entsprechenden Philosophie begriff. Er brachte dadurch die Bedingungen und Möglichkeiten der Philosophie überhaupt in Fluss und zog nicht nur die Hegelsche Philosophie, sondern darüberhinaus die ganze Tradition der europäischen Philosophie in diesen Fluss hinein. Man kann dies so ausdrücken, dass er nach Hegel über die Philosophie im Ganzen wieder neu „entschied“.5
2.2. Die Unersetzbarkeit der Religion durch Wissenschaften
Dass Nietzsche sich auch dem Neukantianismus nicht anschloss, auf den seine Zeit hindrängte, brauchen wir nicht auszuführen. Ich setze seine Neubestimmung der Philosophie stattdessen in Bezug zu Hegel. Der junge Hegel sah die Philosophie in derselben Situation wie der junge Nietzsche. Auch nach dem einleitenden Abschnitt seiner Erstlingsschrift, der Differenz-Schrift, dem Hegel den Titel Geschichtliche Ansicht philosophischer Systeme gibt, ist die Philosophie schon zu seiner Zeit in eine solche „Menge philosophischer Systeme“ auseinandergefallen, dass sie zu einer bloßen Sache der „Kenntnis“ wird, die „sich nicht mehr selbst ins Leben wagt“ und deren ganzes Interesse nun ist, die „Kollektion von Mumien“ einzuteilen und Namen für sie zu finden. Hegel zieht daraus jedoch noch nicht Nietzsches Folgerung, das Wesen der Philosophie neu aus ihrer Haltlosigkeit zu denken. Er argumentiert hier zunächst so, dass das „Wesen der Philosophie“ nicht dem „Bodenlosen“ „eigentümlicher Ansichten“ überlassen und „die teleologische Ansicht nicht fahren [ge]lassen“ werden könne, es als eines und dasselbe aus der Vernunft zu begründen, die nur eine und dieselbe, nicht eigentümlich sein könne. Dies auch nur zu wollen, heißt schon, in den philosophischen Eigentümlichkeiten grundlose Beschränkungen der Vernunft erkannt, und heißt also für die Vernunft selbst, „in der Grundlosigkeit der Beschränkungen und Eigentümlichkeiten ihre eigene Begründung in sich selbst ergriffen“ zu haben. Es ist für Hegel stets die eine und dieselbe Vernunft, die sich „aus dem Bauzeug eines besonderen Zeitalters sich eine Gestalt organisiert hat“; die Zeit tritt für Hegel nicht so in die Philosophie ein, dass sie sich aus deren Haltlosigkeit neu bestimmen müsste.
Der reife Hegel formuliert das in der Vorrede zur ersten Auflage der Enzyklopädie so, dass er die Philosophie nicht auf eine neue Art begründen, sondern ihr lediglich „eine neue Bearbeitung“ geben wolle, nun freilich, wie er hofft, „die einzig wahrhafte“. Die Probleme, die zu lösen waren, hatte Kant aufgeworfen, und sie waren auch mit Kants Mitteln zu bearbeiten: der Gehalt der Religion, „die Wahrheit“, die Kant als nicht entscheidbares Problem aus der Philosophie als Wissenschaft ausgegrenzt hatte, sollte in der Konsequenz dieser Kantischen Philosophie als Geist begriffen werden. Die Wahrheit der Religion als Inhalt der Philosophie stand für Hegel fest. Wenn man auch darin auf „Abenteuer des Gedankens“ auszog und sich zu einer „bis zur Verrücktheit gesteigerten Aberwitzigkeit“ hinreißen ließ, so mochte das der „jugendlichen Lust der neuen Epoche“ zuzuschreiben sein, „welche im Reiche der Wissenschaft wie in dem politischen aufgegangen ist“. Eine solche „Morgenröte des verjüngten Geistes“ sei zwar noch immer der „Seichtigkeit“ vorzuziehen, die sich als „vernunftbescheidener Kritizismus“ ausgebe, für die Sache der Philosophie aber habe sie ebensowenig Bestand.
Von hier aus wird nun der Sinn deutlicher, den die Idee einer Steigerung der Kultur für Nietzsche hat. Seine „Morgenröthe“ bedeutet gerade, dass der von Hegel sicher geglaubte Inhalt der Philosophie verlorengegangen ist. „Die Gewässer der Religion fluthen ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück“, schreibt er in Schopenhauer als Erzieher (4, KSA 1.366). In der Religion aber erfahren Individuen, seien es einzelne Menschen oder ganze Völker, die stärkste Bindung ihrer Kräfte, den letzten Grund der Einheit ihrer Identität. Geht die Religion als dieser Grund verloren, wird die Kultur haltlos, und sie kann sich nur halten, wenn sie sich aus neuen Quellen steigern kann.
