II. ZEIT, EVOLUTION UND VERZEITLICHUNG DES DENKENS
3. Zeit der Vorstellung.
Nietzsches Vorstellung der Zeit
© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.03
Denkt man über die Zeit nach, so drängt sich die Vorstellung auf, die die newtonsche Physik von ihr gibt. Alles Geschehen soll sich danach ,in‘ der Zeit abspielen, sie selbst aber diesem Geschehen enthoben sein. Versuchte man ihren Begriff zu erklären, so müsste man auf Begriffe zurückgreifen, die bereits Zeitbestimmungen enthalten, Bewegung, Veränderung, nacheinander, früher oder später, Vergangenheit, Zukunft.1 Die newtonsche Zeit scheint ,gegeben‘, doch nicht wahrnehmbar; Bezüge der Erfahrung erhellen sie nicht, sondern zeigen sich selbst erst in ihrem Licht. Newton hat darum aller Physik eine wirkliche „absolute“ Zeit vorausgesetzt, Kant umfassender und zugleich vorsichtiger, aller Erfahrung die „Vorstellung der Zeit“ (KrV A 30). „Ich habe wirklich die Vorstellung von der Zeit“ (A 37), doch ich kann mir zwar alles durch sie, aber nichts „unter“ ihr vorstellen.
Nietzsche spricht nicht in dieser Weise von der Zeit oder der Zeitvorstellung. Er folgt auch nicht der immer gegenwärtigen Vorstellung von der stets knappen Zeit, die sich im apokalyptischen Mythos vom Teufel verdichtet, der „weiß, dass er wenig Zeit hat“.2 Er spricht überhaupt selten von ihr, er macht sie in seiner Philosophie nicht zu einem Thema vom Range der Logik oder der Wissenschaft. Das ist auffällig bei einer Philosophie des Werdens, des Anderswerdens und Andersverstehens, der Geschichtlichkeit und Individualität. Whitehead und Levinas etwa, die in diesen Intentionen und auch in ihrer Auffassung der Zeit Nietzsche nahe sind, behandeln sie häufig und ausführlich. Natürlich finden sich auch bei Nietzsche eine Fülle von „Stellen“ über die Zeit, und einige von ihnen sollen im Folgenden auch herangezogen werden. Aber sie umkreisen das Thema nur und, wie sich zeigen soll, zu Recht. Das Neue an Nietzsches Thematisierung der Zeit ist gerade, dass er nicht so sehr von ,der‘ Zeit oder von ,der‘ Vorstellung der Zeit spricht, sondern von Vorstellungen, die ihre Zeit haben. Er macht die Zeit, um die es ihm geht, nicht unmittelbar zum Gegenstand, weil er sie damit schon vergegenständlichen würde. Stattdessen soll gezeigt werden, daß die Begriffe, die im Zentrum seiner Philosophie stehen, die Begriffe des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, vom Vorstellen und seiner Zeit handeln. Vordergründig scheint der eine sie nicht zu berühren, der andere ihr eine handfeste Kreisgestalt zu unterstellen. Aber beide Begriffe gelten Nietzsche selbst noch als vordergründige Lehrbegriffe. Sie können, so die These dieser Abhandlung, erst dann recht verstanden werden, wenn sie auf das Vorstellen und seine Zeit hin überschritten werden. Das soll im dritten und letzten Abschnitt gezeigt werden.
Doch Nietzsche kommt nicht zum Vorstellen und seiner Zeit, indem er einfach die Vorstellung „der“ Zeit in „die“ Zeit der Vorstellung umkehrt. Dass das Vorstellen der Zeit in einer Zeit geschieht, die das Vorstellen bedingt und darum selbst nicht mehr vorgestellt werden, nicht mehr Phänomen sein kann, war für Leibniz‘ Philosophie schon zum Problem geworden. Leibniz umging es, indem er den „natürlichen“ und „dauernden“ Wandel der individuellen und perspektivischen Monaden jeweils an ein „inneres Prinzip“ band, das sich zwar nicht vorstellen, aber den Wandel ,dans la rigueur métaphysique‘ als in Gottes Voraussicht begründet und darum als gesetzlich begreifen ließ.3 So blieb noch immer das Problem, dass die Zeit der Vorstellung selbst in einer zeitenthobenen Perspektive vorgestellt wurde. Kant löste es, indem er die Zeit als unvorstellbare Bedingung unseres Vorstellens, also als unsere Perspektive fasste.4 Die Perspektive aber sollte a priori gegeben, also wiederum zeitenthoben sein.5 Erst Nietzsche vollzieht den Perspektivismus auch in der Philosophie der Zeit. Er zieht die Perspektive der philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnis selbst schrittweise in eine nicht mehr vorstellbare Zeit hinein. Er setzt dazu bei den Wissenschaften und ihrer Arbeit an der Bestimmung der Zeit an und kritisiert ihre theoretische, zeitenthobene Vorstellung aus einer geschichtlichen, ästhetischen und praktischen, zeitlichen Vorstellung der Zeit. Dies ist Gegenstand des zweiten Abschnitts dieser Abhandlung. Nietzsches Kritik der wissenschaftlichen Bestimmung der Zeit wird dort durch Erfahrungen der Wissenschaften mit der Zeit verdeutlicht, die nach der Zeit Nietzsches liegen. Solche Anachronismen können zeigen, dass auch seine Vorstellung der Zeit unzeitgemäß ist.
In Nietzsches Vorstellung wird nicht in irgend einer Weise ,die‘ Zeit aus dem Weltgeschehen herausgehoben und ihm vorgeordnet, sondern Zeit und Weltgeschehen sind wechselseitig bedingt. Diese Verschränkung von Weltgeschehen und Zeit erscheint bei Nietzsche in der Vorstellung der ,rechten Zeit‘. Sie trägt sein Zeitverständnis bis hin zum Gedanken der ewigen Wiederkehr. Darum soll mit ihr der Anfang gemacht werden.
3.1. Nietzsches philosophische
Vorstellung der Zeit
Nietzsches Vorstellung der „rechten Zeit“ (Za I, Vom freien Tode) hält sich nicht an die Physik, sondern an die Geschichte, die Kunst und die Praxis. Ihrem Verständnis der Zeit ist gemeinsam, dass sie nicht eine ,kontinuierliche, isotrope und homogene‘ Dimension vom Weltgeschehen isolieren, sondern ,holistisch‘ mit seiner ganzen Fülle, Vernetzung und Gewichtung rechnen. Geschichte ist erfüllte Zeit, Zeit ein Moment der Fülle der Geschichte.6 Das aber macht es schwer, von „der“ Zeit zu reden.
Unabhängig von Nietzsche hat Elisabeth Ströker gezeigt, „dass Historiker anders – und nicht bloß mehr – ,mit Zeit zu tun haben‘ als etwa Physiker, Biologen, Geologen“.7 Es geht ihnen nicht um eine „universelle Zeit“, in die beliebige Fakten gleichgültig eingeordnet würden, sondern um einmalige Ereignisse von Bedeutung. Einmalig sind Ereignisse, sofern sie vom gesamten Geschehen ihrer Zeit, ihren „temporalen Eigentümlichkeiten“ nicht gelöst werden können, und Bedeutung haben sie dann, wenn sie – in der Perspektive eines Historikers – dieses Geschehen in eine so charakteristische neue Ordnung bringen, dass man sagen kann, „die Zeit sei ,eine andere geworden“.8
Die Vorstellung der „rechten Zeit“, die Zarathustra wie seine Tiere begleitet, hebt den Holismus, die Individualität und die Inkommensurabilität der Geschichtszeit scharf heraus. Eine rechte Zeit lässt sich nicht definieren und nicht messen, nicht einmal beschreiben, doch „von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden“ (Za II, Auf den glückseligen Inseln). In einer rechten Zeit bekommt eine Welt Sinn. Nietzsche spielt bewußt mit dem nach „Welt“ und „Sinn“ changierenden Sinn von „Zeit“: „Was liegt an einer Zeit, die für Zarathustra ,keine Zeit hat‘?“ (Za III, Von der verkleinernden Tugend), d.h.: Was liegt an einer Welt, die für Zarathustra keinen Sinn hat? Daß eine Zeit die „rechte“ ist, zeigt sich in einem einmaligen Ereignis, durch das eine neue Vernetzung und Gewichtung des Geschehens hervortritt und das darin seine Bedeutung hat.9 In ihm fügt sich eine neue Welt, die allem weiteren Geschehen einen neuen Sinn gibt. Nach Zarathustra, so Nietzsche, hat die Welt einen anderen Sinn. Eine Zeit ist ein Sinnzusammenhang. Das „Rechte“ der Zeit, mag sie einen Augenblick oder Sekunden oder Stunden dauern, bemisst sich nicht nach solchen Zeitmaßen, sondern nach dem Reichtum oder der Armut des Sinns, der in ihr erfahren wird: „So gieng mir und schlich die Zeit, wenn Zeit es noch gab“ (Za II, Der Wahrsager). Der neue Sinn, die neue Welt kann reif und überreif werden; darum das häufige: „es ist Zeit! Es ist die höchste Zeit!“ (z. B. Za III, Von der Seligkeit wider Willen) und das Wort von der „Überzeit“ (Za IV, Mittags). Die Welt aber, die sich zu einer rechten Zeit neu fügt, kann, weil sie ihren eigenen Sinn stiftet, nicht durch äußere Maßstäbe begrenzt werden, es sei denn durch Maßstäbe einer umfassenderen Welt. Die rechte Zeit und ihre Welt hat ihre Maßstäbe in sich.10 Sie ist die einem Individuum, einem individuellen Geschehen eigene Zeit, das Gesamt der Bedingungen, durch die es „seine Zeit hat“. Seine Bedingungen ermöglichen und fördern es in seinem Sein und lassen es sich voll auswirken. Nietzsche nennt sie darum sein Schicksal: „Doch diess hat seine Zeit und sein eigenes Schicksal.“ (Za III, Vom Vorübergehen)
In der Kunst wird die rechte Zeit zu komplexen Einheiten gestaltet. Aber auch sie sind nicht an starre Maße gebunden. In seinen Baseler Vorlesungen über griechische Rhythmik zeigt Nietzsche, wie die Zeit in Musik und Lyrik „lebt“. Die antike quantitierende Lyrik bewegt sich nicht wie die moderne in einer „Aufeinanderfolge von gleich starken Affekt-Steigerungen“, in „Stärkewechselwellen“, sondern im „Zeit- Gleichmaass“ von „Zeitwechselwellen“, das die Affekte zügelt. Sie ,lebt‘ jedoch nicht aus dem immer gleichen Metrum, sondern aus der Vielfalt der Töne, die es erfüllen und überspielen, dem Rhythmus. In ihm hat jeder Takt sein individuelles „Zeitleben“,11 jeder Ton seine rechte Zeit. Die Musik kann solche rechten Zeiten so charakteristisch komponieren, dass sich nach dem frühen Nietzsche die Eigenart einer geschichtlichen Zeit in ihr zeigt und ihr Schwergewicht und ihr Dasein überhaupt aus ihr rechtfertigt. An der Art ihrer individuellen Maße läßt sich das Maß ihrer Zeit ablesen, sie zeigt ihr „inneres Gesetz“. Es ist ein inneres, weil es sich nicht in „einer allgemeinen, überzeitlichen Sprache“ mitteilen lässt: „Die Musik ist eben nicht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt“ (MA II, VM 171).
