20. Nietzsches Zukunft
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.20
Nietzsche erwartete, man werde ihn erst in der Zukunft, nach einem oder zwei Jahrhunderten, verstehen. Wir können nicht sagen, ob diese Zukunft nun eingetreten ist, weil niemand wissen kann, ob er oder sie Nietzsche so versteht, wie er selbst verstanden werden wollte. Wir sehen dagegen, in welch ungeheurer Breite er rezipiert wurde und wie extrem weit die Nietzsche-Verständnisse dabei auseinandergegangen sind. Das mag zu seinem „Schicksal“ gehören, von dem er sprach,1 und vielleicht wollte er es gar nicht anders. Dennoch war das Thema Zukunft für ihn immer gegenwärtig, nur wenig jedoch in der Nietzsche-Forschung; auch in Nietzsche-Handbüchern, -Lexika und -Forschungsübersichten hat es keinen festen Platz. Es könnte jedoch nicht nur für kommende Generationen von Nietzsche-Forscher(inne)n von Belang sein, sondern auch für Nietzsches Zukunft überhaupt, seine weitere Mitwirkung im Diskurs der Selbstverständigung Europas und der Länder und Völker der Welt, die er darüber hinaus erreichen wollte und längst auch erreicht hat. Was bedeutete ,Zukunft‘ für Nietzsche selbst?
Nach einem kurzen Rückblick auf Nietzsches Zukunft im 20. Jahrhundert, die schon hinter uns liegt (1.), werde ich zunächst Nietzsches Zukunftssemantik entfalten (2.). Dann komme ich noch einmal auf das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft zurück, in dem er von der Übergangszeit vor dem Einschlagen der Nachricht vom Nihilismus handelt: Sie sollte eine Zeit der Heiterkeit für Philosophen sein, die bereits von ihr wussten und nach einem neuen, ,andren Ideal‘ nun schon eine neue Zukunftsorientierung vorbereiten konnten (3.). In einem nachfolgenden Notat erweiterte Nietzsche den Horizont der ,Musik des Lebens‘, die Philosophen, die seit Jahrtausenden dem Idealismus verpflichtet waren, nicht mehr zu hören vermochten, zu einer ,Musik der Zukunft‘. Man höre sie in ,jedem Labyrinth der Zukunft‘, das eine jeweils neue Orientierung erfordert (4.). Die Labyrinthe sind für Nietzsche vor allem Labyrinthe der Werteorientierung. Sie rückte in den Vordergrund, nachdem die Metaphysik mit ihrer Bindung an feste Fundamente und einen Gott, der sie garantierte, unglaubwürdig geworden war: nun sollte und soll bis heute die Orientierung an ihnen dem Leben einen letzten Halt geben. Die Wertesemantik eröffnet aber gerade Spielräume für einen unablässigen Wertewandel, die Nietzsche nun zu einer ,Umwertung aller Werte‘ nutzen wollte. Weil er mit ihr seine Zukunftsorientierung verband, forcierte er die Wertesemantik so stark, dass er sie als solche kaum mehr in Frage zu stellen wagte, tat das zuletzt an einer Stelle aber doch (5.). Zugleich besann er sich neu auf den amor fati, der nichts anders haben will und alles hinnehmen kann, wie es ist, und darum gar keine Zukunftsorientierung mehr zu brauchen scheint. Damit scheint sich das Zukunftsproblem zu erledigen. Doch das Nichts-anders-haben-Wollen des amor fati schließt dann auch das Anders-haben-Wollen ein und mit ihm alle Festlegungen auf bestimmte Zukünfte, selbst eine auf Zeitlosigkeit drängende Metaphysik, und wird so paradox. Die Frage ist dann, wie mit dieser Paradoxie umgegangen, wie hier weitergedacht werden kann. Und daran könnte sich auch die Zukunft von Nietzsches Denken im 21. Jahrhundert entscheiden (6.).
20.1. Die Zukunft von Nietzsches Denken
im 20. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert ist Nietzsche berühmt geworden, aber berüchtigt geblieben. Seine Philosophie hatte, das ist oft beschrieben worden, vielfältigste Zukünfte im 20. Jahrhundert,2 und sie ist mehr als jede Philosophie neben und vor ihr über den ganzen Globus hinweg in weiten Kreisen populär geworden.3 Es gab auch zahlreiche Nietzscheanismen,4 jedoch nicht einen anhaltenden und prägenden Nietzscheanismus, wie es auf Jahrtausende einen Platonismus und Aristotelismus, auf Jahrhunderte einen Cartesianismus, auf mehr als ein Jahrhundert einen Marxismus und auf Jahrzehnte einen Hegelianismus und einen Kantianismus gab. Mit Nietzsches rasch wachsender Popularität weit über die Philosophie und ihre Kenner hinaus wurden seine Texte und vor allem Schlagworte wie ,Tod Gottes‘, ,Übermensch‘, ,Wille zur Macht‘, ,ewige Wiederkehr des Gleichen‘, ,Nihilismus‘, ,Umwertung aller Werte‘ stattdessen zu einem nahezu unerschöpflichen Anregungspotential – Nietzsche wurde wohl Klassiker, sein Werk wird inzwischen von einer weltweiten Nietzsche-Forschung erschlossen, für die philologisch höchst sorgfältig erarbeitete Instrumente bereitstehen, und dennoch ereilte ihn bisher nicht das Schicksal der, wie es Max Frisch pointierte, ,durchschlagenden Wirkungslosigkeit‘ von Klassikern. Die Zeit, in der seine Schlagworte so platt verstanden wurden, dass sie viel Unheil anrichteten und zu schlimmsten politischen Abenteuern anstifteten, scheint wohl vorbei zu sein; dennoch wird, oft nur um rhetorischer Effekte willen, alles Exzentrische, das sein Werk bietet, gerne weiterhin ins Extreme getrieben. So konnte sein Denken nicht zu philosophischem Gemeingut werden, zumal es auch unter als seriös geltenden Nietzsche-Forscher(inne)n in nahezu jeder Hinsicht umstritten blieb. Die meisten akademischen Philosoph(inn)en außerhalb der Nietzsche-Forschung tun sich nach wie vor schwer, es hin- oder gar aufzunehmen. Nietzsches abgründiges und zerreißendes Denken dürfte im Gegenteil stark dazu beigetragen haben, dass wieder feste logische, ontologische und moralische Fundamente verlangt werden, gerne auch unter metaphysischen Begründungen, denen Nietzsche den Boden entzogen hatte; die Spaltung der Philosophie in eine auf die logische Analyse der Sprache konzentrierte Analytische Philosophie und einer zur Abgrenzung von ihr jetzt oft Hermeneutische Philosophie genannte dürfte auch eine Wirkung seines Denkens sein, auch wenn es, wie immer, Ausnahmen, Zwischenformen und Übergänge gibt.
Und doch hat niemand in jüngster Zeit den Philosophen eine höhere „Aufgabe“ gestellt als Nietzsche: mit der Forderung, die „eigentlichen Philosophen“ müssten, wenn die Philosophie eine Zukunft haben sollte, neue „Werte schaffen“ und hier als „Befehlende und Gesetzgeber“ wirken (JGB 211). Hat diese Forderung noch eine Zukunft? Nietzsche nahm noch fast selbstverständlich an, dass der Philosophie – oder jedenfalls einer Philosophie der Zukunft, wie er sie sich dachte – der höchste Rang unter den Wissenschaften gebührt. Immerhin haben Philosophen die längste und beharrlichste Übung darin, sich auf die Welt und die Menschheit im Ganzen zu besinnen, entsprangen aus der Philosophie nach und nach die meisten Wissenschaften und war sie immer auch die schärfste Kritikerin ihrer selbst. Für Nietzsche erübrigten sich jedoch solche Begründungen. Stattdessen setzte er auf Persönlichkeiten, die wiederum höchsten Ranges sein sollten und selbst Philosophen wie Kant oder Hegel hinter sich lassen müssten. Dass dies nicht Schopenhauer sein konnte, wurde ihm nach anfänglicher Begeisterung für ihn bald klar. Doch Nietzsche sah nun zu seiner Zeit keine Persönlichkeit mehr, die eine „Philosophie der Zukunft“ leisten konnte, zu der auch Jenseits von Gut und Böse nur ein „Vorspiel“ sein sollte, es sei denn in sich selbst, der aber weiter um sein „Hauptwerk“ kämpfte. Er hat auch nie geklärt, wie Werte überhaupt ,geschaffen‘ werden können und welche Werte das denn sein könnten.5 Wie weit ihm mit seinen späten Kampfschriften Zur Genealogie der Moral, Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung und vor allem Der Antichrist die Umwertung aller Werte schon gelungen war, bleibt fraglich. Offensichtlich aber ist der Rang der Philosophie unter den Wissenschaften und für die Selbstbesinnung Europas und der Kulturen der Welt im Verlauf des 20. Jahrhunderts und vor allem an dessen Ende deutlich gesunken; man erwartet in der breiteren Öffentlichkeit immer weniger von ihr und nach dem politischen Desaster des Marxismus-Leninismus schon gar keine weltverändernden großen Philosoph(inn)en mehr. Insoweit gingen – zumindest bisher – Nietzsches Hoffnungen auf die Zukunft der Philosophie ins Leere.6
