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Einleitung

© 2018 Werner Stegmaier, CC BY 4.0 https://doi.org/10.11647/OBP.0133.22

Die Studien zu Nietzsche, die hier zusammengestellt sind, entstanden im Zeitraum der letzten drei Jahrzehnte. Sie sind Teil einer Strömung der jüngeren Nietzsche-Forschung, die ein nüchterneres, gelasseneres, ausgewogeneres und darum wohl auch plausibleres und anschlussfähigeres Konzept von Nietzsches Philosophie entwickelt hat; sie wurden thematisch und methodisch für Generationen junger internationaler Nietzsche-Forscher(innen) in vielem richtungsweisend. Zusammen mit den Monographien Philosophie der Fluktuanz. Dilthey und Nietzsche von 1992, Nietzsches ‚Genealogie der Moral’. Werkinterpretation von 1994, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft“ von 2012 und Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche von 2016 lassen sie die gezielten Verengungen und Ideologisierungen von Nietzsches Philosophie in unterschiedlichste Richtungen zurück und zeigen stattdessen auf solider philologischer Grundlage, wie Nietzsche die Philosophie im Ganzen von Grund auf neu orientiert hat. Das betrifft in erster Linie seine Neubestimmung der Philosophie selbst und der Wahrheit, die sie ermöglicht (I), die Zeit, von der aus er all ihre Begriffe denkt, einschließlich des Begriffs des Denkens selbst (II), die stets in Spielräumen auslegbaren Zeichen, die die traditionelle Voraussetzung einer allgemeinen und gleichen Vernunft und ein auf sie gegründetes Menschenbild obsolet machen (III), die Lehrdichtung Also sprach Zarathustra, in der Nietzsche zuletzt sein zentrales Werk sah und deren Lehren und Lieder erst als Anti-Lehren kohärent verständlich werden (IV), seine Ethik, die eine eine selbstbezügliche und dadurch gesteigerte Moral im Umgang mit Moral eröffnet (V), und schließlich die Zukunft von Nietzsches Philosophie, wie er selbst sie sich dachte – als Schicksal der Menschheit – und wie sie sich bis heute abzeichnet (VI). In den Band aufgenommen wurden – mit Ausnahme des Beitrags zu Nietzsches Verzeitlichung des Denkens – nur Studien, die nicht in die genannten Monographien eingegangen sind, sie also ergänzen.

Mit der Philosophie der Fluktuanz wollte ich zeigen, wie sich die Philosophie in Deutschland an der Wende zum 20. Jahrhundert von einer an Kant und Hegel orientierten Philosophie der Vernunft in eine Philosophie der Zeit gewandelt hat und die vermeintlichen, noch von Aristoteles her gedachten Substanzen in Fluss kamen, zu ,Fluktuanzen‘ wurden, mit der Werkinterpretation zu Nietzsches Genealogie der Moral, wie Nietzsche aus dem Konzept der Flüssigkeit des Sinns die Ethik neu aufrollte. An der Interpretation des V. Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, das nach Also sprach Zarathustra und Jenseits von Gut und Böse und vor den Abhandlungen Zur Genealogie der Moral erschien und zu Nietzsches dichtestem, reifstem, philosophisch aufschlussreichstem und zugleich schriftstellerisch raffiniertestem Werk wurde, wollte ich herausarbeiten, wie Nietzsches Denken zu einem unbefangenen und produktiven Umgang mit dem Nihilismus in der Gegenwart befreien kann. Luhmann meets Nietzsche sollte dafür den Beweis antreten: Danach brachte Niklas Luhmann, der sich selbst betont auf Distanz zu Nietzsche hielt, mit seiner soziologischen Systemtheorie, die auch die wichtigsten Errungenschaften der Philosophie einbezieht, Nietzsches weitgehend in Aphorismen vorgetragene neue philosophische Grundentscheidungen in die Form einer Theorie vom Rang der hegelschen, die er aber nun so anlegte, dass sie selbst im Fluss bleiben und mit der Zeit gehen kann. Damit schloss sich der Kreis.