Die Religion aber lässt sich nicht, wie viele Zeitgenossen Nietzsches, vor allem der von ihm hoch geschätzte Friedrich Albert Lange, meinten, als Inhalt und Halt der Philosophie durch die Wissenschaften substituieren. Nach Hegel, aber auch nach Nietzsche können die Wissenschaften nicht der Inhalt der Philosophie sein. Hegel hat dafür in der Einleitung zur Enzyklopädie eine Begründung gegeben, die, ohne dass er darauf einginge, auch Nietzsche teilt. Die Philosophie kann sich nach Hegel nur so auf die Wissenschaften beziehen, dass sie auf den „Reiz“ antwortet, den die Wissenschaften auf sie ausüben, indem sie „die allgemeinen Bestimmungen, Gattungen und Gesetze finden“ und der Philosophie dadurch den „Stoff“ „entgegen arbeiten“, den sie dann in ihren eigenen Kategorien begreift. Die Philosophie kann sich also auch in ihrem Bezug auf die Wissenschaften nur „von sich aus“ entwickeln (§ 12). Hätte sie ihren Inhalt an ihnen, so würde sie entweder zu einem Kompendium der Wissenschaften oder, methodisch gewendet, zur Wissenschaftstheorie und verlöre ihre Eigenständigkeit. Man mag dieses Argument als bloßes Schein-Argument zur Wahrung eines akademischen Besitzstandes empfinden: Warum sollte die Philosophie ihre Eigenständigkeit nicht an die Wissenschaften verlieren, die so blendende Fortschritte gemacht haben? Das Argument geht jedoch tiefer. Die Philosophie kann sich nicht an die Wissenschaften halten, weil die Wissenschaften ihrem Wesen nach analysieren und isolieren, während die Religion bindet und verklärt. Dieses Moment, jenseits aller dogmatischen Vorstellungen, kann und will auch Nietzsche nicht aufgeben. Auch nach Hegel ist Religion der Inhalt der Philosophie nur in der Form der Vorstellung, und es ist Aufgabe der Philosophie, ihn in die Form des Begriffs aufzuheben. Entscheidend im Blick auf Nietzsche ist dabei jedoch, dass die religiöse Vorstellung durch ihre Aufhebung in den philosophischen Begriff nicht erübrigt wird. Sie ist als Vorstellung im Gegensatz zum philosophischen Begriff an individuelle Lebensbedingungen gebunden, und das bedeutet, dass man in der Religion mit seiner ganzen Individualität in der Wahrheit leben kann, dass man der Wahrheit gewiss sein kann, auch wenn sie nicht im philosophischen Sinn begriffen und gewusst wird. Religion ist eine hinreichende Lebensorientierung.
Die Wissenschaften dagegen legen sich ihre Gegenstände so zurecht, dass sie unabhängig von individuellen Lebensbedingungen zu erkennen sind, sie isolieren die objektive Wahrheit von Sachen, sie sind Sachorientierungen. Sie wissen darum wohl auf ihre Weise, was in ihren Disziplinen wahr ist. Doch die Sachorientierungen der verschiedenen Disziplinen sind untereinander unverbunden, sie haben keinen gemeinsamen Horizont, man kann in ihrer Wahrheit nicht leben. Darum ist es – für Nietzsche ebenso wie für Hegel – ein Aberglaube, dass die Wissenschaften als Lebensorientierung dienen und darum die Religion als Inhalt der Philosophie ersetzen könnten. „In das Vacuum“, notiert Nietzsche, „setzen sich alle möglichen Superstitionen.“ (Nachlass 1872/73, 19[148], KSA 7.466) Die Flucht der Lebensorientierung in die Wissenschaften und deren unbegrenzte Ausbreitung zu seiner Zeit ist „eine unnatürliche Reaktion gegen furchtbaren religiösen Druck – jetzt ins Extreme flüchtend. Ohne jedes Maß.“ (Nachlass 1872/73, 19[198], KSA 7.480) Wenn die Philosophie ihren Inhalt und Halt in den Wissenschaften sucht, ,fällt‘ sie mit ihnen ,auseinander‘. So wird es für Nietzsche vielmehr umgekehrt zum Problem und zur beständigen Aufgabe für die Philosophie, zu klären, wie die Wissenschaften ihrerseits nach dem Verlust der religiösen Weltauffassung dem Leben dienen können. Sie wird dadurch auf eine neue Weise lebenswichtig.
2.3. Nietzsches Neubestimmung der Philosophie aus den Begriffen Zeit, Maß, Kunst, Größe, Politik und Tragik
An die Stelle der Religion, die das Leben durch dogmatische Vorstellungen bindet, setzt Nietzsche das Leben selbst. Der Begriff des Lebens rückt ins Zentrum der Philosophie Nietzsches als der Begriff dessen, worauf sich die Philosophie immer schon bezieht, in das sie aber auch selbst schon als eine Lebenstätigkeit einbezogen ist. Sie kann Bezüge des Lebens darum nicht aus einem fundamentum inconcussum begründen; das Leben ist ein Ganzes, von dem man als Ganzem nicht wissen kann. Es hat in seinen Bezügen wohl eine eigentümliche Gewissheit; diese Gewissheit kommt jedoch aus der Erfahrung und der Gewohnheit und kann darum beständig enttäuscht werden. Man lebt aus ihr, aber man kann nicht auf sie bauen wie auf die Gewissheiten der Religion oder der Wissenschaften. Sie ist das Irrationale vor aller Rationalität. Wenn eine Philosophie aber den Begriff des Irrationalen schlechthin ins Zentrum stellt, läuft sie Gefahr, selbst irrational zu werden, und dies ist denn auch dem, was man Lebensphilosophie genannt hat, stets vorgeworfen worden. Doch dieser Vorwurf beansprucht seinerseits schon eine Rationalität, die er nach seinen eigenen Standards nicht mehr begründen kann, sondern voraussetzen muss. Nietzsche dagegen setzt insofern tiefer an: er setzt eine solche Rationalität der Philosophie nicht schon voraus, sondern versucht sie erst aus der Maß- und Haltlosigkeit des Lebens zu verstehen.