Das schloss nicht aus, dass Nietzsches philosophisches Denken im 20. Jahrhundert, nicht immer unter Berufung auf ihn und weit weniger spektakulär, in seinen Grundentscheidungen erheblich weitergetrieben wurde. Ich hebe hier nur – und etwas anderes würde auch Nietzsche kaum erwarten – den Strang hervor, der mich selbst am stärksten überzeugt hat und dem ich daher meinerseits gefolgt bin, den Strang, der von Husserl aus über Heidegger zu Derrida führte und der in der Sache, aber auf anderen Wegen, durch den späten Wittgenstein und Niklas Luhmann bestärkt wurde. Husserl schuf im frühen 20. Jahrhundert mit seinen Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins ein von Grund auf neues, nämlich durchgehend zeitliches Verständnis der Konstitution von Gegenständen der Erkenntnis. Nietzsche hatte, insbesondere im Abschnitt 12 der Zweiten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral schon in diese Richtung gedacht,7 dabei aber bereits auf die Voraussetzung der Selbstgegebenheit von Subjekten verzichtet, die im Sinn Kants imstande sein sollten, sich zur objektiven Konstitution von Gegenständen der Erkenntnis zu entsubjektivieren. Umso mehr stand Husserl, der daran noch festhielt, Nietzsches Denken fern.8 Doch dann nahm der Husserl-Schüler Heidegger unter dem Begriff des In-der-Welt-Seins Nietzsches Ansatz bei den komplexen Lebensbedingungen des Erkennens (statt bei metaphysischen oder transzendentalen Subjekten) auf und trieb die ,Destruktion‘ metaphysischer Ontologien systematisch voran, auch er freilich, ohne in beidem ausdrücklich an Nietzsche anzuschließen, und als er nach seiner ,Kehre‘ auf eine ,ursprünglichere‘ Ergründung der Frage nach dem Sein drängte, verwies er Nietzsches Philosophie selbst in die alte Metaphysik zurück und stellte sie als deren Übergipfelung dar.9 An Heideggers ,ontologische Differenz‘ zwischen Seiendem und Sein aber konnte wiederum Derrida, der ebenfalls mit Husserl groß geworden war, mit seinem neuen Denken der Differenz als différance, dissémination und déconstruction anschließen, der laufenden Verschiebung, Verbreitung und Umgestaltung jeder Unterscheidung in ihrem situativen Gebrauch, die Nietzsche in seinem Werk unablässig vorgeführt hatte. Indem er zugleich tief in die Themen und Formen von Nietzsches philosophischer Schriftstellerei eindrang, bestärkte und vertiefte Derrida so die Einsicht in die Zeitlichkeit, Entscheidbarkeit und Ungewissheit alles Philosophierens, die Nietzsche im Hintergrund seiner lauten Schlagworte in stilleren, fast, wie er seinen Zarathustra sagen ließ, „stillsten Worten“ vortragen ließ und die nun dennoch „den Sturm bringen“ sollten und dereinst vielleicht auch „die Welt lenken“ könnten.10 Philosophie wurde so, mit einem von Nietzsche nur ein Mal in einem Notat gebrauchten Begriff, „Experimental-Philosophie“11 – auf neue Orientierungsentscheidungen aus, nicht auf letzte Begründungen, die dann doch irgendwo im Unbegründeten enden müssen. Experimental-Philosophie dieser Art wurde außerhalb des genannten Forschungsstrangs freilich sogleich mit Schreckbegriffen wie Beliebigkeit, Postmodernismus und Relativismus belegt und abgewiesen.12
Als desto aufschlussreicher erwies sich, dass andere wirkungsmächtige und zukunftsträchtige Philosophen des 20. Jahrhunderts sei es in unbekümmerter, sei es in betonter Distanz zu Nietzsche in eine vergleichbare Richtung führten. So leistete Wittgenstein, mit seinem frühen Tractatus logico-philosophicus einer der Gründungsväter der Analytischen Philosophie, in seiner späteren Zeit ein Äußerstes an Kritik der überlieferten Metaphysizierungen und Idealisierungen in der Philosophie. Er kümmerte sich kaum um Vorgänger und kannte auch von Nietzsche nur wenig.13 Doch wie Nietzsche löste er das philosophische Denken von der Ausrichtung auf das Erkennen von Gegenständen und selbst von der Voraussetzung eines autonomen Denkens, nahm ihm den vermeintlichen festen Halt in Logik und Mathematik und behandelte das Drängen darauf, ebenfalls wie Nietzsche, als „Denkkrankheit“.14 Und er entfaltete seine bewusst Deutungsspielräume lassenden Konzepte der Sprachspiele, der Lebensformen, des Zeichens und der Familienähnlichkeit, die auch Nietzsches Neuformierung des philosophischen Denkens gut umreißen, in immer neu variierten „Bemerkungen“, die in vielem Nietzsches „Aphorismen“ gleichen.15
Wiederum unabhängig von Wittgenstein und in betonter Distanz zu Nietzsche teilte auch Niklas Luhmann, dessen soziologische Systemtheorie ein so hohes philosophisches Niveau und einen so weitgreifenden philosophischen Anspruch hat, dass sie auch als Philosophie gelten kann,16 in vielem Nietzsches philosophische Grundentscheidungen, insbesondere dessen methodischen Immoralismus, seinen reflektierten Realismus der Beobachtbarkeit, die Steigerung der Komplexität des Philosophierens durch Selbstbezüge der Beobachtung, den Ausgang von Evolution und Funktionalität, die Arbeit mit Paradoxien als Denkmittel und insgesamt die Entscheidung für Entscheidbarkeit.17 Der Kern von Luhmanns Theorie, darunter auch seiner Theorie der Zeit, lag in der Theorie der Unterscheidung selbst, und hier bezog er sich zustimmend auch auf Derrida. Man kann im Durchgang durch die Themen, die er gemeinsam mit Nietzsche behandelt, Luhmanns Werk so lesen, dass er Nietzsches theoriearmem Denken eine theoretische Form, die Form der Systemtheorie, gegeben hat, die ihrerseits kein letztbegründetes System ist, sondern ein mit jeder weiteren Erschließung der im Ganzen unfassbaren Umwelt weiter evoluierendes Geflecht von Unterscheidungen, für die man sich von Fall zu Fall entscheiden kann.
Hier, im Zusammen- und Weiterführen dieser einander scheinbar fernstehenden philosophischen Ansätze des 20. Jahrhunderts könnte, denke ich, die Zukunft auch von Nietzsches Denken liegen. Ein ,befehlendes und gesetzgebendes‘ Denken wäre es dann, wenn es sich als überzeugender erwiese als seine Alternativen, als so überzeugend, dass es zur herrschenden Orientierung wird.18 Ich selbst versuche es durch eben den Begriff und eine Philosophie der Orientierung zu erschließen, die ihrerseits an Nietzsches Denken anschließt.19
20.2. Nietzsches Zukunftssemantik
Nietzsche hat von Jugend an auffällig oft und mit Pathos von der Zukunft gesprochen, seiner eigenen, der Zukunft seiner Freunde und seiner Schwester, der Zukunft seiner Wissenschaft, der Philologie, dann, den Horizont immer mehr erweiternd, mit Wagner von der Zukunft der Musik und der Kunst, mit Schopenhauer von der Zukunft der Bildungsanstalten, mit Jacob Burckhardt von der Zukunft der Kultur, und schließlich, selbstständig und frei geworden im Denken, von der Zukunft der Menschheit und der Philosophie. Er verknüpft beide eng miteinander. Es sei das „Glück“ seiner Zeit, dass „[i]n Hinsicht auf die Zukunft […] sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele“ erschließe (MA II, VM 179), und nachdem nun „die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und nebeneinander durchlebt werden können“ (MA I 23), sei es darum die „Aufgabe“ seiner Zeit, „sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln“ und „bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung [zu] schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch [zu] verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander ab[zu]wägen und ein[zu]setzen.“ (MA I 24)20 Nietzsche hat schon die Zukunft einer globalisierten Welt vor Augen. Die „ungeheure Aufgabe“, die Menschheit darauf vorzubereiten, denkt er den „grossen Geister[n] des nächsten Jahrhunderts“ (MA I 25) zu – Philosophen: bei ihnen liege die Verantwortung für die „Zukunft der Menschheit“ (Nachlass 1884, 25[307], KSA 11.90), sie müssten „Gesetzgeber der Zukunft“ (N 1884, 26[407], KSA 11.258) werden. Er dürfte das kaum so gemeint haben, dass sie der entstehenden Weltgesellschaft juristische Gesetze geben und ihre Regierung leiten sollten. Stattdessen setzte er auf die langfristige Wirkung philosophischer Einsichten, wie sie sich gerade in der europäischen Geschichte immer wieder beobachten ließ, etwa bei der Entstehung des Rechtsstaats, der Marktwirtschaft oder der Vorbereitung politischer Revolutionen. Sichtlich in diesem Sinn einer Überzeugung durch bloße Gedanken notierte er: „Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über alle Zukunft entscheiden!“21 Dabei sei freilich „höchste Geduld“ und „Vorsicht“ geboten. Denn man müsse erst „den Typus solcher Menschen zeigen, welche sich diese Aufgabe stellen dürfen!“ (N 1884, 25[405], KSA 11.118)
Es ging Nietzsche, könnten wir sagen, um Orientierungs-entscheidungen für die Weltgesellschaft und um die Menschen, die sie treffen können, und nach den Globalisierungsschüben des 20. Jahrhunderts sehen wir, wie sehr wir solche entscheidungsfähigen Menschen tatsächlich brauchen. Sie müssen nicht, auch nach Nietzsche nicht, „Tyrannen“ sein. Das Aufkommen von Alleinherrschern ist, wie Nietzsche in FW 23 beobachtet und wie wir es im 20. Jahrhundert wieder neu erleben, ein Symptom des Verfalls, der „Corruption“.22 In solchen Zeiten gebe es „wenig sichere Zukunft: da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer ein leichtes Spiel spielen, – man lässt sich nämlich auch nur ,für heute‘ verführen und bestechen und behält sich die Zukunft und die Tugend vor!“ Dennoch: Da Alleinherrscher es sich erlauben können, sich selbst – Nietzsche hat Napoleon vor Augen, aber sie können, wie Perikles, auch in Demokratien auftreten – „für ebenso unberechenbar [zu] halten wie die Zukunft“, wird mit ihnen auch, anders als wenn „ihre Gegensätze, die Heerden-Menschen“, herrschen, die Zukunft neu gestaltbar, werden zuweilen durchgreifende Zukunftsentscheidungen möglich, die auf demokratischem Weg schwerer erreichbar, darum aber, auch für Nietzsche, auch hier keineswegs ausgeschlossen sind.23 Starke Individuen, erwartete Nietzsche, werden „sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständniss noch auf Gnade rechnen können“. Dass sie darum auch „gerne an Gewaltmenschen“ anknüpften, ließ sich zu Nietzsches Zeit vielleicht noch sagen, heute, nach den entsetzlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit „Gewaltmenschen“, nicht mehr. Nichtsdestoweniger sind auch Demokratien auf starke Individuen angewiesen, die weitreichende Orientierungsentscheidungen für eine neue Zukunft treffen und hier nicht nur treffen, sondern auch ihren Wählerinnen und Wählern vermitteln können. Das reicht weit über denkerische Aufgaben und die Möglichkeiten einzelner Persönlichkeiten hinaus; „Befehlende und Gesetzgeber“, wie Nietzsche sie sich dachte, können dann keine einzelnen Personen mehr sein. Dennoch müssen auch in komplex vernetzten Kooperationen und Institutionen Zukunftsentscheidungen letztlich von Einzelnen zumindest angestoßen, meist auch durchgesetzt werden.