Die wichtigsten Punkte meiner aktuellen Nietzsche-Interpretation habe ich in meiner Einführung von 2011 zusammengefasst. Dort bin ich, wovon in dieser Sammlung nur wenig die Rede sein wird, auch auf Nietzsches persönliche Erfahrungen eingegangen, soweit sie für seine Philosophie relevant sein können, auf seine breiten Anschlüsse über die Philosophie hinaus, auf die vielfältigen und für den Sinn seiner Texte oft ausschlaggebenden Formen seiner philosophischen Schriftstellerei, auf seine nach wie vor herausfordernden Erwartungen an die philosophische Sensibilität seiner Leser(innen) und auf die von ihm selbst geltend gemachten methodischen Voraussetzungen, ihn zu lesen.

Seit den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts hat die Nietzsche-Forschung exquisite Mittel bereitgestellt, um Nietzsches Texte seriös zu erschließen. Um nur die wichtigsten von ihnen dankbar zu nennen: nach der historisch-kritischen Edition der Werke und Briefe Nietzsches durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari in der Kritischen Gesamtausgabe (KGW) die neue Edition des späten Nachlasses in differenzierter Transkription, die sogenannte KGW IX, unter maßgeblicher Leitung von Marie-Luise Haase, einer früheren Mitarbeiterin von Mazzino Montinari, die elektronische Bereitstellung von Nietzsches Schriften und Notaten in der Digital critical edition of the complete works and letters (nietzsche source) unter Leitung von Paolo D’Iorio, das von der Nietzsche Research Group der Niederlande unter Leitung von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens herausgegebene Nietzsche-Wörterbuch, die Erfassung von Nietzsches persönlicher Bibliothek unter Leitung von Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio, Maria Cristina Fornari, Francesco Fronterotta, Andrea Orsucci und Renate Müller-Buck, die Zusammenführung von Nietzsches philosophischen Lektüren zu seinem Philosophical Context durch Thomas H. Brobjer, die von der Stiftung Weimarer Klassik / Herzogin Anna Amalia Bibliothek unter Leitung von Erdmann von Wilamowitz-Moellendorf herausgegebene und laufend aktualisierte Weimarer Nietzsche-Bibliographie, die ebenso übersichtliche wie tiefdringende Aufarbeitung der französischen, italienischen und anglophonen Nietzsche-Forschung in den für das neue Nietzsche-Verständnis entscheidenden Jahren von 1960 - 2000 durch Alfons Reckermann (eine vergleichbare Aufarbeitung für die deutschsprachige Nietzsche-Forschung wird vorbereitet) und schließlich der seit 2012 erscheinende vielbändige von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Jochen Schmidt und Andreas Urs Sommer herausgegebene (und zu großen Teilen auch verfasste) Historische und kritische Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Sie ermöglichen nun zusammen mit inzwischen zahlreichen Jahrbüchern und Zeitschriften der Nietzsche-Forschung, Nietzsche-Indices, -Handbüchern und -Lexika sorgfältige kontextuelle Interpretationen, wie sie inzwischen zum Standard geworden sind. Er verlangt nun, statt aus Nietzsches Texten wahllos ,Stellen‘ herauszugreifen und zu eigenen Texten zusammenzustellen, die von ihm selbst veröffentlichten oder zur Veröffentlichung vorgesehenen, also von ihm autorisierten Schriften von den Notaten zu unterscheiden, durch die er sie vorbereitete und in denen er oft starke weitere Folgerungen zog und die er zu einem erheblichen Teil für sich behielt, ferner die Chronologie seiner Schriften zu beachten, in der erkennbar wird, wie er, ebenso unauffällig wie erstaunlich konsequent, aber ohne sie zu systematisieren, seine leitenden Begriffe weiterentwickelte, und schließlich auch in der Nietzsche-Interpretation dem hermeneutischen Grundsatz zu folgen, Widersprüche oder Ambivalenzen, die man im interpretierten Werk wahrzunehmen glaubt, nicht ihm, sondern den eigenen, möglicherweise noch unzureichenden Interpretationen zuzuschreiben.1