Der späte, mit Wagner zerfallene Nietzsche traut der Musik nicht mehr zu, Gesetz ihrer Zeit zu sein; sie hat sich in der Moderne ganz auf die „Affekt-Steigerung“ verlegt. Höchster Ausdruck der rechten Zeit in der Kunst ist ihm zuletzt „der große[] Stil[]“, mit dem man „sein Chaos zwing[t], Form zu werden; Nothwendigkeit [zu] werden in Form: logisch, einfach, unzweideutig, Mathematik werden, Gesetz werden“ (Nachlass 1888, 14[61], KSA 13.246 f.). Der große Stil kann „eine innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen, mit[]theilen“, durch Kunst, nicht durch Kunstlehre (EH, Warum ich so gute Bücher schreibe, 4). Dies geschieht jedoch erst, so Nietzsche weiter, bei ihm selbst, in seinem Zarathustra. Dort habe er „die Kunst des grossen Rhythmus“ entdeckt, dort also wird die rechte Zeit erst ganz Ereignis.
Die Vorstellung der rechten Zeit beherrscht auch Nietzsches Verständnis des Handelns. Sie lässt den Begriff des Kairos anklingen, der den Mythos, die Lyrik und die Philosophie der Antike durchzieht.12 Er besagt, dass ein Handeln sich stets in einer Situation vorfindet, deren Bedingungen es treffen muss, um zu gelingen, die sich aber – das liegt im Begriff der Situation – nicht unabhängig von diesem Handeln bestimmen lässt. Für ein Handeln ist zunächst wesentlich, ob es überhaupt eintreten kann, und dann erst, wie es anderem Handeln, das keine oder nur sehr entfernte gemeinsame Bedingungen mit ihm hat, nach einer übergeordneten Skala zugeordnet werden kann. Der Zeitpunkt einer rechten Zeit, eines Kairos, der an der Skala einer absoluten Zeit gemessen würde, ist nur für die Historie, nicht aber für das Handeln selbst relevant. Es gibt von der eigentümlichen rechten Zeit eines Handelns kein übertragbares rationales Wissen, sie wird vielmehr in besonderen Augenblicken beglückend erlebt. Weil es Aristoteles in seiner Ethik um das Glück des gelingenden Handelns geht, spielt darin die rechte Zeit eine entscheidende, in seiner Physik, die weitgehend von einzelnem Weltgeschehen abstrahieren muss, um Wissenschaft zu sein, jedoch kaum eine Rolle.13
Aristoteles hatte die Erkenntnis so weit wie möglich aus ihren situativen Bedingungen lösen wollen.14 Nietzsche stellt auch sie wieder ihrer rechten Zeit anheim. In einem Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten (MA II, WS 308), den er wenige Jahre vor Also sprach Zarathustra niederschrieb, verbindet er die Vorstellung der rechten Zeit mit dem antiken Motiv der Pans-Stille „am Mittag“:15 „der grosse Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte“. Alles ruht, will nichts, „– es ist ein Tod mit wachen Augen“. Diesen Mittag, an dem die Dinge sich erst ohne Schatten hell und ganz zu zeigen scheinen, überträgt Nietzsche auf den „Mittag des Lebens“, an dem Erkenntnisse glücken. Er gibt ihm dadurch eine neue, ins Tragische spielende Stimmung:
Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. (MA II, WS 308)16
Auch Zarathustra erlebt solche Mittage der Erkenntnis. Er vergisst dann das gewohnte Zeitmaß. Solche Augenblicke dauern für ihn stets „eine lange Zeit, oder eine kurze Zeit: denn, recht gesprochen, giebt es für dergleichen Dinge auf Erden keine Zeit –“ (Za IV, Das Zeichen). Doch nun verschiebt sich der Sinn der rechten Zeit. Nietzsche nennt diese Mittags-Stimmung jetzt „eine fremde Trunkenheit“ (Za IV, Mittags). Zwar beschwört er noch einmal „das ganze panische Vokabular“,17 aber die Stille irritiert Zarathustra, er kann sich ihr nicht mehr hingeben. Er ruft sich zum Wachen auf, um dem „heiteren schauerlichen Mittags-Abgrund“, dem „großen Mittag“ entgegenzugehen. Nietzsche kündigt ihn in biblischer Sprache an. Er lässt Jesus‘ letzten Erdentag und das Jüngste Gericht anklingen – „die Wandlung, das Richtschwert, der grosse Mittag: da soll Vieles offenbar werden!“ (Za III, Von den drei Bösen, 2).18 In diesem Übergang vom „Mittag“ zum „großen Mittag“ hält sich nun zwar das tragende Motiv des Glückens „neuer Erkenntnisse“ durch: am „grossen Erden- und Menschen-Mittage“ (Za III, Der Genesende, 2) wird der „züchtende“ Gedanke der ewigen Wiederkehr seine rechte Zeit haben. Aber die Zeit dieses Gedankens, der die, die ihm gerecht werden, von den „letzten Menschen“ scheiden wird, wird selbst nicht mehr gegenwärtig, nicht gegenwärtig erlebt. Zarathustra nennt den „großen Mittag“ stets einen kommenden, nahenden. Er bleibt immer Zukunft, auch wenn er schon einmal vergangen ist: nicht Zarathustra spricht seinen Gedanken aus, sondern er lässt ihn sich von seinen Tieren vorsagen, um dann wieder in eine „grosse Stille“ zu versinken und ihn nicht mehr zu erwähnen (Za III, Der Genesende, 2). Noch am Ende des Werkes bleibt seine und seines Gedankens rechte Zeit zukünftig: „herauf nun, herauf, du grosser Mittag!“ (Za IV, Das Zeichen).
Der große Mittag kündigt so nicht nur eine neue Zeit, sondern eine andere Art der Zeit an, in der Zeit anders erfahren wird. Diese Erfahrung kommt aus einer neuen „Vertiefung in die Wirklichkeit“ (GM II 24). In ihrer Zukünftigkeit, die nicht nach einem gegenwärtigen Maßstab festgelegt ist, sondern im Gegenteil die gegenwärtigen Maßstäbe überraschend verschiebt, erfüllt sich erst der Begriff der rechten Zeit.19
Zeit als unbeschränkte Fülle des Geschehens, die ihre Mitte in einer immer zukünftigen rechten Zeit findet, zerfällt nicht in eine abstrakte Folge von Momenten gleichzeitig ablaufender Ereignisse. Sie hält sich vielmehr im Geflecht ihrer individuellen, unablässig sich wandelnden, ,lebendigen‘ Bedingungen. Sie hält sich so lange, bis dieser Wandel eine kritische Grenze überschreitet und das Geflecht sein charakteristisches Muster verliert. Nur in einem solchen Muster ist sie überhaupt fassbar. Es spielt sich unter gewissen Randbedingungen ein und verschiebt sich unter veränderten Bedingungen oder löst sich auf, ,hält ein‘. Ein Muster des Geschehens kennzeichnet insofern eine Epoche. Nietzsche spricht etwa von der „Zeit der Arbeit“ (MA II, WS 170). In ihr haben sich die gesamten Lebensverhältnisse im Zeichen der Arbeit organisiert, und auch die Vorstellung ihrer Zeit, im Sinne der Spanne von ihrer Herkunft bis zu ihrem möglichen Vergehen, ist noch davon geprägt. Nietzsche treibt den Gedanken noch weiter: er fügt Muster in Muster, das Muster der Zeit der Arbeit in das Muster der Zeit der Moral (M 3), in der „die Lehrer vom Zwecke des Daseins“ auftreten und „von Zeit zu Zeit“ den Menschen „ein periodisches Zutrauen zu dem Leben“ schenken (FW 1). Er selbst schickt sich an, mit seinem Gedanken der ewigen Wiederkehr ,Epoche zu machen‘, dem Leben ein neues Muster zu entdecken, das „die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen“ ablösen könnte, indem es „die Komödie des Daseins“ vom Ewig-Überzeitlichen in einer „fröhlichen Wissenschaft“ erlöst (FW 1).20
Deren Zeitvorstellung wäre dann eben ein Gelingen „von Zeit zu Zeit“: kein Rechnen mit immer Gleichbleibendem oder regelmäßig sich Wiederholendem oder endlich sich Erfüllendem, sondern Ertragen von Unberechenbarem, Leben mit Überraschendem, Bejahen rechter und, wenn die Verneinung erlaubt ist, ,unrechter‘ Zeiten, also auch von Situationen, in denen etwas ,zur Unzeit‘ kommt. Zeiten des Gelingens haben nicht nur nicht ,über‘ sich, sondern auch untereinander kein Maß, nicht einmal das Maß des Früher und Später oder des Besser und Schlechter. Sie aneinander zu messen, indem man, zum Trost oder zur Bescheidung, sich an frühere erinnert oder sich spätere ausmalt, bedeutete schon, sich nicht mehr auf ihre Bedingungen einzulassen, ihnen gleichsam vorab Bedingungen zu stellen und sie so schon zu verfehlen. Verallgemeinernde und wertende Vorstellungen gehören aber ihrerseits zu den Bedingungen menschlichen Lebens, auch wenn es um rechte Zeiten geht. Daher bedarf es, um sich auf rechte Zeiten einlassen und in ihnen sich auswirken, also auch um angemessen handeln zu können, einer besonderen „Kunst und Kraft“. In seiner Unzeitgemässen Betrachtung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben nennt sie Nietzsche „die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen.“21 Rechte Zeiten, sagten wir oben, gehören zu individuellen Welten. Das bedeutet jetzt: „von Zeit zu Zeit“ öffnen und schließen sich neue Horizonte, die das Vorstellen auf jeweils eigene Art begrenzen. Das Vorstellen ist den rechten Zeiten (und den ,Unzeiten‘) nicht vor-, sondern eingeordnet; die Vorstellung des „von Zeit zu Zeit“ stellt nicht „die“ Zeit nach festen Maßstäben, sondern Zeiten dieser Maßstäbe des Vorstellens vor.