Aus dem Horizont dieser Zukunftsorientierung – in einer von Grund auf veränderten Welt, die nun ohne feste Gründe, aber global vernetzt ist, müssen Einzelne aus eigener Verantwortung weitreichende Zukunftsentscheidungen treffen – ist Nietzsches reiche Zukunftssemantik zu verstehen. Er bildet in seinen Schriften, Briefen und Notaten erstens (1) eine Fülle von Komposita wie „Zukunftsträume“, „Zukunftsabsichten“, „Zukunftsschriften“, „Zukunftsstellung“, „Zukunftsmensch“, „Zukunftsordnung“, „Zukunftsanstalt“, „Zukunftskämpfe“ usw.24 Zweitens (2) handelt er von der Zukunft bestimmter Institutionen, etwa der „Zukunft der Kunst“, der „Zukunft des Arztes“, der „Zukunft der Ehe“, der „Zukunft der Wissenschaft“, der „Zukunft des Christenthums“, der „Zukunft des Adels“ usw. Dazu entwirft er drittens (3) Zukunftsmodelle wie das „Kunstwerk der Zukunft“, die „Kultur der Zukunft“, die „Intelligenz der Zukunft“, „Menschen der Zukunft“, „Genius der Zukunft“, „Moral der Zukunft“, „Stadt der Zukunft“, „Philosoph der Zukunft“. Und viertens (4) thematisiert er die Zukunft selbst im Sinn all dessen, was kommt und als kommend erwartet oder nicht erwartet wird. Diese Zukunft bleibt, bei allen Versuchen zu Prognosen, auch für ihn ungewiss;25 „zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt“, komme man über den „Räthselrather“ nicht hinaus (FW 343). Nietzsche arbeitet auch hier mit Fluss- und Meermetaphern wie „Ocean der Zukunft“ oder „Meer der Zukunft“.26 Man kann, um Prognosen zu erstellen, das ist klar und Nietzsche hat in seiner zweiten Unzeitgemässen Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben ausführlich davon gehandelt, nur Entwicklungslinien in die Zukunft verlängern, die man in der Vergangenheit wahrzunehmen glaubt, ist dabei aber stets bedingt von der gegenwärtigen Situation. So fallen die Zukunftsentwürfe auch immer wieder anders aus, haben selbst ihre Zeit. Nietzsche spricht von „Visionen“, durch die nicht mehr als ein „Zipfel des Zukunfts-Schleiers“ zu heben sei (MA II, VM 180), „Seher“ erzählten „etwas von dem Möglichen“ (M 551), und seinen Zarathustra lässt Nietzsche oft von „Zukünften“ im Plural reden.27
Zukunftsentwürfe sind Teil jeder Orientierung, beim Einzelnen wie bei der Gesellschaft im Ganzen. Sie richten die Orientierung aus und motivieren sie. Wir müssen, notiert Nietzsche in der Zarathustra-Zeit, die „Bedingungen […] errathen, unter denen die zukünftigen Menschen leben – weil ein solches Errathen und Vorwegnehmen die Kraft eines Motivs hat: die Zukunft als das, was wir wollen, wirkt auf unser Jetzt.“ (N 1883, 7[6], KSA 10.237) In der Orientierung geht es stets darum, eine gegebene Situation daraufhin zu erschließen, wie in ihr eine möglichst günstige – nahe oder ferne – Zukunft herbeigeführt werden kann; dadurch wird, wie man sagt, die Situation ,bewältigt‘; ansonsten würde man von seinerseits von der Situation überwältigt. In der Bewältigung neuer Situationen reicht es nicht aus, nach vorgegebenen Normen zu verfahren; Orientierung ist weit mehr zukunfts- als normorientiert: „Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maaßgebend nehmen für alle unsere Werthschätzung – und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen!“ (N 1884, 26[256], KSA 11.217) Normen beschränken die Zukunft, eröffnen sie nicht. Und sofern die Zukunft auch nicht eine, nämlich keine schon bestimmte ist, orientiert man sich zumeist in mehreren sachlichen und zeitlichen Zukunftshorizonten zugleich, kann sie je nach Bedarf verengen und erweitern, festhalten und verlagern, kann, wie Nietzsche notiert, einmal den weitesten Horizonten öffnen und dann „wieder den Vorhang zuhängen und die Gedanken zu festen, nächsten Zielen wenden!“ (N 1883, 21[6], KSA 10.602) Unsere Orientierung wird davon angetrieben, dass wir in ständiger Sorge um unsere vielfältigen Zukünfte leben, und erst wenn es uns gelingt, etwas von ihnen zu erraten und zuverlässig erwartbar zu machen, werden wir einigermaßen ruhig. Man hat dann ,Zuversicht‘ gewonnen (nicht Hoffnungen, denn Hoffnungen verweisen gerade auf Ungewisses). Zuversicht aber – „Zarathustras tiefe Geduld und Zuversicht, daß die Zeit kommt“, notiert Nietzsche einmal (Nachlass 1884/85, 29[23], KSA 11.342) – ermöglicht erst Freiheit: Freiheit in Gestalt von Spielräumen zu alternativen Orientierungsentscheidungen, nach Nietzsche dem „Vermögen, sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und aus- und einzuhängen“ (GM III 12).
Nietzsches methodische Grundhaltung zur Zukunft ist darum geradezu eine „Lust an der Blindheit“:
Meine Gedanken, sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir anzeigen, wo ich stehe, aber sie sollen nicht mir verrathen, wohin ich gehe. Ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegnehmen verheißener Dinge zu Grunde gehen. (FW 287)
Und in einem vorbereitenden Notat hat er dem hinzugefügt:
Ich falle, bis ich auf den Grund komme – und will nicht mehr sagen: „ich forsche nach dem Grunde!“ (N 1881, 12[178], KSA 9.606)
Das macht die methodische Radikalität von Nietzsches Zukunftsorientierung aus: allen scheinbaren Halt der Orientierung versuchsweise loszulassen, nicht um auf einen letzten Grund zu kommen, sondern um zu sehen, wie lange man ohne letzten Grund durchhält und wie weit man damit kommt. Man testet so, fährt Nietzsche fort, wie „weitsichtig und langathmig“ die eigene „unsichtbare Natur“ und wie kurzsichtig der eigene „Geist“ ist:
er errafft mit schnellem Blicke [auf jene Natur] einige ihrer letzten Zipfel und kann nicht satt werden, sich über deren Buntheit und scheinbaren Unverstand zu wundern. (N 1881, 12[178], KSA 9.606)
20.3. Die fröhliche Zukunft einer furchtlosen Philosophie: Übergangszeit für
neue Orientierungen
Nietzsche erwartete von der Einsicht in den Nihilismus, der Haltlosigkeit der Orientierung außer dem Halt, den sie in sich selbst findet,28 eine „Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat“, wie er zu Beginn des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft schrieb. Aber noch sei diese Einsicht nicht durchgedrungen; sie sei wie das letzte Licht eines erlöschenden Sterns erst unterwegs. Solange das Signal noch nicht angekommen und die „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“, die es auslösen müsse, noch nicht ausgelöst sei, stehe den „Erkennenden“, die sich vom Glauben an den alten Gott und all seine „Schatten“ bereits befreit hätten, noch eine „fröhliche“ Zukunft bevor: eine Übergangszeit der „Heiterkeit“, in der „der Horizont wieder frei“ sei und „jedes Wagniss“ des Erkennens eingegangen werden könne (FW 343).29 Das erst nach Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse 1887 erschienene V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, das in „furchtlosen“ Perspektiven davon handelt, „[w]as es mit unserer Heiterkeit auf sich hat“ (FW 343), ist also ein Buch für die nächste Zukunft, auf die, wie Nietzsche zu sehen meinte, jene „ungeheure Logik von Schrecken“ folgen werde, die, wenn man seine Erwartungen so direkt mit tatsächlich eingetretenen geschichtlichen Ereignissen verknüpfen darf, im Europa des 20. Jahrhunderts dann auch wirklich folgte. Nietzsche hat sie nach Abschluss des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft im schon mehrfach zitierten Lenzer Heide-Notat mit verblüffender Treffsicherheit vorgezeichnet, wenn er – um es, nun im Horizont der Zukunftsthematik, nochmals zu wiederholen – von einer „Crisis“ sprach, die einen „Willen zur Zerstörung“ hervorrufen müsse und den „noch tieferen Instinkt“, „die Mächtigen [zu] zwingen, ihre Henker zu sein“ (Nachlass 1886/87, 5[71]11-14, KSA 12.215-217.). In der Genealogie der Moral, die er anschließend niederschrieb, führte er das nicht mehr aus, und auch im späteren veröffentlichten Werk ließ er es vorsichtig offen. Und das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft selbst schloss er wohl mit der Formel „die Tragödie beginnt …“ (FW 382), ließ darauf aber noch ein Satyrspiel (FW 383) und die Lieder des Prinzen Vogelfrei folgen. In seiner neuen Vorrede zur ergänzten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft schickte er dazu voraus:
„Incipit tragoedia“ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel… (FW, Vorrede 1)30
Man darf also auch der tragischen Prognose nicht einfach glauben – und auch ihrer Parodierung nicht: denn das „Incipit tragoedia“ kann sich ebenso wie auf das Ende des V. Buchs von 1887 auf das Ende des IV. Buchs von 1882 beziehen, das den Anfang des folgenden Also sprach Zarathustra vorwegnimmt, und so kann man auch „Zarathustras Untergang“ ebenso als Tragödie wie als Parodie verstehen. In der Übergangszeit für neue Orientierungen zeigt Nietzsche alternative Orientierungsentscheidungen auf, ohne sie vorwegzunehmen.