Der Titel der Sammlung Europa im Geisterkrieg ist riskant. Er spiegelt die Dramatik jeder – auch und gerade jeder seriösen – Auseinandersetzung mit Nietzsche. Nietzsche hatte stets die „Menschheit“ im Ganzen im Auge, aber stets aus europäischer Sicht. Gleichwohl verstand er Europa mehr als Kultur denn als Kontinent, geprägt von einer Vielfalt und Uneinigkeit, die über Jahrtausende hinweg zu kriegerischen, aber auch geistigen Auseinandersetzungen führten, die seine Kultur stetig, wie Nietzsche sich ausdrückte, „steigerten“, in dem Sinn, dass es zu immer komplexeren Selbstreflexionen und differenzierteren politischen Neuordnungen gezwungen war und zugleich in Wissenschaft und Technik produktiver und innovativer wurde als bisher jeder andere Kontinent. Europa, das meist offen für andere Kulturen war, exportierte die seine, zunächst in den Eroberungszügen der Römer und Alexanders des Großen, dann auf dem Weg der Mission und der Kolonialisierung, und mit der rasanten Entwicklung neuer Verkehrs- und Kommunikationsmittel zu Nietzsches Zeit zeichnete sich für ihn das ab, was wir inzwischen die Globalisierung nennen. Er sah die „Aufgabe“ der europäischen Kultur, die in den historisch weniger belasteten USA besonders erfolgreich zu werden begann, nun darin, ihre Durchdringung der Welt geordnet zu gestalten und in diesem Sinn, nicht auf dem Weg einer militärischen Eroberung und auch nicht einer merkantilen Beherrschung des Rests der Welt, „Herrin der Erde“ zu werden. Das nannte er zuletzt, 1888, die „große Politik“ des „Geisterkriegs“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 1).2

Die Formulierungen sind heute natürlich umstritten und bedürfen darum einiger Erläuterung. Nietzsche ging es, wie er in längeren Aufzeichnungen aus dem Jahr 1885, in dem Jenseits von Gut und Böse entstand, ausdrücklich festhielt, bei der „Verwaltung“ der Erde nicht mehr um Völker und auch nicht um Rassen:

Es naht sich, unabweislich, zögernd, furchtbar wie das Schicksal, die große Aufgabe und Frage: wie soll die Erde als Ganzes verwaltet werden? Und wozu soll ,der Mensch‘ als Ganzes – und nicht mehr ein Volk, eine Rasse – gezogen und gezüchtet werden? (Nachlass 1885, 37[8], KSA 11.580)

Wenn er von „Züchtung“ sprach, dachte er in der Hauptsache an die „Erziehung des Menschengeschlechts“, wie sie die europäische Philosophie seit je im Auge hatte, eine Erziehung vor allem durch „gesetzgeberische“ Moralen und Religionen, die nun freilich fragwürdig geworden waren. Um hier Neues zu schaffen, schienen ihm „Menschen des großen Schaffens“ vonnöten, die neue Wertungen so plausibel machen können, dass man sich auf lange Zeit fraglos an sie hält, und die auf diese Weise wie „Befehlende und Gesetzgeber“ wirken (JGB 211). In Europa war das etwa Sokrates und Christus, Aristoteles und Paulus gelungen. Nun fehlten solche Menschen sichtlich, und man müsse, so Nietzsche, begreifen, warum sie fehlen: weil einem Schaffen, wie er es sich dachte, die „Heerdenthier-Moral“ entgegenstehe,

welche mit allen Kräften das allgemeine grüne Weide-Glück auf Erden erstrebt, nämlich Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens und zu guterletzt, „wenn alles gut geht“, sich auch noch aller Art Hirten und Leithammel zu entschlagen hofft (Nachlass 1885, 37[8-9], KSA 11.581-584).3