Daraus ergeben sich nun die neuen Momente von Nietzsches Bestimmung der Philosophie. Er entwirft seine Neubestimmung schon früh und hält an ihren Grundzügen bis zuletzt unverändert fest, akzentuiert und pointiert sie lediglich schärfer. Ich gehe darum von einem Heft von Nachlass-Notaten aus der zweiten Hälfte des Jahres 1872 (19[1-330], KSA 7.417-520) aus, das Nietzsche im Anschluß an die Geburt der Tragödie verfaßt hat. Diese Notate stehen, gemessen an den übrigen Nachlass-Heften, in einem ungewöhnlich dichten Zusammenhang; aus ihnen gehen zu großen Teilen Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und die Zweite Unzeitgemässe Betrachtung hervor. Im weiteren ziehe ich dann auch die späten Schriften und Nachlass-Notate heran. Für Nietzsches Neubestimmung der Philosophie sind die Begriffe Zeit, Maß, Kunst, Größe, Politik und Tragik leitend, ohne dass er sie selbst so aufreihte.
Zeit. – Eine Philosophie, die sich auf ihre Zeit einlässt, bringt sich in ein dreifaches Verhältnis zur Zeit überhaupt. Weil sie sich erstens aus dem Ganzen des Lebens nicht mehr ausnimmt, sondern sich in die Zeit begibt, wird sie selbst historisch. Darin folgt sie nach Nietzsche dem Grundzug des neuen „Zeitgeistes“ (Nachlass 1872, 19[7], KSA 7.418), der „haltlosen Gelehrtenkultur“ (Nachlass 1872, 19[21], KSA 7.423), die nicht nur die Historie, sondern auch die Naturwissenschaften einschließt (Nachlass 1872, 19[23], KSA 7.423). Damit die Philosophie den Zeitgeist aber ihrerseits theoretisch erfassen kann, muss sie ihn zugleich „überwinden“, die Historie also ins Überhistorische „aeternisieren“, und wird insofern „zeitlos“. Auf der Höhe des Zeitgeistes zeitlos zu werden, ist Nietzsches Absicht mit seinen ,unzeitgemäßen‘ Berachtungen. Durch sie will er drittens auf seine Zeit einwirken, „als Hemmschuh im Rade der Zeit“ und dies, wie er am Ende des Vorworts zur Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung sagt, „hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit“. Eine Philosophie kann sich aber derart nur auswirken, wenn ihr eine Krise, eine „große Gefahr“ vorausgeht (Nachlass 1872, 19[17], KSA 7.421). Da Nietzsche die große Gefahr seiner Zeit in der „Maßlosigkeit“ der Historie sieht, muss die Philosophie nicht nur historisch und überhistorisch, sondern zugleich anti- oder unhistorisch sein.
Maß. – Als Antwort auf die „Maßlosigkeit“ der Wissenschaften setzt Nietzsche den Begriff des Maßes. Maß ist die Einheit, die eine Mannigfaltigkeit innerhalb einer Mannigfaltigkeit begrenzt. Ein Maß der Zeit ist also, wenn es sich nicht um die physikalische, sondern um die geschichtliche Zeit handelt, ein Maß auf Zeit, ein Maß, durch das sich eine Zeit Identität und Dauer gibt. Das Maß einer Zeit ist mit dem anderer Zeiten inkommensurabel und kann sich auch mit den Lebensbedingungen seiner eigenen Zeit verändern. Ein solches lebendiges Maß ist nach Nietzsche „das Maass im hellenischen Sinne“, nicht ein universales Allgemeines, sondern „die Einhaltung der Grenzen des Individuums“ (GT 4, KSA 1.40). Es umgrenzt im Gegensatz zu den universalen Maßen der Wissenschaften den Horizont von Individuen, von Einzelnen, Völkern oder Kulturen, ermöglicht ihnen eine Lebensorientierung. Die „maßlos“ gewordenen Wissenschaften dagegen suchen „immer kleinere Objekte“ nach dem „Grad der Sicherheit“, nicht nach dem „Grad der Unentbehrlichkeit für Menschen“ (Nachlass 1872, 19[37], KSA.429). Sie mißbrauchen die begrenzte „Kraft“ zum Erkennen (Nachlass 1872, 19[150], KSA 7.466) „im ewigen Wiederholen von Experimenten und von Materialsammeln, wo doch der Schluß sich schon aus wenigen ergiebt“ (Nachlass 1872, 19[92], KSA 7.450). Darin zeigt sich nach Nietzsche ein Mangel an „Urtheilskraft“ der Gebildeten im Umgang mit wissenschaftlicher Forschung überhaupt (HL 6). Seine Zweite Unzeitgemässe Betrachtung ist eine einzige Aufforderung, in der theoretischen Kultur die Urteilskraft zu gebrauchen. Stattdessen werde das berechtigte Bedürfnis, in bestimmten Situationen auf Wahrheit zu dringen, unberechtigt auf „die Wahrheit aller Dinge“ übertragen und bilde nun wahllos „Metastase[n]“ (Nachlass 1872, 19[177], KSA 7.473). Nietzsche erfährt lebhaft, wie den Wissenschaften die Fähigkeit verlorenging, „[d]as Erhabene festhalten zu können“ (Nachlass 1872, 19[22], KSA 7.423).