Er kann sie weder noch will er sie vorwegnehmen. Und eben das wird jetzt, in dieser Zeit der Heiterkeit, zu seinem Ideal, dem Ideal, die Zukunft nicht mit Erwartungen und Prognosen zu beschweren, sondern so weit wie möglich offen zu halten, sich in jeweils neuen Situationen neu zu orientieren und dabei auch hergebrachte Normen und Werte in Frage zu stellen. Auch hier spielt er mit dem Doppel von Tragödie und Parodie:
Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, welches oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erdenernst, neben alle bisherige Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt — und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt… (FW 382)
Was ihm da vorschwebt, ist das Ideal einer souveränen Orientierung, die in langen Erprobungen und Bewährungen ihrer Entscheidungen an immer neuen Situationen ihrer selbst so sicher geworden ist, dass sie von Fall zu Fall, von Situation zu Situation die Reichweite und Haltbarkeit ihrer Entscheidungen sicher einschätzen kann oder kurz, wie Nietzsche dann in Zur Genealogie der Moral sagt, „versprechen darf“ (GM II 1). „Lebens-Gewissheit“ in diesem Sinn ist, so Nietzsche, „Zukunfts-Gewissheit“ (GM III 25): Der „Typus Mensch“, den er vor Augen hat, ist der eines „zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 8), der dem „Schicksal“ so standhält, das er das aus ihm machen kann, was er selbst will.31 Das Ideal einer solchen Orientierung könnte in der Tat das heutige Ideal sein, zumal jüngerer Generationen, und ,Entscheidern‘, wie man sie jetzt nennt, weiblichen wie männlichen, wird es zum Maßstab gemacht. Nietzsche selbst war in persönlichen und besonders in philosophischen Dingen ganz ungewöhnlich ,entscheidungsfreudig‘.
20.4. Nietzsches Zukunftsorientierung: Die „Musik der Zukunft“ in „Labyrinthen der Zukunft“
Im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft hatte er davon gehandelt, dass Philosophen, die von Idealismen geprägt seien, die „Musik des Lebens“ nicht mehr hörten, all das, was im Leben über das nach idealisierten Begriffen Fassbare hinaus mitspielt.32 Seine fröhliche Wissenschaft war darauf angelegt, diese Musik wieder hörbar zu machen und den ganzen bisher noch wenig beachteten Reichtum der menschlichen Orientierung zu erschließen. In einem bald auf das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft folgenden Entwurf einer Vorrede für sein geplantes „Hauptwerk“ unter dem Titel „,Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe‘“ – es kam bekanntlich nie zustande, Nietzsche setzte schließlich Der Antichrist an dessen Stelle33 –, band er die Musik des Lebens in das Thema der Zukunft ein, die schon „in hundert Zeichen“ rede, und führte sie als „Musik der Zukunft“ fort. Diese Zukunft ist weiterhin „die Heraufkunft des Nihilismus“, und dessen Musik klingt nicht fröhlich:
Unsere ganze europäische Cultur bewegt sich seit langem schon; mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst; einem Strome ähnlich, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen. (Nachlass 1887/88, 11[411]2, KSA 13.189 / KGW IX 7, W II 3, S. 4)34
Ein Philosoph kann die hereinbrechende Katastrophe nicht aufhalten, und Nietzsche, der „Einsiedler aus Instinkt, der seinen Vortheil im Abseits, im Außerhalb, in der Geduld, in der Verzögerung, in der Zurückgebliebenheit fand,“ der „Wage- und -Versucher-Geist“, will es auch nicht. Er hält sie für heilsam und will sich nur auf sie „besinnen“. Er kann das exemplarisch, weil er „sich schon in jedes Labyrinth der Zukunft einmal verirrt hat“, also nicht, weil er die Zukunft kennt, sondern weil er gelernt hat, sich auch in Labyrinthen zurechtzufinden.35 Er wird so zum „Wahrsagevogel-Geist“, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn er und, soweit er sieht, vorerst nur er kann von sich sagen, er sei
der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat… (Nachlass 1887/88, 11[411]3, KSA 13.190 / KGW IX 7, W II 3, S. 4)36
Aufgrund dieser Erfahrungen – und den Abhandlungen Zur Genealogie der Moral, die er inzwischen vorgelegt hat und die auch die Geschichte des Nihilismus erzählen – kann er sichtlich mehr sagen als andere, kann plausiblere Linien aus der Vergangenheit in die Zukunft ziehen. Und dennoch bleibt die Zukunft ein Labyrinth, wenn nicht eine unübersehbare Vielfalt von Labyrinthen: Nach dem Einbruch nicht nur der Metaphysik, sondern auch des Fortschrittsdenkens kann man sich keiner Zukunft mehr sicher sein, sondern weiß sich nun auf „neuen Meeren“, die keine Gewähr und keine Hoffnung geben, jemals in irgendeinem sicheren Hafen anzukommen.37
Nichtsdestoweniger verkündet Nietzsche seine Botschaft als „Zukunfts-Evangelium“: Zunächst hatte er im 4. Abschnitt seines Vorreden-Entwurfs noch „Zukunfts-Buch“ notiert, dann „Zukunfts-Dysangelium“ erwogen und zuletzt „Zukunfts-Evangelium“ gesetzt; in Ecce homo wird er sich einen „frohe[n] Botschafter“ nennen, „wie es keinen gab“ (EH, Warum ich Schicksal bin 1).38 Sicher nicht, weil nun eine Katastrophe bevorsteht, sondern weil er unter dem Titel „,Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte‘“ eine „Gegenbewegung“ gegen des Leiden unter dem Nihilismus einleiten will,
eine Bewegung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablösen wird; welche ihn aber voraussetzt, logisch und psychologisch, welche schlechterdings nur auf ihn und aus ihm kommen kann. (Nachlass 1887/88, 11[411]4, KSA 13.190)
Danach sind ,Wille zur Macht‘ und ,Umwertung aller Werte‘ keine positiven Lehren, sondern Gegenbegriffe gegen metaphysische Dogmen, die sagen sollen, was war, ist und sein wird: Mit der Formel des ,Willens zur Macht‘ wird gegen die Annahme eines an sich bestehenden und gerechtfertigten und darum wahren Allgemeinen davon ausgegangen, dass alles – auch und gerade begriffliche Festlegungen – unablässig mit allem Übrigen in Auseinandersetzung steht und sich darin, je nach Situation, laufend umformen kann, und mit der Formel der ,Umwertung aller Werte‘ wird dies auch und im Besonderen auf die Werte bezogen. Beides öffnet die Zukunft in alle Richtungen. Der „vollkommene Nihilismus“ soll dadurch jedoch nicht, wie Nietzsche meist unterstellt wird, ,überwunden‘ werden – er ist gerade dann „vollkommen“, wenn man sich ganz in ihn hineingelebt hat –, sondern ,abgelöst‘.39 Als Nietzsche sich zuvor fragte „was bedeutet Nihilism?“, hatte er sich die Antwort gegeben: „daß die obersten Werthe sich entwerthen.“ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350) Hat man diese Entwertung einmal nachvollzogen, so wie es Nietzsche von sich sagen kann, verliert der Nihilismus seinen Schrecken, und man kann nun mit ihm leben. Er wird dann, wie Nietzsche dort zuletzt hinzufügte, „ein normaler Zustand“ (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350 / KGW IX 6, W II 1, S. 115).40 Die Formeln ,Wille zur Macht‘ und ,Umwertung aller Werte‘ sollen dazu befreien, mit dem Nihilismus zu leben und sich damit neu, ohne Idealisierungen und Illusionierungen, die ihn verdecken, in den Labyrinthen der Zukunft zu orientieren.
Und dabei hilft dann die Wertesemantik. Man wird, wenn man den Nihilismus als normalen Zustand erkannt und akzeptiert hat, nicht mehr nach letzten Wahrheiten oder ,der Wahrheit‘ überhaupt suchen. Es ist dann klar, man kann sie nicht haben (Nachlass 1880, 3[19]), KSA 9.52).41 Dennoch bleibt die Wahrheit ein Wert, denn hätte man sie, wäre sie der zuverlässigste Halt der Orientierung. Und man kann von Fall zu Fall ja auch durchaus Wahrheit von Schein, Irrtum und Lüge unterscheiden, wenn auch immer nur in begrenzten Horizonten und aufgrund von Anhaltspunkten und nach Maßstäben, die sich ihrerseits als falsch oder verfehlt herausstellen können. Dem Wert solcher von Fall zu Fall zu ermittelnden Wahrheiten steht dann stets ein alternativer Wert gegenüber, der Wert der Unwahrheit: Sie ist überall dort, im persönlichen wie im gesellschaftlichen Leben, ein hoher Wert, wo man sich über schwer erträgliche Wahrheiten hinwegzutäuschen sucht oder andere darüber hinwegtäuschen will oder muss. So wird der Wert der Wahrheit entscheidbar. „Gesetzt, wir wollen Wahrheit“, hatte Nietzsche zur Eröffnung von Jenseits von Gut und Böse programmatisch gefragt, „warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit?“ (JGB 1) Wir wollen sie, nüchtern betrachtet, in der Tat beide und wechselnd die eine oder die andere, so wie es die Notwendigkeiten des Lebens erfordern, und nach Nietzsche haben gerade die Bekenntnisse zu einer unbedingten Wahrheit, die den Nihilismus verdecken sollten, zur ständigen Unwahrheit, Lüge und Verlogenheit gezwungen. Solche Bekenntnisse aber hätten sich nun an sich selbst aufgerieben, der unbedingte Wille zur Wahrheit habe schließlich, auf dem Weg des Unglaubwürdigwerdens des Glaubens an Gott, der diesen Willen unentwegt gefordert habe, zur Einsicht in seine eigene Bedingtheit geführt. Es sei dies
ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet… Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. (FW 357)
Und darauf führt Nietzsche nun auch den Entwurf seiner Vorrede zum geplanten Hauptwerk hinaus:
Denn warum ist die Heraufkunft des Nihilismus nunmehr nothwendig? Weil unsere bisherigen Werthe selbst es sind, die in ihm ihre letzte Folgerung ziehn; weil der Nihilism die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werthe und Ideale ist, – weil wir den Nihilismus erst erleben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser „Werthe“ war… Wir haben, irgendwann, neue Werthe nöthig… (Nachlass 1887/88, 11[411]4, KSA 13.190)
Die Zukunft ist damit nun auch und vor allem eine Zukunft der Werte und der Möglichkeiten ihrer Umwertung.