So erwartete er einen Wandel „des Menschen“ erst von „langem Druck und Zwang“: zuerst müsse „die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure wachsen, seine Erfindungs- und Verstellungskraft unter langem Druck und Zwang sich emporkämpfen, sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht und zur Übermacht gesteigert“ werden und „Gefahr, Härte, Gewaltsamkeit, Gefahr auf der Gasse u<nd> im Herzen, Ungleichheit der Rechte, Verborgenheit, Stoicismus, Versucher-Kunst, u<nd> Teufelei jeder Art“ herrschen.4 Solche Formulierungen lassen heute noch mehr schaudern als zu Nietzsches Zeit. Aber die Gefahren, wie er sie beschrieb, traten im 20. Jahrhundert ja tatsächlich ein und könnten auch im 21. Jahrhundert in anderen Gestalten weiter bestehen und damals wie heute von einer begütigenden, aber offenbar immer weniger überzeugenden Moral überschminkt sein. Und nun wird auch, in weit komplexeren ökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtungen, als die Welt sie jemals kannte, wo immer möglich forciert auf Erziehung und Bildung gesetzt, um die Menschheit instand zu setzen, ihnen gerecht zu werden. Auch Moralen und Religionen wirken dabei weiter. Die Erziehungs- und Bildungsprozesse aber führen sichtlich zu starken neuen Differenzierungen unter den Menschen, nun nicht mehr nur zwischen Arm und Reich, wo im Interesse sozialer Balance noch politischer Ausgleich möglich ist, sondern auch und vor allem zwischen den Fähigkeiten, die gesteigerte Komplexität der Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Technik für die Mehrung des eigenen Wohlstands zu nutzen. Es entstehen unvermeidlich neue Eliten – Nietzsche nennt sie in seinem Notat „aller Art Hirten und Leithammel“ und beschreibt sie so, wie sie jetzt populistisch bekämpft werden: Sie müssten „durch viele Geschlechter verbürgt“ sein, um ihrerseits die nötige Weit- und Umsicht mitzubekommen, in Generationen des Lernens, nicht mehr wie im alten Adel des Blutes; zu ihnen haben nun, zum einen durch die „unaufhaltsame Demokratisirung“ der Gesellschaft (MA II, WS 275), zum andern durch die neuen Informationskanäle alle Schichten der Gesellschaft und alle Völker der Welt wachsenden Zugang, und die Aufgaben der kommenden Weltgesellschaft können, was Nietzsche noch nicht absehen konnte, inzwischen aber wahrscheinlicher wird, auch durch „Parlamentarismus“ und im „Wechsel der Parteien“ gelöst werden. Wenn er auf Einzelne und auf eine „Kaste“ setzte, die solche Einzelne und unter ihnen „die zukünftigen Herren der Erde“ hervorbringen werde,5 so war ihm doch klar, dass eine Moral, die das stützen würde, nur „in Anknüpfung an das bestehende Sittengesetz und unter dessen Worten und Anscheine“ möglich werde – heute spricht man hier von ,political correctness‘. So seien erst einmal „viele Übergangs- und Täuschungsmittel zu erfinden“, um eine „Umkehrung der Werthe für eine bestimmte starke Art von Menschen höchster Geistigkeit und Willenskraft vorzubereiten und zu diesem Zwecke bei ihnen eine Menge im Zaum gehaltener und verläumdeter Instinkte langsam und mit Vorsicht zu entfesseln“ – „höchste Geistigkeit und Willenskraft“ für Gestaltungsaufgaben der künftigen Weltgesellschaft, nicht für die Vorbereitung von Weltkriegen.6 Was Europa daran hinderte, sich solchen Aufgaben zu stellen, war zu Nietzsches Zeit vor allem seine fortdauernde Kleinstaaterei und die mit ihr im 19. Jahrhundert verbundenen Nationalismen, die damals noch immer neue große und kleine militärische Auseinandersetzungen in Europa selbst heraufbeschworen und schließlich den I. Weltkrieg auslösten. Und doch sah er „es langsam und zögernd sich vorbereiten – […] das Eine Europa“, die Überwindung der „nationalen Beschränktheit der ,Vaterländer‘“, zu der schon die ökonomischen Gründe zwängen, der „Weltverkehr und Welthandel“, den England und Holland nicht mehr lange alleine verteidigen könnten und tatsächlich auch nicht konnten. Dann aber gebe es „gute Aussichten“, um in den „Kampf um die Regierung der Erde einzutreten“ (Nachlass 1885, 37[8-9], KSA 11.581-584). In der „prachtvollen Spannung des Geistes“, die Europa erzeugt habe und die so „auf Erden noch nicht da war“, könnten die „guten Europäer und freien, sehr freien Geister“, wie Nietzsche dann in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse schrieb, „nach den fernsten Zielen schiessen“. Und wenn er im V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft erneut zu der herausfordernden Formulierung griff, „dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben, kurz dass wir in’s klassische Zeitalter des Kriegs getreten sind,“ so sprach er auch hier, anders, als es das 20. Jahrhundert tatsächlich brachte, ausdrücklich von einem Zeitalter „des gelehrten und zugleich volksthümlichen Kriegs im grössten Maassstabe“, nämlich „der Mittel, der Begabungen, der Disciplin“. Er ordnete hier, wie auch schon in den zuvor zitierten Notaten, die „nationale Bewegung“, in der die „Kriegs-Glorie“ des 19. Jahrhunderts entstand, als „Gegen-choc gegen Napoleon“ ein, der wie Nietzsche selbst „das Eine Europa wollte, wie man weiss, und dies als Herrin der Erde“ (FW 362). Hierin, heißt es dazu wiederum in einem vorbereitenden Notat, „wird das nächste Jahrhundert in den Fußtapfen Napoleons zu finden sein, des ersten und vorwegnehmendsten Menschen neuerer Zeit.“ (Nachlass 1885, 37[9], KSA 11.584) Doch Napoleon hatte wohl zukunftsweisende politische und rechtliche Ordnungen in Europa geschaffen, dazu aber eben das Mittel des nationalen Krieges ins Leben gerufen. Diesen Widerspruch hat Nietzsche nicht mehr aufgelöst. Es war der Widerspruch Napoleons selbst, und einen, der Napoleon ebenbürtig gewesen wäre, sah Nietzsche und sahen auch seine Zeitgenossen nicht. Unsere Zeit hat, ernüchtert mit Nietzsche, aber auch ernüchtert von Nietzsche, den Widerspruch nun neu zu lösen. Nachdem die Globalisierung der Kultur Europas weit fortgeschritten ist und dabei längst andere zu politischen Herren der Erde geworden sind und die Vereinten Nationen, in deren Charta Europas alte Ideale eingegangen sind, allzu oft das Nachsehen haben, muss Europa erst noch lernen, wie es zur Orientierung der Welt auch im Nihilismus beitragen kann, gerüstet durch die Geisterkriege, die es schon durchgestanden hat.