Nietzsche schließt seine Ankündigung der neuen Epoche einer „Fröhlichen Wissenschaft“: „Auch wir haben unsere Zeit!“ (FW 1). Das wird zunächst bedeuten, dass wir – im Sinne von Prediger Salomo 322 – wie alles andere auch vergehen werden. Es heißt nun aber wohl auch, dass wir jetzt „unsere“ Zeit im Sinne unserer Zeit-Vorstellung, unseres Zeit-Schemas haben, das wir auch im Versuch, es anders oder ein anderes zu denken, nicht überschreiten können. Das Denken hat an dem „von Zeit zu Zeit“ selbst seine Grenze: „so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders.“ (Nachlass 1885, 40[20], KSA 11.637) Aber natürlich denken wir auch über dieses „anders“ und also auch über eine mögliche andere Zeit in unserem Zeit-Schema, und hätte es einen noch so weiten Horizont. Dies ist kein schlechter Regress und kein leeres Gedankenspiel, sondern Nietzsches spezifische Erfahrung seiner Zeit: dass mit dem Einbruch des Nihilismus eine Art des Denkens über die Zeit aufs Spiel gesetzt und damit alles anders, „unsäglich anders complicirt“ wurde (Nachlass 1885, 34[249], KSA 11.505). So haben auch Zeit-Schemata ihre Zeit, eine „unsäglich“ andere Zeit. Von ihr aus wird nun erst Nietzsches Interesse an den wissenschaftlichen Bestimmungen der Zeit und seine Auseinandersetzung mit ihnen verständlich. Man könnte sie die andere Zeit der Zeiten nennen. Sie entzieht sich jeder Vorstellung, jeder kategorialen und jeder empirischen Bestimmung.23
3.2. Nietzsches Vorstellung der Zeit im Spiegel
der Wissenschaften
Die Wissenschaften haben längst aufgehört, unser besonderes Zeitschema als selbstverständlich hinzunehmen, und es detailliert zu untersuchen begonnen.24 Neurophysiologen und Psychologen haben die kürzesten Fixierungs-, Identifizierungs- und Reaktionszeiten der verschiedenen Wahrnehmungssysteme gemessen, ihre „Gleichzeitigkeitsfenster“ verglichen – das Sehsystem hält zeitlich vier bis fünfzehn Mal so weit auseinanderliegende Eindrücke für gleichzeitig wie das Hörsystem – und oszillatorische Prozesse im Vorstellen festgestellt, die die Wahrnehmung und ihre Verarbeitung gliedern. Sie haben erforscht, welche Zeiteinheit zur Gegenwart integriert werden und wie lange sich eine solche Vorstellung halten kann, bis sie ,kippt‘, nämlich maximal drei Sekunden, und sie haben schließlich unwillkürliche Gestaltungs- und Zuordnungsmechanismen ausgemacht: Angedeutetes wird sogleich ,sinnvoll‘ ergänzt, und Wahrnehmungen, die während der Integrationszeit auftreten, werden im Bewusstsein an deren Grenze verlegt.25 Nietzsche hat die Anfänge solcher Forschungen bei Karl Ernst von Baer, dem Begründer der Entwicklungsphysiologie, begeistert aufgenommen und wiedergegeben.26 Er nennt den Menschen „ein Formen- und Rhythmen-bildendes Geschöpf“, das „in nichts besser geübt“ sei als im „Erfinden von Gestalten“ (Nachlass 1885, 38[10], KSA 11.608). Andere Wahrnehmungssysteme könnten andere Maße der Gleichzeitigkeit und insgesamt andere Wahrnehmungswelten erzeugen (vgl. Nachlass 1885, 40[49], KSA 11.653). Nietzsche beobachtet am Traum die „Zeitumkehrung“ von Eindrücken zum Zweck ihrer möglichst „logischen“ Zuordnung – „allem eigentlichen Erleben geht eine Zeit voraus, wo die zu erlebende Thatsache motivirt wird“ (Nachlass 1884, 26[35], KSA 11.157),27 und er kennt das Zeitparadoxon – eine reizarme Zeit wird währenddessen als langweilig und lang, im nachhinein aber als kurz erlebt (vgl. Nachlass 1881, 11[216], KSA 9.526). Wahrnehmung, Gedächtnis und Denken greifen in der Arbeit am Schein unserer Zeit-Welt unabgrenzbar ineinander (Nachlass 1881, 11 [13], [138], KSA 9.445 f., 493). Durch ihr Zusammenwirken muss „erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden: ein tempo, in dem Beobachtung und Vergleichung möglich ist usw.“ (Nachlass 1888, 14[93], KSA 13.271).
Die Wissenschaft, die diesen „ungeheuren Prozeß“ erforscht, kann sich ihm selbst nicht entziehen. Sie setzt ihn im Gegenteil mit ihren Mitteln nur weiter fort (Nachlass 1881, 15[7], KSA 9.635): „Allmählich ist da ein undurchdringliches Netz entstanden! Darein verstrickt kommen wir ins Leben, und auch die Wissenschaft löst uns nicht heraus“ (Nachlass 1881, 11[252], KSA 9.537). Sie erarbeitet eine „Uniformität der Empfindung“, einen „Normalgeschmack an allen Dingen“, damit die Gattung leben kann; sie gestaltet das „Zeitgefühl“ und ersetzt es nicht (Nachlass 1881, 11[156], KSA 9.501). In der Wissenschaft im ganzen, schließt Nietzsche, wird nicht „die Wahrheit“, sondern der Mensch festgestellt (Nachlass 1881, 15[7], KSA 9.635).
Inzwischen hat Norbert Elias eine vergleichende Soziologie des Zeitbestimmens und der Zeitkulturen entworfen.28 Unsere hochentwickelten Gesellschaften haben sich „ein unentbehrliches“, schreibt er, „aber auch unentrinnbares Netzwerk von Zeitbestimmungen“ geschaffen und dabei „eine Persönlichkeitsstruktur mit einer sehr hohen Zeitsensibilität und Zeitdisziplin“ hervorgebracht. Was uns heute als ganz selbstverständlich, keineswegs als ein Problem, sondern wie ein „Schicksal aller Menschen“ erscheint, „das man hinnimmt“, die physikalisch standardisierte Zeit, wurde doch in einem „blinden Prozeß“ als soziale Institution erst allmählich erworben (xiii): „Man macht sich nicht klar, daß das Jahr eine soziale Funktion hat und eine soziale Realität, die auf eine natürliche Realität bezogen, aber von dieser verschieden ist; man ist geneigt, das Jahr einfach als eine Naturgegebenheit wahrzunehmen.“ (S. 22) Die Zeit der Physik trat in die europäische Zeitkultur nach Elias erst ein, als Galilei anfing, mit Hilfe mechanischer Uhren Naturabläufe unter Gesetze zu bringen (S. 80 f.). Seither begann sie ein Eigenleben und setzte sich in einer erstaunlichen Karriere schließlich als ‚absolute‘, ,wahre‘ Zeit durch, als Maßstab alles, auch des psychischen und sozialen Zeitempfindens, dem sie entsprungen war (S. 93 ff.).
Wenn die soziale Zeit an der „Natur“ gemessen schien, so hieß das: an isolierten Standardabläufen dessen, was die Physik als Natur isolierte. Was in der Lebenswelt mehr und mehr als absolut galt, war und blieb doch Teil einer Theorie. Das zeigte sich daran, dass die Physik, wenn ,Störungen‘ auftraten und sie darum neuen Konsens durch feinere Experimente suchen musste, die Zeit gar nicht als absolut gegeben hinnehmen konnte, sondern beständig daran zu arbeiten hatte, auch ihre Messung zu verfeinern und dafür einen geeigneten ,Zeitgeber‘ zu finden: „fortwährend arbeiten alle daran“, sagt Nietzsche, „um das zu finden, worüber man übereinstimmen muß“ (Nachlass 1881, 11[156], KSA 9.500 f.). Aber die Zeit ist nur in ihrer Messung gegeben, und was man maß, die Zeit, war das Verhältnis verschieden-rhythmischer Abläufe. Den geeignetsten, am wenigsten störanfälligen von ihnen (zur Zeit die Schwingungen von Caesium-Atomen) erhob man zum ,Repräsentanten‘ einer scheinbar absoluten Zeit, die doch außer ihren ,Repräsentanten‘ gar nicht gegeben war. Die Physik misst nicht die Zeit, sondern ein früheres Zeit-Konstrukt an einem späteren.29
Der Gang ihrer Forschungen führte die Physik inzwischen selbst dazu, die Vorstellung einer absoluten Naturzeit, die Maß alles Geschehens sein könnte, aufzugeben. Seit Boltzmanns statistischer Thermodynamik wurde die Zeit Schritt für Schritt von einem Maß zu einem Faktor des Naturgeschehens, der theoretisch verschieden konzipiert werden konnte. Man stieß auf ‚die‘ Zeit in der Unumkehrbarkeit des Entropiewachstums in geschlossenen Systemen, in der Relativierung von Masse, Energie und Raum zur Lichtgeschwindigkeit nach der Relativitätstheorie, in der notwendigen Unbestimmtheit von Zeit und Energie bei mikrophysikalischen Messungen nach der Quantentheorie und in der nie ganz berechenbaren Abhängigkeit der Selbstorganisation makrophysikalischer Strukturen von mikrophysikalischen Prozessen nach der Nichtlinearen Dynamik.30 Die quantentheoretische Unbestimmtheit kann auch Mutationen im Bereich des Lebendigen beeinflussen,31 und umgekehrt scheint die Nichtlineare Dynamik immer weiter in das Feld der Quantentheorie einzugreifen. In Prozessen der Selbstorganisation spielen aber evolutionstheoretische Prinzipien eine Rolle, die manche bereits denken lassen, dass auch noch die Naturgesetze, wie die Physik sie kennt, unter spezifischen Bedingungen seligiert wurden32 und so zuletzt die Zeit als Faktor dieser zufälligen Natur ihre Zeit haben könnte. Dann hätte auch die Physik – doch das bleibt vorerst noch ein Gedankenversuch – mit einer anderen Zeit der Zeiten zu tun.33
Nietzsche hat solche Gedanken in einem Nachlass-Notat (Nachlass 1881, 11[313], KSA 9.561 f.) gewagt, doch nicht um sich als Wissenschaftler zu versuchen, sondern um Voraussetzungen der Wissenschaften sichtbar zu machen:
Sollte es möglich sein, die Gesetze der mechanischen Welt ebenso als Ausnahmen und gewissermaßen Zufälle des allgemeinen Daseins abzuleiten, als eine Möglichkeit von vielen unzähligen Möglichkeiten? Daß wir zufällig in diese mechanische Weltordnungs-Ecke geworfen sind? Daß aller Chemismus wiederum in der mechanischen Weltordnung die Ausnahme und der Zufall ist und endlich der Organismus innerhalb der chemischen Welt die Ausnahme und der Zufall? – Hätten wir als allgemeinste Form des Daseins wirklich eine noch nicht mechanische, den mechanischen Gesetzen entzogene (wenn auch nicht ihnen unzugängliche) Welt anzunehmen? Welche in der That die allgemeinste auch jetzt und immer wäre? So daß das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre, welches endlich eben solche Consistenz gewänne, wie jetzt die organischen Gesetze für unsere Betrachtung? So daß alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben, oder in einzelnen Theilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht? – Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmäßigkeit, nur eine Fähigkeit, gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, welche selbst für Mechanik nicht taugt?