20.5. Die Zukunft der Werteorientierung
Die Wertesemantik, die inzwischen die philosophische, politische und publizistische Sprache beherrscht, war zu Nietzsches Zeit noch jung; sie verbreitete sich erst im 19. Jahrhundert und wird inzwischen der Rede von Tugenden und Normen bei weitem vorgezogen.42 Sie kommt besonders in der Politik und in den Medien, in der Sachbuch-Literatur und auch in der Philosophie gut an. Mit seiner wuchtigen Formel einer ,Umwertung der Werte‘ oder, noch weiter ausholend, einer ,Umwertung aller Werte‘ verschaffte Nietzsche ihr den größten Nachdruck; in seinen späteren Werken, insbesondere in Der Antichrist und Ecce homo von 1888, hämmert er sie den Leser(inne)n geradezu ein. Werte sind Beurteilungsgesichtspunkte, nach denen man sich für ein Handeln entscheiden oder, wenn das Handeln aus anderen Gründen zustande gekommen ist, es nachträglich rechtfertigen kann. Die Wertesemantik zeichnet sich gegenüber der Normensemantik, die seit je das Recht beherrscht, dadurch aus, dass sie dem Handeln Spielräume lässt. Dazu muss sie komplexer als die Normensemantik sein. Denn während man Normen schlicht zu folgen hat, orientiert man sich an Werten. Indem man sich an ihnen orientiert, hält man Distanz zu ihnen, um zu überlegen und zu entscheiden, an welche von ihnen man sich in welcher Situation mit welchem Gewicht halten kann und soll. Während Normen Geltung an sich beanspruchen, behält man sich bei Werten vor, ob und wie weit sie wann Geltung beanspruchen dürfen (soweit das auch bei Normen der Fall ist, werden sie ebenfalls zu Werten). Spielräume zu lassen ist ein Grundzug der Orientierung. Die Orientierung braucht Spielräume, um ihre Zeichen und Begriffe in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich verwenden zu können. Denn so werden sie in ständig wechselnden Situationen erst brauchbar und können mit der Zeit ihren Sinn neuen Bedürfnissen anpassen. Durch diese Spielräume der Orientierung wird das von Wittgenstein formulierte und viel diskutierte Regelparadox entschärft oder entparadoxiert, nach dem man einer Regel nur folgt, wenn man ihr „blind“ folgt, ihr dann aber gerade nicht „folgt“, weil man keine Distanz zu ihr hat.43 Die Spielräume der Orientierung eröffnen die Distanz zum Befolgen von Regeln und so auch zur Heranziehung von Werten.
Auf diese Weise schafft die Wertesemantik nicht die Gewissheit, das Richtige zu tun, aber sie versichert, stets Richtiges zu tun. Denn weil Werte meist von Unwerten unterschieden werden und diesen fraglos vorgezogen werden, Frieden dem Krieg, Wohlstand der Armut, Freiheit der Unfreiheit, Glück dem Unglück, gelten sie immer schon als gut; hält man sich beim Handeln oder der Rechtfertigung seines Handelns an einen solchen guten Wert, ist man immer schon auf der moralisch sicheren Seite, welchen von ihnen man auch wählt, für welchen man sich auch entscheidet. Und man hat, wenn man sich für ein Handeln entscheidet und sich nicht ,blind‘ Normen unterwerfen will, nur an solche Werte, um sich an sie zu halten. Denn Handeln ist nach Nietzsches Satz: „Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen …“ (JGB 108) nicht an sich selbst wertvoll oder verwerflich, sondern wird immer erst als wertvoll gedeutet – und kann dann so oder anders gedeutet werden. Dasselbe Handeln verschiedener Leute (soweit es das geben mag) kann, wie dann Luhmann in komplexen Analysen herausgearbeitet hat, stets nach verschiedenen Werten beurteilt werden, man kann nach denselben Werten (soweit es sie gibt) verschieden handeln, und man kann, wenn man geschickt genug ist, dasselbe Handeln gegenüber verschiedenen Leuten nach verschiedenen Werten rechtfertigen; das ist uns alltäglich vertraut.
Werte müssen einander dabei nicht widersprechen. Denn es gibt sie in unbestimmter und ungeordneter Menge; Widersprüche zwischen Werten aber würden nur offenkundig, wenn die Werte in einem System klar einander zugeordnet wären. Werte aber kann man nebeneinander stehen lassen und sie, wenn sie in einer konkreten Situation oder generell in Frage gestellt werden, wieder durch andere Werte absichern. Innerhalb des Wortfelds des Werts kann man vom Werten in individuellen Situationen zur Generalisierung und Substantivierung des Wertens als Wertung, von da aus zur Typisierung solcher Wertungen als verbreiteter Wertschätzungen und schließlich zu Werten selbst als Substantialisierungen dessen übergehen, was dabei geschätzt wird, und diese Werte zu etwas an sich, vom individuellen Werten unabhängig Bestehendem ontologisieren. Werte scheinen dann Gegenstände zu sein, die entstehen und vergehen, bleiben und sich verändern und in beidem von außen beobachtet werden können. So lassen sie Konsens in einer Wertegemeinschaft vermuten und geben darin Orientierungssicherheit im Handeln – soweit man sich an andern oder, wie Nietzsche bissig sagte, an der ,Herde‘ orientiert. Nicht nur Politiker, Lobbyisten und Publizisten tragen darum Werte wie Monstranzen vor sich her – und können sich dabei zugleich Spielräume für abweichendes Handeln offen halten, die die Orientierung an Werten lässt.44
Mit den Spielräumen, die sie dem guten Handeln in wechselnden Situationen schafft, eröffnet die Werteorientierung Spielräume nicht nur für den Wertewandel, der sich meist stillschweigend vollzieht, sondern auch für eine gezielte Umwertung von Werten. Nietzsche will sie dadurch auslösen, dass er den Wert von Werten in Frage stellt und damit den Begriff des Wertes auf sich selbst bezieht („dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser ,Werthe‘ war“; Nachlass 1887/88, 11[411]4, KSA 13.190). Wird eine Unterscheidung, hier die Unterscheidung von Wert und Unwert, mit ihrer negativen Seite, hier des Unwerts, auf sich selbst bezogen, wird sie (wie beim berühmten Beispiel ,ich lüge‘) paradox. Dann sind die beiden Gegensätze zugleich wahr (wenn ich sage, dass ich lüge, sage ich zugleich die Wahrheit), und so kann jeder Wert zugleich ein Unwert sein. Nietzsche führt das exemplarisch eben am Wert der metaphysischen Wahrheit vor, die, gerade sie, ein Irrtum sein könnte. Sie ist es nach Nietzsche unter dem Gesichtspunkt eines weiteren Werts, dem des menschlichen Lebens, für dessen Erhaltung und Steigerung der Irrtum, die Illusion, die Lüge, also der bisherige Unwert, einen höheren Wert haben können als die Wahrheit – und jene Wahrheit war, so Nietzsche, ein Irrtum, den die Menschen in Europa über Jahrtausende brauchten, um den Nihilismus zu verdecken:
Wahrheit ist die Art von Irrthum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt. (Nachlass 1885, 34[253], KSA 11.506)
Der Gesichtspunkt des Lebens, der Wert für das Leben, also ein außermoralischer Gesichtspunkt, ist für Nietzsche der Gesichtspunkt für seine Umwertung von Werten überhaupt. Unter ihm wird der Werte aller Werte, einschließlich des Wertes der Wahrheit, entscheidbar, nicht willkürlich, sondern je nachdem, wie neue Situationen es erfordern, und die „Heraufkunft des Nihilismus“ war für Nietzsche eine solche Situation. Sie machte die Umwertung aller Werte notwendig und sie machte damit eine neue Zukunftsorientierung möglich.
Wenn Nietzsche am Ende seines Entwurfs zur Vorrede für sein geplantes Hauptwerk „,Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werthe“ von „nothwendig“ und „Logik“ sprach, folgte er der Logik der Paradoxierung, die die Bewertung von Gegensätzen neu entscheidbar macht, und dachte dabei an „neue Werthe“ (Nachlass 1887/88, 11[411]4, KSA 13.190). Dem Notat geht in demselben Notizheft W II 3 jedoch ein früheres voraus, das es vorbereitet und auch schon „Zur Vorrede“ überschrieben ist: Nachlass 1887/88, 11[119], KSA 13.56 f. (KGW IX 7, W II 3, S. 146 f.). Nietzsche hat an ihm stark gearbeitet, hat es ergänzt und korrigiert, es nochmals auf der gegenüberliegenden Seite seines Notizheftes, die er für solche Fälle meist freihielt, neu geschrieben, um es dann nochmals neu in dem späteren Notat niederzuschreiben, das wir besprochen haben. Das frühere Notat beginnt ebenfalls schon mit einem Absatz zur „Heraufkunft des Nihilismus“, doch noch ohne die Formeln „Musik der Zukunft“ und „Labyrinth der Zukunft“, und beschreibt stattdessen die Heraufkunft des Nihilismus wie im Lenzer Heide-Notat als Krise, als „eine der größten Krisen“, nämlich als Krise des bisher geltenden Werte. Dann folgt ein Absatz, den Nietzsche nicht mehr in die spätere Fassung übernommen hat, und er ist für die Zukunft der Werteorientierung der interessanteste – eben weil hier von Zukunft nicht die Rede ist:
der moderne Mensch glaubt versuchsweise bald an diesen, bald an jenen Werth und läßt ihn dann fallen: der Kreis der überlebten und fallengelassenen Werthe wird immer voller; die Leere und Armut an Werthen kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung ist unaufhaltsam – obwohl im großen Stil die Verzögerung versucht ist –
Nietzsche beschreibt damit sichtlich jenen stillschweigenden Wertewandel und dies so, wie es meist geschieht, als Entwertung von Werten, die irgendwann „zum Gefühl“ kommt und „unaufhaltsam“ ist, auch wenn manche versuchen, sie aufzuhalten. Von der logischen Figur der Paradoxierung macht er hier (noch) nicht Gebrauch, er bringt sich selbst (noch) nicht ins Spiel und damit auch nicht seine Aussicht auf eine Umwertung aller Werte. Stattdessen folgt – im nächsten Absatz des Notats – die tiefe Enttäuschung:
Endlich wagt er [der moderne Mensch] eine Kritik der Werthe überhaupt; er erkennt deren Herkunft; er erkennt genug, um an keinen Werth mehr zu glauben;
der Wertekrise folgt hier die Wertekritik und der Wertekritik die Krise der Wertesemantik überhaupt:
das Pathos ist da, der neue Schauder… (Nachlass 1887/88, 11[119], KSA 13.57 / KGW IX 7, W II 3, S. 146, ohne Korrekturen)
Das „Pathos“ könnte der Schauder davor sein, dass, wenn die Werte sich in dieser Weise entwerten, die Wertesemantik als solche in die Krise kommt, dann aber auch die Rede vom Schaffen neuer Werte leer und arm wird. Nietzsche hätte dann nichts mehr für seine Zukunftsorientierung in der Hand.45
Zwischen beiden Entwürfen liegt ein weiterer, sehr stark bearbeiteter und ergänzter, der in der KSA nicht abgedruckt wurde, am Ende bzw. Anfang (da Nietzsche die Hefte von hinten nach vorn zu beschreiben pflegte) des Notizhefts W II 7: KGW IX 9, W II 7, S. 2-4. Nietzsche hat ihn später mit Haushaltsrechnungen überschrieben. Er bringt ein weiteres aufschlussreiches Detail: Wo im ersten Entwurf in W II 3 steht „er erkennt genug, um an keinen Werth mehr zu glauben“, steht in diesem Entwurf (dem ersten in W II 3) „den N. [Nihilismus] erst erlebt haben müssen, um zu begreifen {argwöhnen}, was {eigentlich} der Werth dieser Werthe ist …“, und im dritten dann (dem zweiten in W II 3) „weil wir den Nihilismus erst erleben haben müssen, um dahinter zu kommen, was eigentlich der Werth dieser ,Werthe‘ ist {war …}“. Nietzsche geht vom Erkennen zum Erleben und vom Glauben zum Argwöhnen über – das Begreifen verwirft er gleich – und dann zum Dahinter-Kommen, also Erforschen nach Art seiner Genealogie. Die Gewissheit der Erkenntnis sind, Nietzsche kann auch der Wahrheit seiner eigenen Aussagen immer weniger sicher sein.