Der Geisterkrieg setzte sich, mit moderaten wissenschaftlichen Mitteln, auch in der internationalen Nietzsche-Forschung fort. Abschließende Erkenntnisse und Einigkeit waren nicht zu erwarten; der Pluralismus in der Erkundung seines Werks kann sich auf Nietzsches eigenen erklärten Perspektivismus berufen. So stehen auch den Interpretationen der hier wiederabgedruckten Studien weiterhin andere gegenüber. Der berüchtigte gap zwischen der ,kontinentaleuropäischen‘ und der ,angelsächsischen‘ Nietzsche-Forschung ist vielleicht ein wenig schmaler geworden. Doch vorerst scheint die kontinentaleuropäische Nietzsche-Forschung zum einen noch zu philosophisch tiefer ansetzenden Interpretationen bereit zu sein als der maßgebliche Strom der angelsächsischen Nietzsche-Forschung, in dem weiter an Ontologien, Axiologien und Systemen gebaut wird, die Nietzsches erklärte philosophische Abgründigkeit abfangen sollen; und während dort ebenfalls intensiv an der Erschließung von Nietzsches historischen Quellen und Kontexten gearbeitet wird, hat, verständlicherweise, da seine Sprache dort fremd ist, die Erforschung der „feineren Gesetze [s]eines Stils“ (FW 381) noch wenig Schule gemacht; man zitiert auch immer noch gern, auf Englisch, aus dem in Europa längst obsoleten angeblichen Hauptwerk Nietzsches, The Will to Power. Zugleich aber beeindruckt die angelsächsische, insbesondere die US-amerikanische Nietzsche-Forschung durch ihre tiefe Ernsthaftigkeit und ihren ungebrochenen Erkenntniswillen. Die Forschungsansätze und -richtungen in anderen Ländern und Sprachen sind zu vielfältig, als dass ich sie hier auch nur aufzählen könnte. Auch wenn sie so weiterhin einem Seiltanz über einem Abgrund gleicht, bei dem oft genug Possenreißer die Seiltänzer überspringen, scheint mir die Nietzsche-Forschung im Ganzen, die ich als langjähriger Mitherausgeber des internationalen Jahrbuchs der Nietzsche-Studien und der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung unmittelbar begleiten durfte, weiter auf einem guten und das heißt im Fall Nietzsches immer auch riskanten Weg zu sein.

Es bleibt, eine Übersicht über die folgenden Beiträge und ihre Zusammenhänge untereinander zu geben, verbunden mit Hinweisen, worin die Nietzsche-Forschung, auch meine eigene, weitergegangen ist. Vielsprachig und ungeheuer verzweigt, wie sie inzwischen ist, kann freilich auch ich sie nicht entfernt übersehen. Die wichtigsten philosophischen Anregungen, die in diese Beiträge eingingen, habe ich im 1. Abschnitt des 20. Beitrags umrissen.