Dieses allgemeine Dasein, das als Bedingung der Mechanik auch jetzt und immer wäre, müsste mit seiner „wirkliche[n] Ungesetzmäßigkeit“ die Isolierungen und Festlegungen der Mechanik durchdringen und ihre Grenzen zeigen. Der Mechanismus wurde zu Nietzsches Zeit in der Tat zum Problem: er hatte sich mit der statistischen Thermodynamik auseinanderzusetzen, der aufkommenden Energetik, der Physiologie und ihren Tendenzen zum Vitalismus und mit Darwins Evolutionstheorie, die man zwar ,mechanistisch‘, aber in einem ganz verschiedenen Sinn als dem physikalischen nannte. In dem zuweilen heftig geführten Streit geriet der Mechanismus zu einer Perspektive neben andern. Er erschien im Blick auf die „wirkliche Ungesetzmäßigkeit“ zufällig.
Nietzsche argumentiert nicht aus einer der andern wissenschaftlichen Perspektiven. Seine Öffnung zum Weltgeschehen im Ganzen will labormäßige Isolierungen und deren Voraussetzungen überhaupt überschreiten und der Veränderung nach dem Schema von Ursache und Wirkung eine mögliche andere Veränderung voranstellen. Sie müsste sich in der anderen, nicht schematisierten, nicht neutralisierten Zeit der Zeiten vollziehen: „Aller Kampf, – alles Geschehen ist ein Kampf – braucht Dauer. Was wir ,Ursache‘ und ,Wirkung‘ nennen, läßt den Kampf aus und entspricht folglich nicht dem Geschehen. Es ist consequent, die Zeit in Ursachen und Wirkungen zu leugnen“ (Nachlass 1885/86, 1[92], KSA 12.33, korr.). Die Mechanik betrachtet alle Veränderung nach einem Gesetz der Verknüpfung zweier als feststehend vorausgesetzter Termini zu einem notwendigen Nacheinander. Für Nietzsche bilden sich die Termini im Kampf miteinander fort, einem Kampf, in dem sich zugleich alle Kräfte des Weltgeschehens mehr oder weniger auswirken. „Die ganze Unendlichkeit“, heißt es einmal, „liegt immer als Realität und Hemmniß zwischen 2 Punkten.“ (Nachlass 1881, 11[151], KSA 9.499)
Die Kräfte aber sich auswirken zu lassen, braucht Zeit, Zeit, die sich nicht wieder schematisieren lässt (vgl. Nachlass 1881, 12[160], KSA 9.603). Eine neue Veränderung tritt, so können wir schließen, immer nur zu „ihrer“, zur „rechten“ Zeit ein. In diesem Sinne ist dann, nach dem Nachlass-Notat 1885, 35[55], KSA 11.537, „,Zeitlos‘ abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Vertheilung aller ihrer Kräfte gegeben: sie kann nicht still stehn. ,Veränderung‘ gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Nothwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird.“ Veränderung, die ins Wesen gehört, setzt gerade keine beharrende Substanz und noch weniger ein Substanzen verknüpfendes Gesetz voraus. „Zeitlichkeit“ bedeutet dann eine andere Veränderung von einer anderen Notwendigkeit. Nietzsche nennt diese Notwendigkeit in JGB 22 die „letzte Consequenz“, die „jede Macht in jedem Augenblicke [...] zieht“ (vgl. Nachlass 1888, 14[79], KSA 13.258). Das Geschehen verläuft danach nicht willkürlich, es folgt streng aus der augenblicklichen Kräfte-Konstellation, aber aus keiner dieser Konstellationen folgt ein Gesetz für andere Konstellationen.
Zur Zeitlichkeit des Naturgeschehens in diesem Sinn führt nach Nietzsche – und die moderne Physik ging ja in der Tat in diese Richtung – eine größere „Feinheit“ der Betrachtung. ,Feiner‘ heißt nicht einfach nach denselben Parametern genauer, sondern nach neuen Parametern ,gerechter‘, perspektivenreicher zu messen; und selbst genauere Messmethoden zeigen ja nicht nur mehr, sondern andere Details, Strukturen und Gesetzlichkeiten.34 „Größere Feinheit“ bedeutet, ein anderes ästhetisches Verhältnis zur Sache, nach Nietzsche einen anderen „Geschmack“ an ihr zu finden. Er will sich vom „Normalgeschmack“ der Wissenschaft nicht mehr den individuellen „idiosycrasischen Geschmack“ verdrängen lassen. Aber auch das Individuum, das für seinen Geschmack kämpft, muss entdecken, „daß es selber etwas Wandelndes ist und einen wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse.“ Und selbst diese Erkenntnis beruht noch auf „dem feinsten Irrthum des schöpferischen Augenblicks“ (Nachlass 1881, 11[156], KSA 9.502). Sie bereichert das Zeit-Schema, bringt es an seine Grenze und verschiebt es, kann aber nicht aus ihm herausspringen. Auch die feinste Betrachtung ist, als Betrachtung, „nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen“; auch sie legt noch „eine mathematische Durchschnittslinie hinein in die absolute Bewegung“ (Nachlass 1881, 11[293], KSA 9.554).
Wir kehren in den Zirkel zurück. Auch in ihren äußersten Möglichkeiten stellen die Wissenschaften die andere Zeit der Zeiten in einem noch so feinen Schema vor. Mathematik und Physik „sind zuletzt praktische Wissenschaften“ (Nachlass 1881, 11[235], KSA 9.531). Als Wissenschaften arbeiten sie am Menschen, indem sie ihn dadurch aus dem Weltgeschehen heraushalten, dass sie es nach ihren Gesetzen objektivieren. Aber ihre wachsende Verfeinerung bedeutet, dass sie beim Finden neuer Parameter gerade immer neu in das Weltgeschehen hineingezogen werden, und dabei „wächst fortwährend“ ihr „Zeit-Raumsinn“ (Nachlass 1885, 34[124], KSA 11.462). Das findet kein Ende. Die Wissenschaften werden mit der Zeit, ihrem Zeit-Schema, auf unabsehbare Zeit nicht fertig. „Es braucht Zeit,“ sagt Nietzsche im Zusammenhang mit der „Umkehrung der Zeit“, „bevor sie fertig ist: aber diese Zeit ist so klein.“ (Nachlass 1884, 26[44], KSA 11.159)
3.3. Zeit der Vorstellung
Die Zeit, die die Kräfte brauchen, um sich auszuwirken, die Dinge, um sich zu finden, und die Schemata, um mit Hilfe neuer Parameter veränderten Bedingungen gerecht zu werden, können wir uns nicht vorstellen, weil unsere Vorstellungen ihr erst entspringen. Es kann von ihr keinen Begriff geben, sie braucht nicht einmal eine und einheitlich zu sein. Wir können sie nur – freilich immer nur in unserer Vorstellung – gegen die Vorstellung setzen. Die andere Zeit der Zeiten ist danach die Zeit der Vorstellung, die Zeit, in der Vorstellungen im doppelten Sinn ihre Zeit haben, also zu ihrer rechten Zeit auftreten und darin Zeit schematisch vorstellen. Um das zu erläutern, soll kurz Whiteheads „epochale Theorie der Zeit“ zum Vergleich herangezogen werden. Whitehead hat die Zeit der Vorstellung auf eine verwandte Art wie Nietzsche zu denken versucht und doch so, dass sich Nietzsches andere Art vielleicht gut davon abhebt. Auch Whitehead denkt die Zeit im Horizont des gesamten Weltgeschehens. Veränderung wird darin als jeweils neue Auswirkung aller Kräfte in allen Punkten verstanden; jede Veränderung zieht also auch für Whitehead immer nur ihre eigene Konsequenz. Sie hat keine ihr vorgeordneten Gesetze. Haben sich die Kräfte in einer Veränderungseinheit, Whiteheads „actual entity“, ausgewirkt und ausgeglichen, treten sie als Datum in eine neue Veränderungseinheit ein. Dies Datum gilt Whitehead als „objektiv unsterblich“; eine ,Epoche‘ ist abgeschlossen, die Zeit ,hält an‘ und wird Vorstellung.
Die „epochale Theorie der Zeit“ setzt also kein Zeitschema voraus, sondern das ungesetzliche, schöpferische Weltgeschehen bringt in jedem Sich-Auswirken an jedem Punkt wieder neu Zeit hervor, die, wenn sie einhält, Zeitvorstellung werden kann. Sie wird das unter der Bedingung, dass actual entities sich nicht mehr aufeinander auswirken und insofern gleichzeitig sind. Gleichzeitigkeit heißt in einer epochalen Theorie der Zeit Freiheit von Einflüssen. Gleichzeitige actual entities können darum nach Whitehead in Mustern zusammenbestehen. Sie fügen sich in Muster, die sich wieder zu Mustern fügen und so immer größere Gleichzeitigkeitsräume aufspannen können, Zeiträume, in denen Feststellungen und Vorstellungen und also die uns so vertrauten beständigen Bestimmungen der Dinge möglich sind. Gleichzeitigkeitsräume halten sich natürlich immer nur so lange, wie es die Umgebung und das heißt zuletzt das Weltgeschehen duldet.35 Von dieser „Geduld“ (patience), die unter actual entities begrenzt ist, hängt alles ab. Die „representational immediacy“, die Vorstellbarkeit, in der sich alle Beteiligten zu einer neuen Unmittelbarkeit ausgewirkt haben, hat im Weltgeschehen stets ihre Zeit, die Zeit der Vorstellung.
Dies alles scheint Nietzsches implizite Vorstellung der Zeit nur zu verdeutlichen. Aber Whitehead fragt nun, wie denn Gleichzeitigkeit (oder kräftefreie Bezogenheit oder mögliche beständige Bestimmtheit) gedacht werden könne, wenn die Bezogenen sich nicht in etwas aufeinander beziehen, also an einem Dritten teilhaben. Ordnung setzt nach Whitehead etwas voraus, in dem sich actual entities gemeinsam ordnen. Er führt darum „eternal objects“ ein, unvergängliche Bestimmungsstücke. Um aber Beziehungen mittels eternal objects eingehen zu können, müssen die actual entities sie gleichsam schon kennen, um sie auswählen und sich durch sie in ihrem eigenen Sich-Auswirken bestimmen zu können.