Und tatsächlich wurde man, so populär die Wertesemantik heute ist, auch misstrauisch gegen sie. So wehrte sie Heidegger, als er sich vom Neukantianismus löste, der massiv in die Wertesemantik eingestiegen war, scharf ab: das Sein, um das es ihm ging, sollte kein Wert sein, der in seinem Wert steigen und sinken kann.46 An Heidegger schloss dann Carl Schmitt mit seiner berühmten Formel von der „Tyrannei der Werte“ an.47 Doch Luhmann, der deutlich skeptisch gegenüber der Wertesemantik blieb, sah auch ihren Gewinn für die moderne funktional differenzierte Gesellschaft: Wenn die „Wertepräferenz“, der Vorzug des einen Werts vor dem andern, jeweils „situationsbezogen“, in moralischem Sinn also „opportunistisch“ ist,48 so schafft sie dem Einzelnen eben auch Spielräume, sich an seine eigenen Werte zu halten.
20.6. Amor fati als Verzicht auf Zukunftsorientierung
Nietzsche hat sich von dem „Schauder“ über die Selbstentwertung der Wertesemantik nicht von der Umwertung aller Werte als Zukunftsorientierung abschrecken lassen. Zugleich zog er aber auch eine andere Konsequenz: den Verzicht auf Zukunftsorientierung überhaupt, den er in die Formel des amor fati fasste.49 Sie erinnert stark an Spinozas Formel vom amor Dei intellectualis, der Liebe Gottes, der sich in seiner Schöpfung zeigt, zu dieser Schöpfung und damit zu sich selbst, einer Liebe, die auf seiner vollkommenen Einsicht in die Notwendigkeit dieser Schöpfung beruht. Nietzsche hatte Spinoza eines Tages, im Sommer 1881, emphatisch als einen „Vorgänger und was für einen!“ erkannt50 und von dieser Zeit an sich auch emphatisch zum amor fati bekannt, in diesem Punkt sich aber nicht auf ihn berufen.51 Man kann jedoch zeigen, wie schon Spinoza in seiner Ethica ordine geometrico demonstrata mit Paradoxien gearbeitet hat,52 und auch Nietzsche arbeitet nun mit der Paradoxierung weiter. An der ersten der wenigen (und darum immer wieder zitierten) Stellen zum amor fati in Nietzsches Werk heißt es:
Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! (FW 276)
Er äußert hier einen Wunsch, einen Neujahrswunsch, und der Wunsch besteht darin, zu der Paradoxie fähig zu sein, das Hässliche, wenn es notwendig ist, als das Schöne zu sehen, es also umzuwerten. Der Sinn einer solchen Umwertung des Hässlichen zum Schönen wäre dann ja aber gerade, hinsehen zu können – doch Nietzsche will wegsehen. Luhmann hat die Paradoxie als Medusenantlitz eingeführt, in das logisch Denkende nicht blicken dürfen, wenn sie nicht zu Stein erstarren sollen, und das sie darum, wenn sie es denn wie dereinst Perseus abschlagen wollen, um weitermachen, in ihrem Fall weiterdenken zu können, unsichtbar machen, ,invisibilisieren‘ müssen.53 So invisibilisiert Nietzsche hier die Paradoxie, sieht von ihr weg, indem er sie ästhetisch verklärt, um dann zum verklärenden Schein Ja sagen zu können.54
Später, in Ecce homo, kann er hinsehen und paradoxiert nun ohne Scheu das Werten überhaupt und mit ihm das Wollen. Jedes Werten schließt ein Wollen und jedes Wollen ein Werten ein; man will, was man schätzt, und man schätzt, was man will. Will man aber etwas, will man etwas anders haben, als es ist (sonst brauchte man es nicht zu wollen). Und Nietzsche macht jetzt den amor fati, den Verzicht auf alles Werten und Wollen und damit auf alle Vorfestlegungen der Zukunft durch Absichten und Wünsche, zu seiner „Formel für die Grösse am Menschen“:
dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen – aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen –, sondern es lieben… (EH, Warum ich so klug bin 10)
In einem Brief an Georg Brandes, der ihn durch Vorlesungen und Vorträge bekannt zu machen begann, hatte er zuvor geschrieben, in ihm sei „ein Hauptbegriff des Lebens geradezu ausgelöscht […], der Begriff ,Zukunft‘. Kein Wunsch, kein Wölkchen Wunsch vor mir! Eine glatte Fläche!“55 Auch dies nahm er in Ecce homo auf:
Etwas ,wollen‘, nach Etwas ,streben‘, einen ,Zweck‘, einen ,Wunsch‘ im Auge haben – das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung. Noch in diesem Augenblick sehe ich auf meine Zukunft – eine weite Zukunft! – wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im Geringsten, dass Etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden. Aber so habe ich immer gelebt. Ich habe keinen Wunsch gehabt. (EH, Warum ich so klug bin 9)
Ein solches Nichts-anders-haben-Wollen ist darin paradox, dass es auch das Anders-haben-Wollen einschließt und das Nicht-Werten auch das Nicht-Werten des Wertens, der amor fati, die Liebe zum Schicksal, auch das odium fati, den Hass auf das Schicksal, und mit ihm auch alle Festlegungen auf Zukünfte, die aus der verhassten Gegenwart hinausführen, bis hin zu einer auf Zeitlosigkeit drängenden Metaphysik. Nietzsche hat sich zuletzt gezwungen, selbst das, was er nun die „großen Cultur-Verbrechen der Deutschen“ nannte – er meinte noch Luther, Kant und Bismarck –, zu schätzen. Er konnte das, wie zuvor unter dem Gesichtspunkt des Lebens, so jetzt unter dem Gesichtspunkt „einer höheren Ökonomik der Cultur“, die schließlich zur Aufdeckung des Nihilismus durch ihn selbst führte. So notierte er sich zuletzt:
Ich will Nichts anders, auch rückwärts nicht, — ich durfte Nichts anders wollen… Amor fati… Selbst das Christenthum wird nothwendig: die höchste Form, die gefährlichste, die verführerischeste im Nein zum Leben fordert erst seine höchste Bejahung heraus – mich… Was sind zuletzt diese zwei Jahrtausende? Unser lehrreichstes Experiment, eine Vivisektion am Leben selbst… Bloß zwei Jahrtaus<ende>!… (Nachlass 1888/89, 25[7], KSA 13.641)
Doch dies ist wieder eher ein Umwerten nach vorgegebenen Werten als das paradoxe Nicht-anders-haben-Wollen auch des Anders-haben-Wollens, in dem sich das Wollen und Werten selbst aufhebt. Und ein solches Sich-Aufheben des Wollens und Wertens lässt sich, wenn schon nicht logisch, so auch praktisch offensichtlich nicht durchhalten. Wunschlosigkeit ist bei lebendigen Wesen kaum möglich, und auch Nietzsche hatte weiterhin Lebensbedürfnisse und Wünsche. So bedankte er sich eben zu der Zeit, als er den Gedanken des amor fati stark zu machen versuchte, freudig bei seiner Mutter dafür, dass sie ihm wieder ein Stück Zukunft verschafft habe, als sie ihm einen seiner geliebten Schinken sandte:
Der Schinken sieht äußerst delikat und stattlich aus: ich blicke mit neuem Vertrauen in die Zukunft – und das ist Etwas !! Denn ich habe eine böse und schwere Zeit bisher durchgemacht.56
Die Wunschlosigkeit bleibt ein Wunsch, ein Ideal, eine Illusion. Es ist verräterisch, dass Nietzsche nun mehrfach beteuert, der amor fati sei seine „innerste Natur“ (EH, WA 4; NcW, Epilog 1). Er stellt damit eine Wesensbehauptung auf, wie er sie stets kritisiert und destruiert hatte. Ein ,Innerstes‘, das sich aller ,äußeren‘ Beobachtung entzieht, ist im wörtlichen Sinn meta-physisch; mit der Formel „innerste Natur“ wird die Paradoxie des amor fati wiederum nur invisibilisiert.