Wahrheit war seit je ein, wenn nicht das Hauptthema der Philosophie. Das I. Kapitel dieses Bandes Wahrheit und Philosophie umreißt, wie Nietzsche beide von Grund auf neu bestimmt hat. Die beiden hier wiederabgedruckten Studien von 1985 bzw. 1990 sollten, wie auch die weiteren, zeigen, wie Nietzsches oft spektakulär neue Begriffe und Differenzen auf traditionelle Bestimmungen antworten, sie überwinden und neu ordnen, mit anderen Worten: die Kontinuität in der Diskontinuität herausarbeiten, auf die es Nietzsche in der Philosophie anlegte.

Der 1. Beitrag: Nietzsches Neubestimmung der Wahrheit, zugleich meine erste Abhandlung zu Nietzsche, greift auf Aristoteles und Hegel zurück. Er geht davon aus, dass sich Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsthema im Wesentlichen von Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn bis zum Spätwerk durchhält, ebenso in den veröffentlichten Schriften wie in den Nachlass-Notaten, und setzt bei einem Notat aus der Mitte von Nietzsches Werk an, nach dem es das „Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie“ ist, „daß wir die Wahrheit nicht haben“ (Nachlass 1880, 3[19], KSA 9.52). Das war schon seit Descartes und spätestens seit Kant klar. Doch dadurch, dass Hegel den Begriff der Wahrheit – wie schon Descartes den des Denkens und Kant den der Vernunft – selbstbezüglich verwendete, konnte er, weiter mit dem Anspruch auf Wahrheit, unterschiedliche Gestalten der Wahrheit unterscheiden und auch ihre eigene Negation zulassen. So brachte er die Wahrheit als Wahrheit der Wahrheit in Bewegung, und Nietzsche konnte, wie er selbst sah, hier anschließen. Sein Bruch in dieser Kontinuität war, der Bewegung nun keine logische Notwendigkeit mehr zu unterstellen und das Philosophieren stattdessen nur noch auf die persönliche und seltene Tugend rückhaltloser Wahrhaftigkeit oder Redlichkeit zu stützen. Aristoteles hatte hier vom Prozess des „Wahrheitens“ (aletheúein) gesprochen. Statt jedoch wie er in der Wahrheit noch etwas Allgemeines, an sich Bestehendes, Unbedingtes vorauszusetzen, stellte Nietzsche sie jetzt – einschließlich der Wahrheit(en) der Wahrheit(en) – unter die Bedingungen von Leib, Leben und Geschichte, die sie immer neue individuelle Gestalten annehmen lassen, und verstand die aristotelische metaphysische Wahrheit, an die bis heute gerne geglaubt wird, als lebensnotwendigen Irrtum, logisch also aus ihrem Gegensatz. Auch so ist Wahrheit weiterhin möglich, nun in der Beziehung von Irrtümern aufeinander. Sie erfordert dann aber jeweils die Klärung der „Horizontlinien unsrer Erkenntniß“ (Nachlass 1886/87, 5[3], KSA 12.185). Die nicht unbedingten, sondern bedingten, nicht unbewegten, sondern geschichtlichen, nicht ursprünglich gegebenen, sondern geschaffenen Wahrheiten – Nietzsche gebraucht hunderte von Malen den Plural – sind dann zugleich leiblich und bewusst, zugleich individuell und allgemein und, als Wahrheit(en) der Wahrheit(en), zugleich widerspruchsfrei und mit sich im Widerspruch oder, nach traditionellen Begriffen, zugleich wahr und scheinbar oder „Wahrheiten“ und „Lügen“. Das heißt: der Prozess des Wahrheitens, einschließlich des redlichen Philosophierens, treibt mit jeder Wahrheit unvermeidlich zugleich Unwahrheiten hervor. Man kommt mit dem Wahrheiten nicht zu einem Ende.