Durch den Ansatz zeitenthobener Bestimmungsstücke wird nun zwar, gewohnter und darum zunächst vielleicht einleuchtender als bei Nietzsche, verstanden, wie sich das unvorstellbare epochale Sich-Auswirken der actual entities beständig zu einem Sich-Präsentieren entzeitlicht. Aber das bedeutet ja zugleich, dass die Inkommensurabilität der actual entities durch die Einführung gleicher Maßstäbe, mögen sie auch jeweils eigentümlich kombiniert werden, konterkariert wird: Weltgeschehen und also epochale Zeit ist so nur durch Zeitenthobenes, ewig Gleiches möglich. Mit der Deutlichkeit der actual entities füreinander, der kommensurablen Präsentation, geht der anderen Zeit ihre Andersheit verloren. Whitehead ist, von Nietzsche aus gesehen, noch immer an der platonischen Schwelle hängengeblieben. Er fasst als legitimen Gegenstand der Vorstellung, wozu sie doch nur ein gebrochenes Verhältnis haben kann.
Die kommensurable Präsentation muss verständlich gemacht werden, aber nicht aus einer Teilhabe an vorgegebenen, zeitenthobenen Maßen, die das Anders-Sein der Vorstellenden, das Whitehead ja gerade retten wollte, neutralisieren. Das Anders-Sein oder die Zeit des Vorstellens scheint, so paradox es klingt, nur durch den Macht-Gedanken zu retten. Die Nietzsche-Forschung hat ihn bereits so weit erklärt, dass sich eine ausführliche Darstellung erübrigt.36 Der Wille zur Macht ,interpretiert‘, d. h. er stellt anderes Vorstellen nach Maßgabe des eigenen vor, bezieht es in sich ein, ohne sich auf ein jenseitiges Drittes beziehen zu müssen. Macht stellt eine Beziehung zwischen Zweien aus der Kraft des Einen her. Dabei bleibt aber nicht nur das Anders-Sein dieses Einen, sondern beider gewahrt. Denn um das Andere zu vereinnahmen, muss das Eine auf dessen Kräfte oder, wie Hegel sagt, „in die Stärke des Gegners eingehen“. Es nimmt dann zwar Maß am Andern, aber dabei verändert es sich schon selbst, und so verschiebt sich auch schon sein Maß des Andern. Sie verändern sich unablässig aneinander und haben darum aneinander niemals ein Maß. Dies ist kein Mangel, sondern die Bedingung der Möglichkeit, überhaupt Erfahrungen eines Andern als Andern zu machen. Das Eine und das Andere können sich nur aufeinander einspielen, weil sie kein festes Maß aneinander haben.
Dennoch erfährt das Eine das Andere nicht selbst. Es hat das Andere ja nur in seiner Macht oder in seiner Vorstellung, und so erfährt es im Übermächtigen oder Vorstellen des Anderen nur seine eigene Veränderung, die Veränderung seines Vorstellungsgefüges. Nietzsche verdeutlicht das ganz mechanisch:
Ein anderer Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hemmung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das Wachs unseres Wesens. Wir erkennen immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr. (Nachlass 1880, 6[419], KSA 9.305)
Jedes Vorstellen ist unausweichlich anders, jede Macht bleibt einsam. Bleibt sie dadurch nicht immer auch in ihrem Zeit-Schema und verdeckt die andere Zeit? Hier wäre Levinas’ Einwand anzuführen: „Parler de temps dans un sujet seul, parler d’une durée purement personelle, nous semble impossible.“37 Das Anders-Sein kommt auf mich zu, wo ich den Andern nicht aus meiner Macht, nicht in meinem Licht sehe, ihn nicht vorstelle, in einem Verhältnis, das „ni une lutte, ni une fusion, ni une connaissance“ ist. Es kann nicht „en pouvoirs“ übersetzt werden (TA, S. 80 f.). Nietzsches Vorstellung bleibt dagegen Macht, sie überwältigt das Anders-Sein des Anderen, verstellt sich so ihr eigenes Anders-Werden am Andern, bleibt scheinbar bei sich selbst und verfehlt durch diesen Schein die eigentliche Erfahrung des Anders-Seins und der anderen Zeit. Levinas aber setzt der Macht die Hingabe, den Eros und die Geduld entgegen, eine Geduld, die nicht, wie die übliche, nur wartet, bis die Erfahrung des Andern ausgestanden ist, sondern „attente sans terme attendu“ ist,38 die darauf verzichtet, Zeitgenosse, d. h. mit ihrem Erfolg am Ende gleichzeitig zu sein („renoncer à être le contemporain de son aboutissement“39). Der Andere ist der Bruch mit der Gleichzeitigkeit und der Vorstellung, er ist eine nicht mehr vorgestellte Zukunft – „L’avenir [authentique], c’est l’autre.“ – (TA, S. 64) und die Geduld „le passage au temps de l’Autre“ (DEHH, S. 192).
Aber Nietzsche hat auch darauf schon eine Antwort gegeben. Er scheint zunächst die Geduld zu verachten; er nennt sie Faulheit oder Feigheit, seine Macht auszuüben (MA II, WS 251), und lobt die Ungeduld des Menschen der Tat (M 452). Aber schon Zarathustra hat diese Geduld verlernt, „weil er nicht mehr ‚duldet‘“. Er hat mit seiner Lehre, seinem „Niedergange“, „Geduld und Zeit und Überzeit“ (Za IV, Das Honig-Opfer). Nietzsche kennt die Geduld ohne Warten, die Geduld, die nichts will. Er hat den Jesus in Der Antichrist, auch wenn er den Begriff dort nicht gebraucht, als einen solchen Geduldigen typisiert: „Gerade der Gegensatz zu allem Ringen, zu allem Sich-in-Kampf-Fühlen ist hier Instinkt geworden: die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral“ (AC 29). Jesus hat einen „Widerwillen gegen jede Formel, jeden Zeit- und Raumbegriff“ (AC 29), er nimmt kein Wort mehr wörtlich (AC 32), er hasst „jede Realität“ (AC 29). Die Vorstellung, die unterscheidet und präsentiert, also Realität schafft, hat beim „Typus des Erlösers“ ihre Zeit gehabt. Soweit auch er in Vorstellungen, in der Realität, in der Sprache lebt, haben sie „für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses“ (AC 32). Die Liebe ist, wie auch Levinas es andeutet, seine „einzige, [...] letzte Lebens-Möglichkeit“ (AC 30).
Der „Typus des Erlösers“ hat, können wir folgern, den Gedanken des Willens zur Macht zum Leben nicht mehr nötig. Der späte Nietzsche hat auch in dem aggressiven ,Immer-mehr-Macht-Wollen‘ noch ein „,Weg von hier! Weg von der Wirklichkeit!‘“ vermutet, den „Standpunkt der Wünschbarkeit“ oder des „Anders-haben-wollens“ (Nachlass 1886/87, 7[62], KSA 12.317; Nachlass 1888, 16[44], KSA 13.501).40 Wer will, will etwas anders haben, stellt es sich anders vor, als es ist. Er will nach diesen Vorstellungen leben, das Leben an ihnen festmachen und nach ihnen be- und verurteilen. Er hat nach Nietzsche darin keine Freiheit: „‚will‘ und ,muss‘ (beide Worte wiegen mir gleich)“ (Nachlass 1884, 26[277], KSA 11.223). Das Wollen, das Nach-Vorstellungen-Leben ist „ein Interesse des Lebens selbst“, „eine Necessität ersten Rangs“ (GM III 11), „der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge“ (Nachlass 1886/87, 7[62], KSA 12.316). Aber der Gedanke des Willens zur Macht bricht, das führte Nietzsche der Sache nach über Whitehead hinaus, mit dem Platonismus des Vorstellens: in ihm ist das Vorstellen nicht mehr nur als Repräsentieren, sondern als Anders-Werden in der Erfahrung des Andern gedacht. Das Vorstellen als Wille zur Macht überschreitet unablässig auch die eigenen Vorstellungen. So befiehlt der Wille zur Macht gleichsam: Interpretiere das Andere, stelle es dir vor, und da du dabei die Erfahrung machen wirst, dass du selbst dich dabei änderst, so überschreite deine Vorstellungen! Aber der Wille zur Macht selbst bleibt als Wille Vorstellung. Er ist, im Blick auf die andere Zeit interpretiert, zuletzt die Vorstellung zur Überschreitung von Vorstellungen oder die Vorstellung der Zeitlichkeit der Vorstellung.
Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen gilt als Nietzsches Schlussgedanke, auch ihm selbst. Er hat ihn nicht mehr unterlaufen, sondern im Gegenteil von verschiedenen Seiten her zu festigen versucht.41 Im ersten Abschnitt dieser Abhandlung wurde am Beispiel seines bloßen Auftretens Nietzsches Vorstellung von der rechten Zeit entfaltet. Nun müsste sich zeigen, wie die Zeit der Vorstellung oder die Vorstellung der anderen Zeit der Zeiten im Gedanken der Wiederkehr zu Ende gedacht ist.
In einem Notat vom Winter 1883/84, das er „Meine Neuerungen“ überschreibt, sieht sich Nietzsche „in der Bahn der Auflösung“ (Nachlass 1883/84, 24[28], KSA 10.661). Als er erkannt hat, dass er gegen „die zunehmende Schwäche der Persönlichkeit“ in seiner Zeit nicht anstreben kann, will er „Zerstörer“ sein und die Auflösung, nämlich die Auflösung aller Ziele und ihrer Maßstäbe, zur Stärke machen. Ein Schritt darin war, die Wissenschaften unter die „Theorie des Zufalls“ zu stellen und sie als zeitliche und an der Zeit arbeitende, als schaffende zu begreifen. Am Ende des Notats heißt es dann: „Gegen die lähmende Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die ewige Wiederkunft!“ Andere Stellen zeigen, dass Nietzsche seinen Schlussgedanken nicht gegen die Auflösung, sondern gegen ihre „lähmende Empfindung“ hielt; er sollte züchtend wirken, von denen ertragen werden, die stark genug für die Empfindung der Auflösung waren, die andern aber auflösen. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist also wie der Wille zur Macht ein strategischer Gedanke, nämlich ein Imperativ, der zu einem Wollen ermutigt. Ermutigt der Gedanke des Willens zur Macht, seine Vorstellungen überschreiten zu wollen, so der Gedanke der ewigen Wiederkehr zu wollen, dass alles ewig wiederkehrt. Das Wollen, das Vorstellen, dass etwas anders sein soll, will hier also gerade das Nicht-Wollen: dass alles ewig wiederkehren soll, heißt, dass nichts anders sein soll, als es jetzt ist, dass es sein eigenes Recht gegen alles Vorstellen und Verändern-Wollen hat. In der Wiederkehr vor allem lösen sich alle Ziele, ihre Maßstäbe und Rechtfertigungen auf. Dies zu ertragen, ohne ein Anders-Haben-Wollen des Anderen und auch ohne Rechtfertigung seines Anders-Seins leben zu können, verlangt die Vorstellung der ewigen Wiederkehr. Sie bringt so die Vorstellung des Willens zur Macht zu Ende: zunächst, indem das Vorstellen alles vorstellen will, d.h. will, dass alles, jedes auf jedes andere hin überschritten werden soll, dass also keine Vorstellung mehr festgehalten, nichts mehr repräsentiert oder interpretiert oder anders gewollt wird. Nur der „Typus des Erlösers“ mag das können. Wer seine Kraft nicht hat, kann es sich dagegen wieder nur vorstellen, und zwar als ewige Wiederkehr des Gleichen.