Die Ausbreitung der Wissenschaften ist uns so selbstverständlich geworden, dass es uns schwerfällt, Nietzsches Problem noch zu sehen und sein Pathos zu verstehen. Man pflegt zwar gegenwärtig bestimmte wissenschaftliche Forschungen argwöhnisch daraufhin zu betrachten, ob sie „dem Leben dienen“, doch sind die Maßstäbe, die an sie angelegt werden, stets ganz elementare Lebensbedürfnisse, allem voran die leibliche Gesundheit und die bürgerliche Freiheit. Ob sie zu einem Gesamtmaß des Lebens, das Nietzsche eine Kultur nennt, zusammenwirken, wird dabei nicht als Problem empfunden, der Sinn dafür nicht vermisst. Aber Nietzsche fand schon zu seiner Zeit niemanden, der wie er „in der Noth“ war. Um für die Kultur als Gesamtmaß des Lebens empfänglich zu sein, sagt er, „muß man das Ungenügende der Wissenschaft erkannt haben.“ (Nachlass 1872, 19[322], KSA 7.518)
Kunst. – Notwendig ist, sagt er im Heft 19 von 1872/73 noch unbestimmt, ein „bändigendes Princip“ (Nachlass 1872, 19[28], KSA 7.425), das nur von der Philosophie kommen könne. Dabei handele es sich „nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine Beherrschung“ (Nachlass 1872, 19[24], KSA 7.424): die Wissenschaften können nicht auf ein ihnen äußerliches Prinzip reduziert, sondern nur aus sich selbst zu einer Einheit gestaltet werden. So aber gestaltet die Kunst: „Wir richten jetzt gegen das Wissen die Kunst“ (Nachlass 1872, 19[38], KSA 7.430). Wenn die Kunst mit der Philosophie eine „Einheit […] zum Zweck der Kultur“ eingehen soll (Nachlass 1872, 19[51], KSA 7.436), kann sie nicht die „Kunst der Kunstwerke“ sein, die Kunst, die man herstellen und äußerlich betrachten und von der man sich ebenso wieder abwenden kann. Nietzsche leitet die Philosophie nicht in Kunst über, sondern fragt von der Philosophie selbst aus, wie sie Kunst sein kann (Nachlass 1872, 19[45], KSA 7.433 f.), und versucht, „eine ganz neue Art des Philosophen-Künstlers [zu] imaginiren“ (Nachlass 1872, 19[39], KSA 7.431). Der Philosoph in seinem Sinn ist nicht darin Künstler, dass er ein Werk, ein „System als Wissenschaft“, hervorbringt, sondern dadurch, „was bleibt, wenn sein System als Wissenschaft vernichtet ist“. „Der Werth der Philosophie“ bei ihrer Bändigung der Wissenschaften „liegt nicht in der Erkenntnißsphäre, sondern in der Lebenssphäre“ (Nachlass 1872, 19[45], KSA 7.434), darin, dass sie die „isolirten“ wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine lebensbedeutsame „richtige Proportion“ bringt (Nachlass 1872, 19[41], KSA 7.432). Das künstlerische Philosophieren ist darum kein „ganz freies Erfinden: das ware etwas Willkürliches, also Unmögliches“ (Nachlass 1872, 19[79], KSA 7.446), sondern es ist, indem es die Lebensäußerungen einer Zeit in eine Einheit bändigt, selbst an sie gebunden. Über seinen Wert entscheiden zuletzt „die Schönheit und Großartigkeit einer Weltconstruktion“, in denen die Erkenntnisse der Wissenschaften ihr Gewicht füreinander bekommen (Nachlass 1872, 19[47], KSA 7.434).6
Nietzsches Bestimmung der Philosophie als Kunst schließt ihre Wissenschaftlichkeit jedoch nicht aus: „Es giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft: dort wie hier wird gleich gedacht“ (Nachlass 1872, 19[76], KSA 7.444), nämlich „in Begriffen“. Das bringt die Abgrenzung der Philosophie gegenüber den Wissenschaften erneut in „große Verlegenheit“ (Nachlass 1872, 19[62], KSA 7.439). Nietzsche löst sie auf überraschende Weise, indem er nämlich nun auch die Wissenschaften nicht als Gegensatz, sondern als Gestalt der Kunst begreift. „So sicher, ausgebaut, endlos, gesetzmässig und ohne Lücken“ die Welt der Naturwissenschaften zu sein scheint, so wenig sie „einem Phantasieerzeugniss“ gleicht, schreibt er in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, so sehr gehen doch auch ihrer imponierenden „mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit“ freie Setzungen in der Wahl ihrer Grundbegriffe, ihrer Methoden und ihres Materials voraus, „eine frei dichtende und frei erfindende Mittel-Sphäre und Mittelkraft“.7 Wenn aber die Philosophie durch ihren Kunstcharakter von den Wissenschaften nicht nur unterschieden, sondern zugleich mit ihnen verbunden wird, dann reicht der Begriff der Kunst offenbar noch nicht aus, um die Art der Maßgabe der Philosophie für die Wissenschaften und die Kultur im Ganzen zu bestimmen.