Dennoch ist das nicht das letzte Wort. Der paradoxe Gedanke des amor fati, allem Anders-haben-Wollen zugleich und mit gleichem Recht ein Nichts-anders-haben-Wollen entgegenzusetzen, hat durchaus eine Wirkung: Er befreit den Umgang auch mit der Zukunft, befreit davon, sie langfristig und möglichst auf immer festlegen zu wollen, und macht die Metaphysizierungen, Idealisierungen und Illusionierungen sichtbar, die dazu notwendig sind, auch im Fall Nietzsches selbst. Er verhilft dazu, sich soweit wie eben möglich an die Gegenwart zu halten, wie sie ist, hinter alle illusionäre Bindungen der Zukunft Fragezeichen zu setzen und sich stattdessen auf die Ungewissheiten der unmittelbaren Situation einzulassen, in der sich alles neu entscheiden kann. Damit aber beginnt alle Orientierung. Sie muss unter weitestgehender Unwissenheit und Ungewissheit laufend Orientierungsentscheidungen treffen, die dann jeweils unterschiedliche Zukünfte eröffnen und andere verlorengehen lassen, ohne dass man sich auf irgendeine fest verlassen, ganz an sie halten könnte. Orientierungsentscheidungen von den Situationen abhängig machen, in denen sie fallen, und sich auf die Zukünfte einstellen, die daraus folgen mögen, ist alltäglich gelebter amor fati. Um das aber zu können, muss man das Leben lieben, so wie es ist. Das könnte das beste Zukunftsversprechen sein. Sofern Nietzsches Denken das wie kein anderes bisher plausibel macht, hat es, scheint mir, Zukunft auf unabsehbare Zeit.
1 Vgl. den vorhergehenden Beitrag in diesem Band.
2 Vgl. insbesondere die herausragende Arbeit von Alfons Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsichen Welt 1960-2000 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 45), Berlin/New York 2003. Für die deutsche Nietzsche-Forschung fehlt bisher eine vergleichbare Darstellung.
3 Einen guten und knappen Überblick über die weiten Ausfächerungen der Nietzsche-Rezeption gibt Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2000, S. 428-530.
4 Vgl. exemplarisch Steven E. Aschheim, The Nietzsche legacy in Germany 1890-1990, Berkeley/Los Angeles (University of California Press) 1992, deutsch: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, aus dem Engl. von Klaus Laermann, Stuttgart/Weimar 1996, der insbesondere Nietzsche-Kulte verfolgt, und Werner Stegmaier / Daniel Krochmalnik (Hg.), Jüdischer Nietzscheanismus (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36), Berlin/New York 1997.
5 Vgl. die Kontroverse zum Thema „Was heißt und wie kann man ,Werte schaffen‘?“, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 5-175.
6 Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart, in: Marcus Andreas Born / Axel Pichler (Hg.), Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in Jenseits von Gut und Böse, Berlin/Boston 2013, S. 205-230.
7 Vgl. den Beitrag Nietzsches Verzeitlichung des Denkens in diesem Band.
8 Vgl. Stephan Günzel, Zur Archäologie von Erde, Leib und Lebenswelt. Nietzsche – Husserl – Merleau-Ponty [O arheologiji zemlje, telsa in ivljenskega sveta. Doloitev meja Husserlove in Merleau-Pontyjeve fenomenologije po Nietzscheju, slowenische Übersetzung von Alfred Leskovec], 6-9, in: phainomena. Journal of the Phenomenological Society of Ljubljana, Vol. XII/43-44 (2003), S. 283-307, deutscher Text unter www.stephan-guenzel.de/Texte/Guenzel_HusserlNietzsche.pdf.
9 Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, und dazu Werner Stegmaier, [Heideggers] Auseinandersetzung mit Nietzsche I – Metaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers, in: Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Dieter Thomä, Stuttgart / Weimar 2003, S. 202-210.
10 Vgl. Za II, Die stillste Stunde, KSA 4.189. In diesem Sinn formte Josef Simon seit 1972 ein eher stilles, vor allem für die deutschsprachige Nietzsche-Forschung aber maßgebliches „neues Nietzsche-Bild“. Vgl. Josef Simon, Das neue Nietzsche-Bild, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 1-9, und Werner Stegmaier, Josef Simons Nietzsche-Interpretation. Fünf Grundzüge zur Orientierung, in: Nietzsche-Studien 39 (2010), S. 2-11.
11 Vgl. Nachlass 1888, 16[32], KSA 13.492: „Eine solche Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe, nimmt versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichsten Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe.“ (korr. nach KGW IX 9, W II 7, S. 144; zur KGW IX s.u.) „Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe,“ hat Nietzsche zuletzt an Stelle von „Denkweise“ und „Disciplin als Philosophie“ eingefügt. Vor allem Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln/Wien 1980, hat auf diesen Begriff aufmerksam gemacht.
12 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, ist dafür nur ein Beispiel unter vielen anderen.
13 Vgl. Marco Brusotti, „Il mio scopo è una ,trasvalutazione dei valori‘“. Wittgenstein e Nietzsche, in: Rivista di estetica 45.1 (2005), S. 147-164; Wittgensteins Nietzsche. Mit vergleichenden Betrachtungen zur Nietzsche-Rezeption im Wiener Kreis, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 335-362.
14 Ludwig Wittgenstein, Zettel, § 382, in: L.W., Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt am Main 1984, S. 362.
15 Die Nähe des späten Wittgenstein zu Nietzsche wird in der Forschung erst allmählich erschlossen. Vgl. Glen T. Martin, From Nietzsche to Wittgenstein. The Problem of Truth and Nihilism in the Modern World, New York/Bern/Frankfurt am Main/Paris 1989, der, ohne Scheu vor der „groundlessness“ des (recht verstandenen) Relativismus und Nihilismus, das philosophische Denken Nietzsches und des späten Wittenstein in ihrer entschiedenen Begrenzung auf die phänomenale Welt eng zusammenführte, mit dem Ergebnis einer „creative responsiveness“ im situativen Umgang mit den Phänomenen, die einen Halt in einem An-sich der Welt erübrige (S. 357). Zur weiteren Forschung s. Werner Stegmaier, Schreiben / Denken : Nietzsche – Wittgenstein, in: Nietzsche-Studien 46 (2017), S. 184-218.
16 Vgl. Robert Spaemann, Niklas Luhmanns Herausforderung der Philosophie, in: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt am Main 1989, S. 49-73.
17 Vgl. Werner Stegmaier, Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche, Berlin/Boston 2016.
18 Vgl. Stegmaier, Nietzsches Hoffnungen auf die Philosophie und die Gegenwart, S. 225 f.
19 Vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin/New York 2008, und: Die Freisetzung einer Philosophie der Orientierung durch Friedrich Nietzsche, in: Joachim Bromand / Guido Kreis (Hg.), Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion, Berlin 2010, S. 355-367.
20 Vgl. den Beitrag Nietzsches Kritik der Toleranz in diesem Band.
21 Vgl. den Beitrag Nietzsches Neubestimmung der Philosophie in diesem Band.
22 Auch in der Wissenschaft. Vgl. M 507: „Gegen die Tyrannei des Wahren. – Selbst wenn wir so toll wären, alle unsere Meinungen für wahr zu halten, so würden wir doch nicht wollen, dass sie allein existirten –: ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre; mir genügte schon, dass sie eine grosse Macht habe. Aber sie muss kämpfen können und eine Gegnerschaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu erholen können, – sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen.“
23 Vgl. Stegmaier, Orientierung im Nihilismus, S. 302-347.
24 Einmal spricht er doppelsinnig von „Zukunftsspinnereien“ (Brief an Heinrich Köselitz, 30. Sept. 1879, Nr. 887, KSB 6.449).
25 Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Prognosen, in: Bernd Rill (Hg.), Der Erste Weltkrieg. „In Europa gehen die Lichter aus!“, München (Hanns-Seidl-Stiftung e.V.) 2014, S. 9-17.
26 Vgl. den Beitrag Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches in diesem Band.
27 Michael Skowron, „Schwanger geht die Menschheit“ (Nachgelassene Fragmente 1882/83). Friedrich Nietzsches Philosophie des Leibes und der Zukunft, in: Nietzscheforschung 19 (2012), S. 223-244, knüpft Nietzsches (und Zarathustras) Gedanken zur Zukunft an die Themen Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Tod an, Philippe Granarolo, Nietzsche: cinq scénarios pour le futur, Paris 2014, an Nietzsches frühe Thematisierung der griechischen Orakel und römischen Haruspices, dann an die mit Wagner erträumte Zukunft (1), die Zukunft der freien Geister als Herren der Erde (2), die erwartete künftige décadence (3), das künstlerische und natürliche Schaffen, die Evolution (4) und die „grimaces de la grandeur“ Nietzsches (5). Beide stellen jeweils die einschlägigen Texte zusammen.
28 Vgl. Stegmaier, Orientierung im Nihilismus, Kap. I: „Orientierung im Nichts“, S. 28-59.
29 Zur Interpretation des ganzen Aphorismus vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 91-118.
30 Zur Komplexität der Bezüge beider Formeln vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 619-629, und Christian Benne, Incipit parodia – noch einmal, in: Gabriella Pelloni / Isolde Schiffermüller (Hg.), Pathos, Parodie, Kryptomnesie. Das Gedächtnis der Literatur in Nietzsches Also sprach Zarathustra, Heidelberg 2015, S. 49-66.
31 Vgl. den Beitrag Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1) in diesem Band.
32 Vgl. die Beiträge „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Kontextuelle Interpretation des Mitternachts-Lieds aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ und Die Nöte des Lebens und die Freiheit für andere Moralen. Nietzsches Moralkritik und Nietzsches Ethik in diesem Band.
33 Vgl. Reto Winteler, Nietzsches „Antichrist” als (ganze) „Umwerthung aller Werthe”. Bemerkungen zum „Scheitern” eines „Hauptwerks”, in: Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 229-245.
34 Von hier an wird, wo immer es aufschlussreich ist, zur KSA zugleich die sogenannte KGW IX, die Kritische Gesamtausgabe der Werke, Abt. IX, in geplanten 13 Bänden, herangezogen, die seit 2001 erscheint. Sie gibt den späten Nachlass (1885-1889) in differenzierter Transkription wieder und zeigt, wie Nietzsche seine Notate schrittweise bearbeitet hat. So hat er den Punkt 1 im Entwurf seiner Vorrede „Große Dinge verlangen, daß man von ihnen schweigt oder groß redet: groß, das heißt cynisch und mit Unschuld“ zuerst am Ende (nach Punkt 4) angefügt und erst in einem zweiten Anlauf vorangestellt; später notierte er ihn auch als für sich allein stehenden Spruch (Nachlass 1888, 18[12], KSA 13.535; Nachlass 1888, 15[118], KSA 13.477).