Wie aber stellt diese Vorstellung das Überschreiten von allem durch alles vor? Sie kann es nur vorstellen, indem sie alles gleichzeitig vorstellt, also festhält, und in die Gleichzeitigkeit hernach die Sukzession einträgt: „Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden ,todten‘ Zustand in einen anderen beharrenden ,todten‘ Zustand“ (Nachlass 1881, 11[150], KSA 9.499). Die Vorstellung stellt alles und wieder alles tot vor, immer wieder. Sie kann nicht anders; sie muss das Geschehen anders vorstellen, als es ist, nämlich im vorgegebenen mechanistischen Zeit-Schema der Gleichzeitigkeit und der Sukzession. Im Schlussgedanken des Überschreitens von allem durch alles wird jedoch gerade diese Vorstellung und ihr Zeit-Schema überschritten. Der Intellekt zwingt aber weiterhin zur Vorstellung der Sukzession auf dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit auch dort, wo es gerade um die Zeit des Überschreitens, im Sinne des Zeit-Schemas also um Zeitlosigkeit geht: „Zeitlosigkeit und Succession vertragen sich miteinander, so bald der Intellekt weg ist.“ (Nachlass 1881, 11 [318], KSA 9.565) Umgekehrt ermöglicht die die andere Zeit verstellende intellektuelle Vorstellung erst die Einheit der Vorstellung im Zeit-Schema: „Blicke in die Welt, wie als ob die Zeit hinweg sei: und dir wird Alles Krumme gerade werden.“ (Nachlass 1882/83, 5[1]247, KSA 10.216)42
Man kann sich also die ewige Wiederkehr nicht vorstellen, und das gerade scheint ihr Sinn zu sein. Die Vorstellung scheitert notwendig an Nietzsches Schlussgedanken, da er eine Zeit denkt, die sie nur anders vorstellen, anders wollen kann. Könnte Nietzsche also mit dem Gedanken oder der Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht gerade wollen, dass die Vorstellung als Vorstellung und ihre Schemata scheitern? So wäre die Vorstellung der ewigen Wiederkehr des Gleichen keine repräsentative Vorstellung von etwas, sondern eine strategische Vorstellung, die Vorstellung zum Scheitern des Vorstellens. Erst aus ihr entspringt die andere Zeit der Zeiten. Die Vorstellung arbeitet sich an sich ab und gibt die andere Zeit der Zeiten frei. Aber das geschieht nach Nietzsche nur zur rechten Zeit.
Schluss
1. Der Kreis schließt sich. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr hat nicht nur wie jeder andere seine Zeit, in der er sich auswirkt, sondern in ihm wird der Gedanke der rechten Zeit selbst zu Ende gedacht. Die rechte Zeit ist die inkommensurable Zeit der Individuen und ihrer Welten, der Gedanke der ewigen Wiederkehr hat die Wirkung, die Vorstellung, die stets Individuen und ihre Welten gleichsetzen und vergleichen muss, um Orientierung unter ihnen zu ermöglichen, immer wieder auf ihren Ursprung in Individuen und ihren Welten zurückzuführen. Die rechte Zeit ist, das ist das erste Ergebnis dieser Untersuchung, ein verborgenes Grundthema von Nietzsches Philosophie, ein Thema, aus dem sie sich als ganze erschließt.
2. Der Gedanke der rechten Zeit führt zu einer neuen Kritik der Vernunft. Wenn Nietzsche „die Welt von innen gesehen“ als „,Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem“ bestimmte (JGB 36), so lässt sich nun der Wille zur Macht ,von innen gesehen‘ als Zeit bestimmen. Macht ist der Begriff dafür, dass Individuen ohne ein vorgegebenes Maß an einem Dritten oder auch nur aneinander sich unberechenbar individuell, aus den Kräften des Einen im Spiel mit den Kräften des Anderen, miteinander verbinden, und Zeit ist der Begriff des Inkommensurablen, des unberechenbaren Anders-Werdens beider in diesem Spiel. Von dieser Zeit kann es keinen definierbaren Begriff und keine haltbare Vorstellung geben, weil sie selbst die Zeit der Vorstellungswelten und ihrer Zeit-Schemata ist, die andere Zeit, in der sie ihre Zeit haben. Es lässt sich nicht einmal beweisen, dass ,es sie gibt‘; denn Beweise setzen schon Vorstellungen und Regeln ihrer Verknüpfung voraus.
3. Die beiden wichtigsten Ansätze zur Erörterung der anderen Zeit im 20. Jahrhundert von Whitehead und von Levinas fügen sich, das hat die Untersuchung weiter ergeben, in den Ansatz Nietzsches ein. Mit seinen ,eternal objects‘, durch die die andere Zeit wieder neutralisiert wird, fällt Whitehead sogar noch einmal hinter Nietzsche zurück. Während Whitehead jedoch nur den naturphilosophischen, Levinas nur den ethischen Aspekt der anderen Zeit erörtert, stellt Nietzsche das Problem schon in einer Weise, die beide Disziplinen umgreift. Seinen Gedanken der ewigen Wiederkehr hat er ausdrücklich auch naturphilosophisch und ethisch gedeutet.
4. Nietzsche hat das Problem der Zeit, wie nun leicht zu sehen ist, so fundamental angesetzt wie außer ihm nur Heidegger. Er hat es jedoch nicht wie Heidegger explizit formuliert. Das liegt sicher auch daran, dass es noch nicht ,an der Zeit‘ war, wie Heidegger in Sein und Zeit ausdrücklich nach der „Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt“ zu fragen. Und dennoch ist es nicht einfach ein Versäumnis, das Problem nicht so zu stellen, sondern entspricht seiner Eigenart. Nietzsche hat ausdrücklich seine exoterischen Lehrbegriffe des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen von dem unterschieden, was sich durch sie, durch ihre ,Gegenbewegung‘ esoterisch, nicht-mitteilbar zeigt. Diese Untersuchung hat nun ergeben, dass sich die andere Zeit der Zeiten nur esoterisch zeigen kann und dass sie sich in der Gegenbewegung gegen die exoterischen Lehrbegriffe zeigt. So wäre nun umgekehrt zu fragen, ob Heidegger im Licht der Philosophie Nietzsches mit der Aufgabenstellung von Sein und Zeit dem Problem der Zeit schon gerecht geworden ist, und wenn nein, ob er es in der Kehre angemessener aufgenommen hat. Dabei wäre weiter zu untersuchen, worin Heidegger im Problem der Zeit an Nietzsche anschließt, worin er ihn trifft und verfehlt und worin er etwa über ihn hinausgegangen ist. Heidegger hat zwar Nietzsches Philosophie ausführlich interpretiert, aber nicht so, dass er die Ursprünge seiner eigenen Philosophie darin erkennen ließ.
5. Nietzsches Erörterung der Zeit berührt auch die Behandlung der Zeit in den Wissenschaften seiner Zeit. Sie hat ihn auf Problemstellungen geführt, die erst die gegenwärtige Physik, Physiologie und Soziologie aufgegriffen und wissenschaftlich verständlich gemacht haben. Auch die Wissenschaften haben es heute längst nicht mehr nur mit der newtonschen Zeit, sondern zugleich mit dem Inkommensurablen und der anderen Zeit zu tun. Das Problem der Zeit ist unter ihnen naturgemäß aber wieder in begrenzte Disziplinen aufgesplittert. Nietzsches Vorstellung der Zeit könnte ihnen vielleicht zu einer neuen Synthese verhelfen.
1 Vgl. Peter Bieri, Zeit und Zeiterfahrung. Exposition eines Problembereichs, Frankfurt am Main 1972, S. 14: „Es ist unmöglich, für ,Zeit‘ eine zirkelfreie Realdefinition zu formulieren, die sie auf Bestimmungen zurückführte, die man nicht bereits als ,zeitlich‘ bezeichnen würde.“ – Nachdem Peter Janich (Die Protophysik der Zeit, Mannheim 1969) versucht hatte, in Anlehnung an die aristotelische Physik die Zeitmessung auf die Bewegungslehre zu begründen, diese aber unabhängig vom Zeitbegriff aufzubauen, und Gernot Böhme (Protophysik der Zeit – eine nicht-empirische Theorie der Zeitmessung? In: Gernot Böhme (Hg.), Protophysik. Für und wider eine konstruktive Wissenschaftstheorie der Physik, Frankfurt am Main 1976, S. 276-299) schwere Einwände dagegen erhoben hatte, hat nun Gottfried Heinemann (Zeit- und Prozeßstrukturen. Über die modale, die relationale und die teleologische Ordnung der Zeit, in: Philosophisches Jahrbuch 93 (1986), S. 110-134) noch einmal dazu angesetzt, dem Zirkel durch einen Rückgriff auf Aristoteles‘ Metaphysik zu entkommen. Er führt die aristotelische Bestimmung der Bewegung und der Zeit auf den Gegensatz dynamis-energeia/entelecheia zurück und interpretiert ihn als bloßen Gegensatz von Nicht-Sein und Sein (S.117). „Anfang und Ende“ einer Bewegung sollen „daher begrifflich nicht durch eine vorgängige Zeitbestimmung unterschieden“ sein, es sei denn in einem „Vorwissen“ (S. 119 f.). Doch hier liegt der Zirkel schon im Ansatz: die dynamis ist nicht als ein bloßes „Nicht-Sein“, sondern nur von der enérgeia her als ihr „Noch-Nicht-Sein“ „eine eigene Wirklichkeit“ (S. 117), enthält also schon eine Zeitbestimmung. Der Sinn des Gegensatzes dynamis-enérgeia ist gerade der einer zeitlichen Auslegung des Gegensatzes hyle-eidos (vgl. Met. Z 7-9, H 5-6 und vor allem Θ 3, wo Aristoteles seinen Möglichkeitsbegriff gegenüber dem megarischen dadurch rechtfertigt, dass dasselbe, z. B. ein Baumeister, zu einer Zeit Baumeister sein, zu einer andern aber nicht sein kann, und Θ 8, wo ausdrücklich ausgeführt wird, die enérgeia sei auch der Zeit nach früher als die dynamis).