Größe. – Nietzsche führt darum den Begriff der Größe in den der Philosophie ein. Von der alltäglichen Lebensorientierung unterscheiden sich die Wissenschaften und die Philosophie durch ihre Methode, die Philosophie von den Wissenschaften aber durch ihre Gegenstände: „Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf große Dinge und Angelegenheiten.“ (Nachlass 1872, 19[83], KSA 7.447) Größe ist ein Unterschied der „Grade und Quantitäten“ (Nachlass 1872, 19[80], KSA 7.446), und so zeichnet sich der Philosoph, der seine Zeit erfasst, durch die „höchste Kraft der Gegenwart“ aus.8 Sein „Werth und Rang“ bestimmt sich, wie Nietzsche dann in Jenseits von Gut und Böse Nr. 212 ausführt, danach, „wie viel und vierlerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie weit Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte.“ Groß sein heißt vieles bändigen, heißt „ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.“ Mit seinem Begriff der Größe zieht Nietzsche die philosophische Summe aus Jacob Burckhardts Rede über Die historische Größe, die er im November 1870 hörte und als völlig seinem „Denk-und Gefühlskreise“ zugehörig empfand.9 Mit Burckhardt teilte er das Unzeitgemäße seines historischen Denkens, das Geschichte nicht als kontinuierliche Entwicklung zur Gegenwart hin, sondern als regellosen Auf- und Abstieg von Kulturen betrachtete, seines politischen Denkens, das anti-rousseauistisch alle „Wünschbarkeiten“ von der Zukunft abwehrte und vom Liberalismus und Sozialismus seiner Zeit nicht neue Freiheiten für das Individuum, sondern seine Gefährdung und Zerstörung erwartete, und schließlich seines kulturkritischen Denkens, das zum Maßstab einer Kultur nicht ihre politische Organisation, sondern die Einheit ihres Stils machte. Jacob Burckhardt war Hegel trotz seiner Gegnerschaft zu ihm eng verwandt: in der Fähigkeit, auf Realitäten durchzusehen, in der nüchternen, knappen Sprache, die er dafür entwickelte, der klaren Entschiedenheit in der Sache, dem sarkastischen Ton, wo „Wünschbarkeiten“ sich aufdrängten. Er sprach auch nüchtern über Größe als über eine Realität, die man anzuerkennen hat. Während er sich selbst nie für groß hielt – „Größe ist, was wir nicht sind“, sagt er zu Beginn seiner Rede –, erkannte ihn Nietzsche als einzige lebende Autorität an.
Nach Burckhardt ist historische Größe weder wissenschaftlich zu definieren noch moralisch zu bewerten. Es kann für große Individuen keinen allgemeinen Maßstab geben, weil sie erst Maßstäbe des „Weltganzen“ setzen. Sie sind danach einzuschätzen, ob die Welt „innerhalb einer Zeit“ ohne sie denkbar wäre (S. 211). Wissenschaftler können darum nur groß sein, wenn sie, wie etwa Kopernikus, mit der Revolution ihrer Wissenschaft zugleich das Weltverständnis im ganzen verändern, also die Dimension der Philosophie berühren. Das „Gebiet der eigentlichen Größe“ beginnt darum erst mit den großen Philosophen (S. 217). Doch so sehr Burckhardt den Begriff der historischen Größe an Künstlern, Wissenschaftlern und Philosophen bestimmt, stellt er ihre Wirkung, wohl, weil sie dort schärfer zu bezeichnen ist, an Herrschern und unter ihnen vor allem an einem, an Napoleon dar. Dies legte militärische Metaphern nahe. Die Geschichte liebe es, so Burckhardt, bisweilen, „sich auf einmal in einem Menschen zu verdichten, welchem hierauf die Welt gehorcht“ (S. 229). Solche Menschen gestalteten „periodisch und ruckweise“ das ganze „Terrain“ um (S. 248).