35 Nietzsche hat zuvor schon, in JGB 214 und JGB 295, „Labyrinthe“ im Plural gebraucht.
36 Das „unter sich, außer sich“ hat Nietzsche nachträglich ergänzt. Offenbar wollte er damit seine neue Freiheit gegen und für den Nihilismus unterstreichen. Gestrichen hat er dagegen die Formulierung „der die lange Logik dessen, was geschehen wird, als sein Erlebniß vorweggenommen hat, der weiß, was aus ihr folgt“ (KGW IX 7, W II 3, S. 4). Damit wollte er wohl Anklänge an logisch zu Beweisendes vermeiden.
37 Vgl. Nietzsches Gedicht Nach neuen Meeren aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei, KSA 3.649.
38 Vgl. dazu den vorausgehenden Beitrag Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1) in diesem Band.
39 Vgl. Stegmaier, Orientierung im Nihilismus, S. 33-36. Auch Hans Ruin, Nietzsche and the Future: on the temporality of overcoming, in: Nietzsche-Studien 43 (2014), S. 118-121 (Impulsreferat zum Themenbereich „Was ist aus Nietzsches Denken der Zeit geworden?“ der Hiddensee-Konferenz 2013) hält im Blick auf Zarathustras Problem der „Erlösung“ von der Vergangenheit zur Befreiung für eine neue Zukunft am Topos der Überwindung fest (vgl. die Diskussion S. 121-131).
40 Nietzsches komplexe Differenzierungen der Formel ,Nihilismus‘ hat Paul van Tongeren, Het Europese nihilisme. Friedrich Nietzsche over een dreiging die niemand schijnt te deren, Nijmegen 2012, mustergültig aufgearbeitet. In seinem „proposition paper” zur Konferenz Beyond Nihilism? im Dezember 2015 aus Anlass seiner Emeritierung hat er die mannigfaltigen Bedeutungen von ,Nihilismus‘, die Nietzsche mit der Zeit entwickelt hatte, in ein Konzept von Stufen eingeordnet und schlüssig so zusammengefasst: „Nihilism as conceptualized by Nietzsche has at least three different stages and the concept ‘nihilism’ has accordingly a threefold meaning: it is (in an inverted chronological order) (3) the corrosion of (2) the protective structure that was built to hide (1) the absurdity of life and world.“ Ein „normaler Zustand“ ist der Nihilismus im Sinn von (1).
41 Vgl. den Beitrag Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit in diesem Band.
42 Die Wertesemantik geht bis zur Stoa zurück, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu lebendig, bei Hermann Lotze um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem zentralen philosophischen Thema und mit Nietzsche berühmt. Vgl. A. Hügli / S. Schlotter / P. Schaber / A. Rust / N. Roughley, Art. Wert, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel/Darmstadt 2004, Sp. 556-583. Nietzsche wird hier allerdings sehr knapp und vor allem in der Perspektive Heideggers behandelt, der die Wertesemantik ablehnte. Zu Lotze vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt am Main 1983, Kap. 6: Werte, S. 198-234.
43 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, passim, bes. § 201 und § 219. Auf die inzwischen unübersehbare Diskussion dazu können wir hier nicht eingehen. Zur Deutung von Wittgensteins Philosophieren aus dem Gesichtspunkt der Orientierung vgl. Werner Stegmaier, Zwischen Kulturen. Orientierung in Zeichen nach Wittgenstein, in: Wilhelm Lütterfelds / Djavid Salehi (Hg.), „Wir können uns nicht in sie finden”. Probleme interkultureller Verständigung und Kooperation, Wittgenstein-Studien 3 (2001), S. 53-67; Die Gewissheit der Orientierung. Zu Wittgensteins letzten Notaten. Ein Versuch, erscheint in: Wittgenstein-Studien 2019.
44 Luhmann bezeichnete die Wertesemantik darum in moralischer Hinsicht als „Heuchelei zweiter Ordnung“, „eine Heuchelei mit eingebauter Entheuchelung“: Niklas Luhmann, Politik, Demokratie, Moral (1997), in: N.L., Die Moral der Gesellschaft, hg. v. Detlef Horster, Frankfurt am Main 2008, S. 175-195, S. 183. Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016, knüpft in seinem polemisch gehaltenen Essay weniger an Nietzsche an und lässt sich in der Sache weitgehend von Luhmann leiten. Der Soziologe Hans Joas dagegen bleibt den Werten in seiner Erforschung ihrer „Entstehung“ ganz verpflichtet und weist entsprechend Luhmanns Analyse rundweg ab (Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997, S. 17).
45 Das „Pathos“ könnte auch auf das „Pathos der Distanz“ aus JGB 257 anspielen: Dann ginge es um die Distanzierung von der Werteorientierung überhaupt.
46 Martin Heidegger, Brief über den ,Humanismus‘, in: M. H., Wegmarken, Frankfurt am Main 1967, S. 145-194, hier S. 179.
47 Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte. Überlegungen eines Juristen zur Wert-Philosophie, in: Carl Schmitt / Eberhard Jüngel / Schelz Sepp, Die Tyrannei der Werte, hg. v. Sepp Schelz, Hamburg 1979, S. 9-43). Ihm folgte wiederum Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, Stuttgart 2010.
48 Luhmann, Politik, Demokratie, Moral, S. 182.
49 Der amor fati wird in der Nietzsche-Forschung vergleichsweise wenig erörtert und wenn doch, so unterschiedlich verstanden, dass kaum ein gemeinsamer Nenner zu finden ist. Am ehesten ist es noch die Paradoxie. Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936, der dem amor fati einen eigenen Abschnitt widmete, sah in ihm noch die „erreichte Wesenshaltung“ (S. 366) der „gegenwärtig erfüllten Existenz“ (S. 364) – pathetische Formeln, die inzwischen hohl geworden sind. Er wies zwar auf „Paradoxien“ (S. 365) im amor fati hin, entfaltete sie aber nicht. – Unter den jüngeren Interpretationen geht Béatrice Han-Pile, Nietzsche and amor fati, in: European Journal of Philosophy 19.2 (2011), S. 224-261, von der Paradoxie der Liebe auch zu Abstoßendem aus und entparadoxiert sie durch die Unterscheidung von éros und agápe: beim Ersten gehe die Liebe von der Schätzung, bei der Zweiten die Schätzung von der Liebe aus, und hier verschwinde die Paradoxie, weil die Liebe als agápe eben auch Nicht-Schätzenswertes schätzenswert mache. – Für Brian Domino, Nietzsche’s Use of ‘amor fati’ in ‘Ecce Homo’, in: The Journal of Nietzsche Studies 43.2 (2012), S. 283-303, ist der amor fati ein Ideal Nietzsches, vor dem er selbst, wie seine vielfältigen Klagen in EH zeigten, versagt habe. Er versucht den Gedanken des amor fati so zu retten, dass er im fatum Notwendiges und Zufälliges unterscheidet, so dass man das Notwendige lieben und sich am Zufälligen dennoch stoßen könne. Das Erste müsste freilich Nietzsche auch selbst aufgefallen sein, das Zweite lässt sich kaum halten, weil es im Begriff des Schicksals das Notwendige gerade das Zufällige ist. Am Ende behilft sich Domino damit, dass Nietzsche selbst den amor fati unter Ironieverdacht stellt. – Peter S. Groff, Amor Fati and Züchtung. The Paradox of Nietzsche’s Nomothetic Naturalism, in: International Studies in Philosophy 35.3 (2003), S. 29-52; und: Art. Amor fati, in: Christian Niemeyer (Hg.), Nietzsche-Lexikon, 2. Aufl., Darmstadt 2011, S. 23 f., weist denn auch die Trennung von Notwendigem und Zufälligem im Schicksalsbegriff zurück, vermisst in ihm aber Spielräume für Lern- und Auslese- bzw. Züchtungsprozesse, für Kreativität und Freiheit. – Frank Chouraqui, Nietzsche’s science of love, in: Nietzsche-Studien 44 (2015), S. 267-290, führt eine schwer nachvollziehbare Interpretationskonstruktion darauf hinaus, dass im amor fati die Ambivalenz selbst ambivalent werde. – Bartholomew Ryan, The plurality of the subject in Nietzsche and Kierkegaard. Confronting Nihilism with masks, faith and ‘amor fati’, in: João Constâncio / Maria João Mayer Branco / Bartholomew Ryan (Hg.), Nietzsche and the problem of subjectivity, Berlin/Boston 2015, S. 317-342, überträgt Kierkegaards Liebe zum Paradox auf Nietzsches Liebe zur Notwendigkeit, macht den Sinn des amor fati also unmittelbar am Paradox fest. – Christoph Türcke, Nietzsches ,amor fati‘ : eine Subversion, in: Helmut Heit / Sigridur Thorgeirsdottir im Auftrag der Nietzsche-Gesellschaft e.V. (Hg.), Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, Berlin/Boston 2016, S. 155-164, schließlich will den amor fati (wie im Judo) als „Umwendungskunst“ verstehen, als Kunst, das Schlimmste so ,aufs Kreuz‘ legen, dass man es bejahen kann; der amor fati sei darum bei den Unterdrückten und Leidenden.
50 Nietzsche an Franz Overbeck, 30. Juli 1881, Nr. 135, KSB 6.111.
51 Vgl. Nachlass 1881, 15[20] und 16[22], KSA 9.643, und Brief an Franz Overbeck, 5. Juni 1882, KSB 6.200, zu Nietzsches Verhältnis zu Spinoza im Ganzen Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 524-532.
52 Vgl. Werner Stegmaier, Start-Paradoxien moderner Orientierung. Über Spinozas Ethik und ihr höchstes Gut im Blick auf Luhmanns Systemtheorie, in: Hubertus Busche (Ed. in Collaboration with Stefan Hessbrueggen-Walter), Departure for Modern Europe. A Handbook of Early Modern Philosophy (1400 and 1700), Hamburg 2011, S. 207-216.
53 Niklas Luhmann, Sthenographie und Euryalistik, in: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 58-82, hier S. 48 f. Vgl. den Beitrag Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung: Der Verzicht auf ,die Vernunft’ in diesem Band.
54 Vgl. Werner Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung, 2. Aufl. Hamburg 2013, S. 194-197.
55 Brief an Georg Brandes, 23. Mai 1888, Nr. 1036, KSB 8.318.
56 Brief an Franziska Nietzsche, 25. Juni 1888, Nr. 1051, KSB 8.341.