Vorwort des Herausgebers
© 2018 Andrea Christian Bertino, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.23
Die in diesem Band versammelten Studien Werner Stegmaiers aus den vergangenen drei Jahrzehnten fügen sich zu einer Gesamtinterpretation von Nietzsches Philosophie zusammen. Sie zeichnen sich durch zwei nur scheinbar widersprüchliche Charakterzüge aus, zum einen durch ihre systematische Kraft, zum andern durch ihre Lust an den Abenteuern des philosophischen Denkens. Einerseits erweist sich Stegmaiers Nietzsche als der Philosoph, der stets Heraklit bejahte, nach dem alles im Fluss des Werdens ist und in Auseinandersetzung miteinander steht, und der daraus auf dem Höhepunkt der Tradition des westlichen Denkens mit äußerster Konsequenz eine bahnbrechend neue Kritik der Philosophie, Moral und Religion entwickelte. Dieser durch die Schule des Historismus verfeinerte Heraklitismus ist für Stegmaier die Sinneinheit von Nietzsches Denken; sie führte ihn zu seinem eigenen philosophischen Entwurf, der 2008 erschienenen Philosophie der Orientierung. Was auf der andern Seite die Abenteuer des Denkens betrifft, so wird Stegmaiers Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken, um dessen eigene Bilder zu gebrauchen, zur Navigation auf hoher See ohne schon markierte Routen und ohne vorbestimmte Häfen. Mit dem Schiff ins Meer zu stechen und sich dabei ungewissen Winden auszusetzen, ist der Zweck selbst. Die ungewissen Winde aber sind hier Nietzsches vielfältige und oft vieldeutige, manchmal auch rätselhafte Texte, die weiterhin so faszinieren, dass sie immer wieder auf neue Meere hinauslocken. Die Tugenden, die es vor allem dazu braucht, die Nietzsche von seinen Leser(inne)n fordert und mit denen Stegmaier besonders begabt ist, sind Mut und Offenheit: der Mut, sich auf Texte einzulassen, die sich nie nur in theoretischen Dimensionen der Philosophie halten, sondern immer auch die eigene Existenz betreffen und in Frage stellen, und die Offenheit, sich nicht an irgendeine vorgegebene Position zu klammern, sondern zu jeder Frage möglichst viele Standpunkte zu Wort kommen zu lassen.
Stegmaiers Studien zu Nietzsche sind methodisch strenge wissenschaftliche Interpretationen, gehen aber weit darüber hinaus. Sie sind stets so verfasst, dass sie auch Nicht-Spezialisten verständlich bleiben und anregen, sich selbst ins Spiel zu bringen, d.h. sich eigenständig mit Nietzsche auseinandersetzen und mit dem kleinen Hammer, den er zur Verfügung stellt, das eigene Denken auf seine Ideale, Idole und Illusionen hin auszukultieren. Stegmaiers Lektüren begleiten die Leser(innen) zuverlässig dabei und legen überraschende Zusammenhänge in Nietzsches Denken und zugleich wesentliche Aspekte unseres Daseins überhaupt frei. Die Leser(innen) sollen nicht zu Nietzsche überzeugt werden – das wäre gerade nach Nietzsche Verrat an ihm. Vielmehr geht es darum, die eigenen Überzeugungen und Werte durch Nietzsche einem Stresstest zu unterziehen, um zu sehen, ob sie, wenn sie überleben, eine wirksamere Lebensorientierung geben. Mir scheint das größte Geschenk von Stegmaiers Nietzsche-Interpretationen darin zu bestehen, dass sie effektive Werkzeuge für solche Stresstests an die Hand geben. Wer kalte und stürmische Nächte auf den Meeren der Moralkritik, der genealogischen Dekonstruktion und des Nihilismus verbracht hat, nimmt hier die eigene Existenz in einem wärmenden, Vertrauen einflößenden Licht wahr.
Von großer Bedeutung ist, dass dieser Band jedermann in Open Access zur Verfügung gestellt wird. Denn auch wenn jeder sich alleine und auf eigene Verantwortung den Abenteuern des Denkens aussetzt, wird die Reise auf Nietzsches Meeren umso ergiebiger und interessanter, je mehr sich auf sie begeben können. Interpretationen von Nietzsches Philosophie brauchen die ständige Auseinandersetzung mit anderen, den Prozess der Selektion durch andere, und beide werden durch die Offenheit des Zugangs bestärkt. Von ihm ist fröhliche Wissenschaft in Nietzsches Sinn zu erwarten, agonistisch und dennoch solidarisch, weil man auch im Wettstreit auf andere angewiesen ist.
Endgültige Wahrheiten werden heute von vielen Sirenengesängen versprochen: sie sind aber nur Felsenriffe und Strände, an denen das Schiff des Geistes auf Grund läuft. Nietzsche und Stegmaier bieten sich als behutsame Reisebegleiter an, die die Leser(inne)n dort weiterdrängen, wo sie sich unkritisch illusorischen Wahrheiten hingeben wollen und – nach der Wendung, die Stegmaier bei Nietzsche am meisten liebt – die Ohren für die „Musik des Lebens“ verschließen.
Das von der Europäischen Union geförderte Projekt HIRMEOS – High Integration of Research Monographs in the European Open Science Infrastructure – hat diese Veröffentlichung unterstützt, indem es technische und institutionelle Schwierigkeiten überwunden hat, die der Publikation von Monographien in Open Access noch im Weg standen. Dem Autor Werner Stegmaier, der mit der Offenheit seines Denkens sich auch diesem Publikationsmodell anvertraut hat, und dem Verlag Open Book Publishers, der es konsequent weiterverfolgen will, gebührt der große Dank des Herausgebers.
Göttingen, 15. Februar 2018
Andrea C. Bertino