Nietzsche mag das veranlasst haben, diese Metaphern auf die „eigentlichen“ Philosophen zu übertragen, die er in Jenseits von Gut und Böse (211) „Befehlende und Gesetzgeber“ nennt. Der „Befehl“ eines großen Philosophen kann aber nur in dem Zwingenden einer neuen Einsicht in die Realität, in einer neuen „Versenkung, Vergrabung, Vertiefung in die Wirklichkeit“ (GM II 24) liegen, aus der das Weltganze neu gedeutet werden kann. Auch nach Burckhardt befähigt nicht so sehr die politische und militärische Durchsetzungsfähigkeit als die überlegene Einsicht in die Realität zur Herrschaft: Das große Individuum „sieht zunächst überall die wirkliche Lage der Dinge und der möglichen Machtmittel und lässt sich durch keinen bloßen Schein blenden und durch keinen Lärm des Augenblicks betäuben“ (S. 233). Dies allein, jedoch in „Grad und Quantität“ des Weltganzen, macht für den reifen Nietzsche dann den Übermenschen aus. „Diese Art Mensch“, die er im Zarathustra konzipiert habe, schreibt er zuletzt in Ecce homo, „concipirt die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Grösse haben...“10
Politik. – Wenn große Philosophie durch eine neue Konzeption der Realität einer neuen Zeit Identität und Dauer geben kann, ist sie zugleich „große Politik“. Nietzsche lässt sich immer mehr vom politischen Charakter seines eigenen Philosophierens durchdringen. Er stellt es herausfordernd unter eine „Aufgabe“ und betreibt es als Kampf, gegen andere, vor allem aber gegen sich selbst. Philosophische Politik in seinem Sinn hat dennoch keine Ziele, für die sich das große Individuum frei entscheiden oder die es auch nur abstrakt formulieren könnte. Hier kommt der prophetische, von seiner Aufgabe überwältigte, durch sie beglückte, aber auch schwer unter ihr leidende Nietzsche zu Wort. Die Aufgabe kommt als eines der „grossen Geschenke“, die keine Wahl lassen, und zugleich als „Tyrann“, den man nicht versteht: „man muß das Beste thun, ohne sich darin zu verstehn...“11 1884 notiert er: „Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über alle Zukunft entscheiden!“ (Nachlass 1884, 25[405], KSA 11.118). Er kann dabei zwar, nüchterner formuliert, nicht mehr tun als „die Dinge sehen, wie sie sind“ (Nachlass 1881, 11[65], KSA 9.466). Aber weil er dadurch die gesamte Lebensorientierung einer Zeit verändern kann, wird seine Philosophie zur „Experimental-Philosophie“. Er kann sein Experiment nicht von höherer Warte aus betreiben, sich nicht wie ein Naturwissenschaftler aus seinem Experiment oder wie der kantische „bestallte Richter“ aus seiner Untersuchung und Entscheidung heraushalten, sondern gehört ihr „ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl“ selbst an.12 Das Experiment wird auch mit ihm gemacht, und darum ist sein Ausgang völlig offen. Große Philosophie im Sinne Nietzsches verändert die Wirklichkeit, ohne vorab angeben zu können, woraufhin sie sie verändert, sie bringt keine Sicherheit, sondern Gefahr: „Wir machen aus ihr“ – der Philosophie – „eine Gefahr, wir verändern ihren Begriff, wir lehren Philosophie als lebensgefährlichen Begriff“ (Nachlass 1888, 23[3]2, KSA 13.602).
Der Begriff der Politik in Verbindung mit der Philosophie ist als eine Emphase dieses lebensgefährlichen Experimentierens zu verstehen. Politik ist wie Kunst ein Gestalten, sie kann jedoch anders als Kunst auch zerstören. Im großen Menschen, sagt Nietzsche in Ecce homo, ist die „Lust am Vernichten“ und die „Kraft zum Vernichten“ vom Jasagen nicht zu trennen. Politik in seinem Sinn ist darum nicht Interessen- und Parteipolitik: „Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt“.13 Wird philosophische Politik dagegen einem politischen Programm dienstbar gemacht, so wird sie einfältig und grotesk.14 Eine Wirkung auf gesellschaftliche Machtgebilde kann nach Nietzsche einer Philosophie nur folgen, und eine Philosophie ist groß, wenn sie ihr folgt.