2 Apokalypse des Johannes 12, 12. Hier setzt Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt am Main 1986, mit seiner genetischen Rekonstruktion des Zeitbewusstseins ein.
3 G. W. Leibniz, Les principes de la philosophie ou La monadologie, §§ 10 u. 11.
4 Vgl. Friedrich Kaulbach, Perspektivismus und Rechtsprinzip in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 10.2. (1985), S. 21-35, bes. S. 28.
5 Paul Janssen (Zeit und Zeitlichkeit. Zeit als Realisierungsbedingung der Erkenntnis und die Zeitlichkeit des Erkennens, in: Perspektiven der Philosophie 11 (1985), S. 73-90) nennt Kants Anschauungsform der Zeit die „nichtzeitliche Zeit“. Sie ist der „Verfügungsspielraum des frei vermöglichen Ich als Ich-denke wie als transzendentaler Einbildungskraft“. Indem die Erkenntnis Gegenstände objektiviert, macht sie sie für alle Zeit gültig und enthebt sie so der Zeit (S. 79 f.).
6 Hans Michael Baumgartner (Kontinuität als Paradigma historischer Konstruktion, in: Philosophisches Jahrbuch 79 (1972), S. 254-268) nennt Geschichte „die Idee der Totalität“ „angesichts des Vergehens in der Zeit“ (S. 266).
7 Elisabeth Ströker, Geschichte und ihre Zeit. Erörterung einer offenen philosophischen Frage, in: Perspektiven der Philosophie 11 (1985), S. 269-297, zit. S. 270.
8 Ströker, Geschichte und ihre Zeit, S. 288. – Martin Heidegger zitiert in seiner Probevorlesung zur Erlangung der venia legendi von 1915, die sich noch eng an die neukantianische Wissenschaftstheorie anschließt, Eduard Meyers Bestimmung, die Geschichte habe nur Interesse am „historisch Wirksamen“ (Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt am Main 1978, S. 413-433, zit. S. 427). Ströker geht es in der Folge ihrer Abhandlung darum, die eigentümliche Objektivität der Geschichtszeit in ihren Ursprüngen zu erfassen. Sie führt die Konstruktion der universellen Zeit wie Aristoteles auf die Zählbarkeit von periodischen Vorgängen an Dingen („Dingvorgängen“) zurück – mit der Zahl kann die Zeit von den Dingen abgehoben und als universelle Form verdinglicht werden (S. 283 f.) –, die Ausbildung der Geschichtszeit jedoch auf die Selektion und quellenkritische Aufbereitung der immer nur fragmentarisch und diskontinuierlich gegebenen Ereignisse. Wenn der „Tatsachengehalt“ einmaliger Ereignisse „für alle Zeit“ quellenkritisch identifiziert wird, wird ihre Zeit „sozusagen modal entflüchtigt“ (S. 293), sie werden objektiv. Durch ihre Datierung in der universellen Zeit bekommen die Ereigniszusammenhänge zugleich Kontinuität. Weil aber auch datierte Ereignisse einmalig bleiben, fällt ihre Zeit doch nicht mit der universellen zusammen.
9 Vgl. Heidegger, Zeitbegriff, S. 431: „Das Qualitative des historischen Zeitbegriffes bedeutet nichts Anderes als die Verdichtung – Kristallisation – einer in der Geschichte gegebenen Lebensobjektivation.“
10 Nietzsches Vorstellung der Zeit entspricht darin der gegenwärtigen Theorie der Geschichte. Vgl. Baumgartner, Kontinuität, S. 268: „Was immer an Geschichte erzählt wird, verdankt sich jeweils schon einem bestimmten Vorgriff auf Vernunft, einer bestimmten Entscheidung dafür, was vernünftig heißen soll.“
11 KGW II/3, S. 308; Brief an Carl Fuchs, vermutlich Ende August 1888, Nr. 1097, KSB 8.404 f. – Zu Nietzsches Philosophie des Rhythmus und zu den Rhythmen seiner Philosophie vgl. Steffen Stelzer, Der Zug der Zeit. Nietzsches Versuch der Philosophie, Meisenheim/Glan 1979, S. 33-73.
12 Vgl. Manfred Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairos, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 27 (1973), S. 256-274.
13 Vgl. Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairos, S. 267-274.
14 Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7-8.
15 Karl Schlechta, Nietzsches großer Mittag, Frankfurt am Main 1954, S. 34-46, hat die antike Pans-Stille mit ausführlichen Belegen nachgezeichnet.
16 Der Begriff einer Erkenntnis nicht nur von Bedingungen, sondern auch unter Bedingungen bestimmt seit Descartes die moderne Wissenschaft. Er wird besonders in Kants Kritik der Urteilskraft reflektiert. Vgl. dazu Josef Simon, Glück der Erkenntnis. Zur Motivstruktur der Wissenschaft, in: Günter Bien (Hg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart-Bad Cannstatt 1978, S. 113-130.
17 Schlechta, Nietzsches großer Mittag, S. 70.
18 Schlechta, Nietzsches großer Mittag, S. 47 ff., weist eine Fülle biblischer Anspielungen nach. Er verurteilt die Verschmelzung des Griechischen und Christlichen jedoch zugleich als „ein mythologisches Falsifikat“ (S. 81), „eine einzigartige Verschwendung mit letzten Sinn- und Geistgehalten der Tradition“ (S. 64). Wiewohl Nietzsche „das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen“ (GM I 2), als „Schaffender“ stets, wenn auch stets zurückhaltend, in Anspruch genommen und die ,Sinnverschiebung‘ geradezu zum „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“ (GM II 12) erhoben hat, wirft ihm Schlechta vor, er werde sich im Übergang vom Mittag zum großen Mittag selbst untreu (S. 63).
19 Das übersieht zuletzt auch Otto Friedrich Bollnow, Das Wesen der Stimmungen [1941], 3., erw. Aufl., Frankfurt am Main 1956, in seiner im übrigen sehr eindringlichen und nicht überholten Interpretation des „großen Mittags“ (S. 219-236), wiewohl er zunächst eigens darauf hinweist. Er stellt m. E. zu Recht das „Erlebnis der Ewigkeit im Glück des Mittags als den eigentlichen Ursprung der Lehre von der ,ewigen Wiederkunft‘“ dar (S. 233) – aber auch Prediger Salomo 3 könnte sich hier noch auswirken: „Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist.“ Bollnow deutet die „Lehre“ aber zugleich als unmittelbare „begriffliche Auslegung“ des „Erlebnisses“ (S. 234). Die begriffliche Auslegung verfälsche die „in diesem Erleben aufgehende subjektive Zeitverfassung“ zu einer „Form des objektiven Zeitgeschehens“ und bringe Nietzsche damit in „unauflösbare Schwierigkeiten“ (S. 234 f.). Diese Schwierigkeiten entstehen aber nur, wenn die Sinnverschiebung vom „Mittag“ zum „großen Mittag“, von der noch gegenwärtig erfahrbaren zur nur als zukünftig erfahrbaren rechten Zeit, nicht beachtet und außerdem die ewige Wiederkehr als objektives Zeitgeschehen und nicht als Vorstellung betrachtet wird (s. u. Abschn. 3).
20 Vgl. zuletzt die Aufzeichnung vom Dezember 1888/Anfang Januar 1889: „Ich sehe mitunter meine Hand daraufhin an, dass ich das Schicksal der Menschheit in der Hand habe –: ich breche sie unsichtbar in 2 Stücke auseinander, vor mir, nach mir…“ Zum Bewusstsein Nietzsches von seiner Epochalität vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts [1941], Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1969, S. 207-220.
21 UB II, HL 10, KSA 1.330. Das zweite „Gegenmittel gegen das Historische“, „das Ueberhistorische“, das Nietzsche hier erwähnt, die Fähigkeit, „den Blick von dem Werden ab[zu]lenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt, zu Kunst und Religion“, hat er in der oben zitierten Stelle aus FW 1 zumindest, was die Religion betrifft, zurückgenommen. Auch sein Kunst-Begriff verliert, wie Mihailo Djurić, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin/New York 1985, S. 188-301, bes. S. 239-241, jüngst ausführlich gezeigt hat, später das Moment des „Ewigen und Gleichbedeutenden“. In FW 89 setzt Nietzsche gegen die „Kunst der Kunstwerke“, mit denen man „die armen Erschöpften und Kranken von der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite locken [will], für ein lüsternes Augenblickchen“, „jene höhere Kunst, die Kunst der Feste“. Die Kunst der Feste aber ist eben die Kunst, sich auf rechte Zeiten einzulassen.
22 Es heißt dort auch: „So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dahin bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird?“ Nietzsches Zeit-, Wissenschafts- und Zukunftsverständnis (s. u.) ist – in religiöser Perspektive – hier deutlich vorbereitet.
23 Nietzsches Erfahrung der anderen Zeit der Zeiten kommt der Erfahrung der Seinsgeschichte beim späten Heidegger so nahe, dass sie in ihr ,wiederholt‘ sein dürfte. Vgl. Blumenberg, Lebenszeit, S. 95: „Heideggers Seinsgeschichte projiziert ins Übergroße die einfache Feststellung, daß es primär nur immanente Zeiterfahrung gibt und alle Weltzeitbegriffe nur von jener her verstanden und angewendet werden können.“ Wie Heideggers Zeitverständnis insgesamt von dem Nietzsches abhängt, wäre noch eigens zu untersuchen.
24 Die ersten und bisher einzigen Monographien zum Zeitverständnis Nietzsches stammen von Joan Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Den Haag 1959, und Ilse Nina Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969. Sie führen ebenfalls zu dem Zwischenergebnis, dass durch Nietzsche „die Vorstellung von der Zeit als einer Form aufgehoben wird. Die Zeit kann nicht die Form sein, in der sich das Werden abspielt, weil das Werden nicht ein vom ewigen Sein losgelassener, unhaltbarer ,Fluß‘ ist, der einer Form bedarf, in der er fließen kann.“ (Stambaugh, S. 163) „Die Welt ist kein lebloses Objekt, und die Zeit ist weder eine kontinuierliche Linie, noch eine unzusammenhängende Reihe von Momenten, kein statisches Sein und keine fortschreitende Bewegung, sondern, wie die Welt selbst, äusserste Lebendigkeit.“ (Bulhof, S. 161) Stambaugh nimmt dabei zwar Bezug auf die „perspektivische Sphäre“ der Wissenschaften, aber nicht auf die eigene Beschäftigung der Wissenschaften mit der Zeit – auch nicht der Wissenschaften zur Zeit Nietzsches –, durch die sie selbst über das Verständnis der Zeit als Form hinausgeführt werden. Ihr Werk kann als erster Versuch gelten, einige Fäden des Zeitthemas im Werk Nietzsches aufzunehmen und in ihrem komplizierten Geflecht jeweils ein Stück zu verfolgen, ohne dass sich daraus schon ein klares Muster ergäbe. Stambaugh schreibt selbst: „Bei der Erörterung von Nietzsches verschiedenen Zeitauffassungen zeigte sich ein komplexes Gewebe von Gedanken, die sich nicht ausdrücklich widersprachen, die sich wiederum aber doch nicht zusammenfassen ließen.“ (S. 199) Um so mehr gerät sie in Gefahr, aus Nietzsches Hinweisen eine bilderreiche Metaphysik der Zeit zu erheben. Bulhof versucht aus Nietzsches Bild der kreisenden Zeit – „Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.“ (Za III, Vom Gesicht und Räthsel 2) einen Begriff von Geschichte zu gewinnen, der es ermögliche, „die Anteilnahme des Menschen am Sein zu denken.“ (S. 163) Von der Zeit als einem sich schließenden Kreis spricht aber nur der Zwerg.