Nietzsche hat darum auch nur Bedingungen, kein Programm großer Politik formuliert.15 Selbst in seinen bedenklichsten Nachlass-Notaten, in denen er die „göttliche Liebe, welche verachtet und liebt und das geliebte umschafft, hinaufträgt,“ zusammenbringt mit „jener ungeheuren Energie der Größe“, die imstande ist, „durch Züchtung und anderseits durch Vernichtung von Millionen Mißrathener, den zukünftigen Menschen zu gestalten und nicht zu Grunde zu gehen an dem Leid, das man schafft, und dessen Gleichen noch nie da war!“ (Nachlass 1884, 25[335], KSA 11.98), und noch in seinen promemoria-Notaten vom Januar 1889, in denen er einen schauerlichen „Todkrieg dem Hause Hohenzollern“ ankündigt (Nachlass 1888/89, 25[13], KSA 13.643), selbst hier vertraut Nietzsche allein auf die Wirkung seiner philosophischen Begriffe: „Mein L< oos will,> dass ich tiefer, muthiger, rechtschaffener in die Fragen aller Zeiten hinunterblicken muß <als> je ein Mensch bisher entdecken mußte... Ich fordere nicht das was jetzt lebt heraus, <ich fordere> mehrere Jahrtausende gegen mich heraus.“ (Nachlass 1888/89, 25[6], KSA 13.640) Er will eine „Partei des Lebens“ schaffen (Nachlass 1888/89, 25[1], KSA 13.638), die „alle Jahrtausende“ ein Ende mit dem „verbrecherischen Wahnsinn von Dynasten und Priestern“ machen soll (Nachlass 1888/89, 25[15], KSA 13.645). Dies kann nicht als Ideologie verstanden werden, wenn die Grenze zwischen Philosophie und Ideologie nicht aufgelöst werden soll.16
Tragik. – Der Philosoph, der sich in der Situation glaubt, das höchste Allgemeine nicht nur neu „bearbeiten“, sondern neu „schaffen“ zu müssen, ist allein als Individuum der Anfang. Je klarer Nietzsche das begreift, desto leidenschaftlicher spricht er vom „Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit“ (JGB 203). Er nennt den, der es auf sich nimmt, ein „Pathos“ (Nachlass 1888, 14[79], KSA 13.259). Er ist Pathos, weil er die Begriffe, die er schafft, nicht durch bereits anerkannte Begriffe, sondern nur durch sich selbst als Individuum oder nicht logisch, sondern nur „ästhetisch“ rechtfertigen kann. Seine individuellen Begriffe werden zu allgemein anerkannten Begriffen, wenn „die Menschheit“ durch sie, wie Nietzsche im Nachlass-Heft 19 von 1872/73 sagt, „stehen“ kann. Sie bringen sie jedoch immer nur auf Zeit zum Stehen: „Was für eine metaphysische Welt es geben soll, ist gar nicht abzusehn.“ (Nachlass 1872/73, 19[139], KSA 7.464) Nietzsche spricht sich in dieser frühen Zeit durchaus für die Metaphysik aus. „Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu fördern.“ (Nachlass 1874, 32[68], KSA 7.778) Doch wenn ein metapysischer Sinn „unterlegt“ und „gefördert“ werden muss, so gibt es ihn ja gerade nicht mehr; die Metaphysik für einen Wert zu halten, ist nach ihrem Selbstverständnis die schärfste Kritik an ihr.
Nietzsche nennt darum das Pathos des großen Philosophen tragisch, in der Bestimmung des Tragischen erfüllt sich seine Bestimmung der Philosophie. Sie führt zu den Bestimmungen der Zeit, des Maßes, der Kunst und der Größe zurück:
Der Philosoph der tragischen Erkenntniß. Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er empfindet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben: der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück. (Nachlass 1872/73, 19[35], KSA 7.427 f.)
Tragik ist ein genuiner Begriff der Kunst und von ihr nicht ablösbar. Sie kann nur am Handeln und Leiden eines Individuums gezeigt, nicht allgemein ausgesprochen werden. Tragisch ist ein Individuum, das durch seinen Untergang groß wird; sein Untergang ist groß, wenn er eine Welt erschüttert – die Gerechtigkeit der Götter in Aischylos‘ Orestie, das Recht des Staates in Sophokles‘ Antigone, das Maß menschlichen Wissens im Ödipus. So steht der große Philosoph für das Allgemeine einer Welt, das wieder untergehen muss. „Es ist schön die Dinge zu betrachten, aber schrecklich sie zu sein.“ (Nachlass 1874, 32 [67], KSA 7.778) Seine Erkenntnis ist metaphysisch, solange er an den Untergang seiner Begriffe nicht glaubt, sie ist tragisch, wenn er weiß, dass sie ihre Zeit haben. Ein Wissen aber, das seine Zeit hat, kann im metaphysichen Sinn kein Wissen, sondern nur eine Illusion sein: „Man muß selbst die Illusion wollen – darin liegt das Tragische.“ (Nachlass 1872/73, 19[35], KSA 7.428) Nietzsches neue Bestimmung der Philosophie ist hier darum zuletzt, das „Wahrheitspathos in einer Lügenwelt“ zu sein (Nachlass 1872/73, 19[218], KSA 7.488).
1 Nachlass 1885/86, 2[128], KSA 12.127; Nachlass 1887, 10[5], KSA 12.456.
2 Tusc. disp. (ed. Pohlenz, Stuttgart: Teubner 1918) II, 5: „ut ager quamvis fertilis sine cultura fructuosus esse non potest, sic sine doctrina animus; its est utraque res sine altera debilis. cultura autem animi philosophia est“.
3 Vgl. Klaus Christian Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt am Main 1986, S. 15.
4 Vgl. Karl Ulmer, Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werkes, Bern und München 1962, S. 88, Anm. 27: „Wir haben his heute weder die philosophischen noch wissenschaftlichen Mittel, um zu bestimmen, was das Wesen eines Zeitalters ausmacht und worin es besteht. Gerade durch Nietzsche ist dieses Problem in seiner Bedeutung neu gestellt worden.“
5 Karl Ulmer, Philosophie – gegenwärtig oder vergangen?, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 4 (1971), S. 11. – Nietzsche spricht in Ecce homo (Warum ich ein Schicksal bin 1) selbst von einer „Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordet, geheiligt worden war“.
6 Zur „Kunst als Organon der Philosophie“ vgl. die umfassende Darstellung von Mihailo Djurić, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985, Kap. IV.
7 KSA 1.884-886. – Vgl. zur gegenwärtigen, weitgehend unabhängig von Nietzsche geführten Diskussion Kurt Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg/München 1987, bes. S. 85-89, und Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung (1987), übers v. M. Looser, Frankfurt am Main 1984. Zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche vgl. Mihailo Djurić / Josef Simon (Hg.), Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche, Würzburg 1986.
8 HL 6, KSA 1.293.
9 Jacob Burckhardt, Das Individuum und das Allgemeine (Die historische Größe), in: J.B., Weltgeschichtliche Betrachtungen, mit einem Nachwort hg. v. R. Marx, Leipzig 1935, S. 207-248. Nietzsche berichtet über die Rede in seinem Brief an Gersdorff vom 7.11.1870, KSB 3.155.
10 EH, Warum ich ein Schicksal bin 5. – Der Gegensatz, den Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, Kap, VI, im Typus des Übermenschen zwischen der milden Weisheit der großen Synthese und der gewaltsamen Tat der Erneuerung aufgerichtet hat, löst sich auf, wenn man beachtet, dass nach Nietzsche wie nach Jacob Burckhardt die große Synthese nur zusammen mit einer tieferen Realitätserfahrung möglich ist, die das gesamte Weltverständnis erschüttert.
11 MA II, Vorrede 5,4; Nachlass 1888, 24[7], KSA 13.634.
12 Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492. – Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, hat die Idee des „Experimentierens mit Weltperspektiven“ in den Mittelpunkt der Nietzsche-Interpretation gestellt und sie dadurch maßgeblich vorangebracht. Dadurch aber, dass er sie aus Kants Richter-Metapher versteht, bringt er sie um ihren eigentlichen Sinn: der große Philosoph im Sinne Nietzsches hat es nicht in der Hand, die Bedingungen des Verfahrens festzulegen und zu kontrollieren, und kann nicht von einem erhobenen theoretischen Standpunkt aus über den sinnvollen „Gebrauch von Weltperspektiven“ entscheiden. Ebensowenig kann er sich aus der Wirkung seiner Einsicht auf das Weltganze heraushalten. Nietzsches Idee der Experimental-Philosophie kann darum keine Anleitung zur „Handlungsorientierung“ sein (S. 160). Kant selbst erläutert mit der Richter-Metapher nur das wissenschaftliche Experiment (KrV B II-XIV).
13 EH, Warum ich ein Schicksal bin 2 u. 1. – Vgl. Nachlass 1887, 9[77], KSA 12.375 f.: “Jede Lehre ist überflüssig, für die nicht Alles schon bereit liegt an aufgehäuften Kräften, an Explosiv-Stoffen. Eine Umwerthung von Werthen wird nur erreicht, wenn eine Spannung von neuen Bedürfnissen, von Neu-Bedürftigen da ist, welche an der alten Werthung leiden, ohne zum Bewußtsein zu kommen, –––“
14 Vgl. Karl Ulmer, Die Verantwortung der Philosophie als Wissenschaft oder Die Verwechslung des Einfältigen mit dem Einfachen, hg. v. W. Stegmaier, in: Perspektiven der Philosophie 11 (1985), S. 299-313, und Volker Gerhardt, Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches 2. Unzeitgemäßer Betrachtung, in: Volker Gerhardt / Norbert Herold (Hg.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985, S. 160, Anm. 17.
15 Was Alfred Baeumler und Georg Lukács dazu machten, war eine grobe Klitterung. Vgl. Mazzino Montinari, Nietzsche zwischen Alfred Baeumler und Georg Lukács, in: M.M., Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, S. 169-206, und Henning Ottmann, Anti-Lukács. Eine Kritik der Nietzsche-Kritik von Georg Lukács, in: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 578: „Im Grunde umschrieb die ,große Politik‘ Nietzsches Philosophie als ganze. Und Nietzsche ließ bei ihrer Umschreibung – wie übrigens auch bei der Schilderung künftiger Kriege – keinen Zweifel daran, daß sie nicht Sache eines Volkes, einer Nation oder gar einer Klasse sein würde.“ In seiner Monographie Philosophie und Politik bei Nietzsche (Berlin/New York 1987) wendet sich Ottmann aber auch gegen die Entschärfung des Politischen bei Nietzsche zum nur Moralischen, wie sie Kaufmann und Kaulbach vertreten: „mit allem Nachdruck [ist] zu betonen, dass ,große Politik‘ Herrschaft meint“ (S. 239). – Zur neuerlichen marxistischen Nietzsche-Kritik in der Tradition von Lukács vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Ständige Herausforderung. Über Mazzino Montinaris Verhältnis zu Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 32-82.
16 Gerd-Günter Grau, Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemäße Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York 1984, trägt auf bewegende Weise die These vor, Nietzsche selbst versteife sich nach dem Zarathustra mehr und mehr auf einen ideologischen Machtwillen, mit dem er seine Philosophie politisch durchsetzen wolle, und will dabei zeigen, dass auch noch der redlichste Wille zur Wahrheit, wenn er verändern will, in Ideologie umschlagen muss. Dies letztere gälte für Nietzsche jedoch nur, wenn er die Menschheit nach einem bestimmten Programm hätte „verbessern“ wollen, was er nicht wollte (vgl. GD, Die „Verbesserer“ der Menschheit) und was ihm Grau auch nicht unterstellt.