25 Vgl. die ausgezeichnete Darstellung von Ernst Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985. Pöppels Seitenhiebe auf die Zeitvorstellungen der Philosophen hauen allerdings oft daneben.
26 M 117, vgl. Nachlass 1881, 11[184], KSA 9.513. Weitere Belege bei Alwin Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952, S. 53 f. – Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, S. 267-282, würdigt erneut ausführlich „die Großartigkeit der Anstregung von Baers“. Dessen Forschungen wurden vor allem von Jacob von Uexkiill unter dem Begriff der Eigenzeit fortgeführt (vgl. Th. v. Uexküll, Art. ,Eigenzeit‘, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Darmstadt 1972, Sp. 345 f.
27 Nietzsche hat diese Beobachtung immer wieder beschäftigt. Vgl. die Vorstufe zu dem zitierten Notat in MA 113 („Logik des Traumes“: „die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann.“) und seine Wiederaufnahme und Erweiterung in GD, Die vier grossen Irrthümer 4 („Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso. wir lassen [eine] Thatsache erst zu, – werden ihrer bewusst wenn wir ihr eine Art Motivierung gegeben haben.“).
28 Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, hg. v. M. Schröter, Frankfurt am Main 1984. Elias will mit „dieser Arbeit nicht mehr als einen einleitenden Schritt“ „in entwicklungssoziologischer Perspektive“ tun (S. 179 f.). Auch er polemisiert immer wieder heftig gegen Philosophen, die sich mit der Zeit befaßten (v. a. S. 100 ff.), insbesondere gegen Kant, und empfiehlt ihnen „resigniertes Schweigen“ (S. 104). Er will sich „von philosophischem Absolutismus und historischem Relativismus gleich weit entfern[en]“ (S. 174). Eine seiner Hauptthesen, die Zeitsynthesen hätten sich im Zusammenhang mit der Disziplinierung der Gewalttätigkeit entwickelt, steht jedoch Nietzsche sehr nahe.
29 Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, S. 255, spricht treffend vom „Präparat der Zeit“. – Weil die Physik die Zeit dabei immer ,angemessener‘ zu messen scheint, erwartet noch W. H. Newton Smith, The Structure of Time, London/Boston/Henley 1980, sie müsse sich schließlich der Wahrheit über die Zeit nähern (S. 231). Er weist darum den Ansatz von B. C. Van Fraassen, An Introduction to the Philosophy of Time and Space, New York 1970, zurück, die Zeit sei „a mathematical construct used [that means, of course, used by us] to represent conceptual interconnections among a family of properties and relations“ (S. 102, zit, v. Newton-Smith, S. 218 f.), und schlägt einen realistischen Ansatz vor. Danach solle das mathematische Konstrukt etwas außer sich repräsentieren (S. 221). Die empirischen Anhaltspunkte dafür liefere die Physik. Doch diese Anhaltspunkte unterliegen ihrerseits der „Mehrdeutigkeit des Metrisierungsverfahrens“ der Zeit, auf die Wolfgang Deppert, Grundlagen einer Theorie der Systemzeiten, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6.2 (1981), S. 1-25, hinweist. Eine physikalische Zeit außer ihrer Repräsentation in einer physikalischen Theorie bleibt darum ein unerreichbares X, dem man sich auf keine Weise annähern kann. Das schließt empirische Theorien der Zeit jedoch nicht aus, sondern ermöglicht und rechtfertigt im Gegenteil ihre Vielfalt. So setzt Deppert für unterschiedliche empirische Systeme – neben dem physikalischen chemische, organische, psychologische, soziologische, historische, wirtschaftliche und andere – unterschiedliche „Systemzeiten“ an (S. 8), unter denen die physikalische nur willkürlich als Norm ausgezeichnet ist. Der „Gattungsbegriff“ Zeit (S. 5) ist nicht außer einer dieser Systemzeiten zu bestimmen, die Systemzeiten sind aber nur in besonderen Fällen nach Gesetzen ineinander transformierbar (S. 11), so dass der Gattungsbegriff nicht oder doch nicht voll zu bestimmen ist.
30 Manfred Eigen, Evolution und Zeitlichkeit, in: Die Zeit. Schriften der Carl von Siemens-Stiftung, Bd. 6, München 1983, S. 35-57; nachgedruckt in und zitiert nach Christian Link (Hg.), Die Erfahrung der Zeit. Gedenkschrift für Georg Picht, Stuttgart 1984, 215-237, unterscheidet eine „schwache Zeitlichkeit“ der Statistischen Thermodynamik, die wieder „verschwindet“, wenn sich das thermodynamische Gleichgewicht wieder eingestellt hat (S. 226), von der „starken Zeitlichkeit“ der Nichtlinearen Dynamik, die die „schwache“ Zeitlichkeit zur Voraussetzung hat, aber „prinzipiell unumkehrbar“ ist (S. 228). Sie bestimmt auch den Evolutionsprozess. Zeit kann darum, ganz im Sinne Nietzsches, nur aus dem Geflecht des ganzen Weltgeschehens verstanden werden: „Zeit ist in diesem Konzept nicht einfach die Koordinate eines geometrischen Universums, sondern verflochten mit der materiellen Komplexität unserer Welt, mit uns selbst.“ (S. 236)
31 Vgl. Alfred Gierer, Die Physik, das Leben und die Seele, München/Zürich 1985, S. 28.
32 Vgl. dazu Karl Ulmer / Wolf Häfele / Werner Stegmaier, Bedingungen der Zukunft. Ein naturwissenschaftlich-philosophischer Dialog, Stuttgart 1987, Kap. VIII. [Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Darwins vgl. den Beitrag Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution in diesem Band].
33 Deppert, Grundlagen einer Theorie der Systemzeiten, S. 7, Anm. 10, spricht in der Tat von „anderen Zeiten als der hier definierten physikalischen“, mit denen man es in der Quantenphysik möglicherweise zu tun habe. Wolle man die Einheit der physikalischen Natur und ihrer Systemzeit fassen, müsse man sie „in ein noch umfassenderes System einordnen“ (S. 24).
34 So ist man jetzt mit Hilfe von Höchstleistungsrechnern immer weiter in den Mikrokosmos der Elementarteilchen vorgedrungen und hat auch noch in ihrem chaotischen Verhalten Gesetzlichkeiten entdeckt. Vgl. dazu Ulmer / Häfele / Stegmaier, Bedingungen der Zukunft, Kap. VIII.
35 Deppert, Grundlagen einer Theorie der Systemzeiten, S. 17, weist, um seine „Theorie der Systemzeiten“ zu illustrieren, die Whiteheads Konzept sehr nahe kommt, auf biologische und medizinische Forschungen hin, nach denen ein Organismus unter besonderen Bedingungen an einem ungelösten Synchronisationsproblem der Systemzeiten seiner Organe zugrunde gehen kann. „Etwa der Schlaf oder ein anderer bewußtloser Zustand [könnte] auf eine Desynchronisation [...] innerhalb des Organismus zurückzuführen“ sein. Auch Nietzsche nennt den Organismus einen „nach Wachsthum von Machtgefühlen ringenden Complex von Systemen (Nachlass 1888, 14[174], KSA 13.362).
36 Vgl. vor allem die für die deutsche Nietzsche-Forschung initiativen Arbeiten von Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971, und: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1-60. In Frankreich hat bereits Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie [1962], aus dem Frz. v. B. Schwibs, Frankfurt am Main 1985, auf das „differentielle Element“ des Willens zur Macht hingewiesen, das im Folgenden anklingt: „Der Wille [...] vollzieht sich notwendig über einen anderen Willen.“ (S. 11) – Ob in Nietzsches Ansatz des differentiellen Elements allerdings schon ein „Anti-Hegelianismus“ liegt (S. 13), muss hier offen bleiben. Vgl. hierzu Werner Stegmaier, Metaphysik, Ontologie, Weltorientierung. Postmoderne Revisionen, in: Philosophie. Beiträge zur Unterrichtspraxis 19 (1987), S. 16-32.
37 Emmanuel Levinas, Le temps et l’autre [1947] [= TA], Paris 1983, S. 64.
38 Emmanuel Levinas, De la déficience sans souci au sens nouveau [1976], in: E.L., De Dieu qui vient à l‘idee [= DD], Paris 1982, S. 87.
39 Emmanuel Levinas, La trace de l’autre [1963], in: E.L., En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger [= DEHH], Paris 31982, S. 191.
40 Holger Schmid, Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis, Würzburg 1984, hat vor allem an diesen beiden Notaten, JGB 36 und dem Notat Nachlass 1888, 14[98], KSA 13.274-276, zum ersten Mal zusammenhängend den philosophischen Sinn von Nietzsches „esoterischem“ Denken entwickelt. Esoterisch ist dieses Denken nicht, weil es sich nicht öffentlich – JGB 36 wurde ja veröffentlicht –, sondern weil es sich überhaupt nicht mitteilen lässt, weil die Mitteilung, ein Bedürfnis der Gattung und ihres Verkehrs (FW 354), schon in das Schema zwingt, das sie mitteilen und so von sich unterscheiden will. Nietzsches „Lehre“ vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen muss als Lehre in der Sprache der Gattung schon exoterisch sein und ihren Gedanken darum ,verkehren‘. Sie darf nur als „Gegenbewegung“ verstanden werden. Eine ganze Reihe der spätesten Notate (Nachlass 1888, 14[14] ff., KSA 13.224 ff.), steht unter diesem Titel „Gegenbewegung“.
41 Nietzsches unermüdliche Versuche, der Wiederkunftslehre auch einen naturwissenschaftlichen Sinn zu geben, hat zuletzt Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, S. 185-456, zu verteidigen unternommen. Vgl. dazu meine Rezension: Neue Monographien zur Philosophie Nietzsches, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 12.1 (1987), S. 76-81.
42 Vgl. Za II, Auf den glückseligen Inseln.