Das hat sich, wenn man so will, weiterhin bewahrheitet, und der Umkreis der genannten Bestimmungen der Wahrheit ist, soweit ich es erkennen kann, bisher nicht mehr überschritten worden. Die Einschränkung der Wahrheitsfrage auf Erkenntnistheorie, die Frage nach der richtigen Referenz auf vorgebene Gegenstände, hatte Nietzsche selbst schon, auch im Blick auf Kant und Hegel, als zu eng betrachtet. Umso mehr entstanden vielfältige Anschlussfragen, nach Quellen von Nietzsches Wahrheitsverständnis einerseits und nach dessen Einfluss auf Spätere andererseits, aber auch, vor allem in der angelsächsichen Forschung, nach dem unterschiedlichen Wert der einen Wahrheit gegenüber der anderen und nach dem logisch-ontologischen Status wiederum von Nietzsches Wahrheit über die Wahrheit(en). Versteht man mit Paradoxien zu arbeiten, was sich im Beitrag erst andeutet, kann man die selbstbezüglichen Wahrheit(en) der Wahrheit(en) als logisch paradoxe entfalten: als solche machen sie zugleich Selbstbestätigung und Selbstwiderspruch denkbar; sie eröffnen in Nietzsches Begriffen „unendliche Interpretationen“ (FW 374), die jetzt vorwiegend unter dem Stichwort Perspektivismus diskutiert werden. Den Bezug der Wahrheit(en) zu den stets interpretationsfähigen Zeichen habe ich in einem späteren Beitrag aufgegriffen (7.). Mit der Erwartung verbindlicher Interpretationen der Zeichen kommt die Frage nach dem „socialen Bedürfniß“ eines „Glaubens an die Wahrheit“ auf, einer Wahrheit, die alle miteinander teilen können; man hat dann, wie Nietzsche schon früh notierte, nach „Metastasen“ dieses Glaubens an die Wahrheit zu fragen, die sich auch dort bilden, „wo sie nicht nöthig ist.“ (Nachlass 1872/73, 19[175], KSA 7.473) Damit ist Therapie gefordert, und bei Philoso-ph(inn)en ist das die Selbstprüfung: ob und wie weit die jeweiligen Nietzsche-Interpret(inn)en Nietzsches Wahrheiten aushalten können (JGB 39; EH, Vorwort 3).

Denn wer Nietzsche interpretiert, muss sich zugleich seiner Neubestimmung der Philosophie stellen, der wohl anspruchsvollsten in der Geschichte der Philosophie zu einer Zeit, als sie sich selbst fragwürdig geworden war. Bis heute entscheidet sich an ihr, ob und wie weit man Nietzsche als Philosophen überhaupt ernstnehmen will. Der 2. Beitrag setzt bei der Aufgabe einer weiteren Steigerung der europäischen Kultur an, die Nietzsche der Philosophie schon früh stellte und nach der die Philosophie nicht nur die Religionen, Moralen und Wissenschaften übergipfeln, sondern dem Leben der Menschen im Ganzen ein neues Maß, ja „Gesetz“ geben und die Menschheit daraufhin erziehen sollte. Das wird, jenseits der ideologischen Kämpfe, denen die Philosophie sich dadurch aussetzt, plausibler, wenn man mit Nietzsche von der Maß- und Haltlosigkeit des Lebens ausgeht, an der Menschen nach dem „Tod Gottes“ zu leiden hatten, der ihnen eine letzte Wahrheit verbürgt und mit ihr einen obersten Wert garantiert hatte; sie erforderte – aus der Sicht eines Philosophen wie Nietzsche – einen Neuaufbau des Lebens von Grund auf, nun unter den Bedingungen der Zeitlichkeit und der Entscheidbarkeit durch die Menschen selbst. Das konnten nach Nietzsche aber eben nur seltene Einzelne leisten, deren „Größe“ in einer überragenden Orientierungs-, Entscheidungs-, Willens- und Gestaltungskraft liegen sollte. So bestimmte er die Philosophie nicht mehr nur von ihrem Drängen auf die Wahrheit (der Wahrheiten), sondern zugleich von den Begriffen Zeit, Maß, Kunst, Größe, Politik und Tragik her. Tragisch ist die Philosophie, weil ihr „Wahrheitspathos in einer Lügenwelt“ zustandekommt, einer Lügenwelt auch „in den höchsten Spitzen der Philosophie“ (Nachlass 1872/73, 19[218], KSA 7.488).

Inzwischen hat die Nietzsche-Forschung – auch meine eigene – in Nietzsches Neubestimmung der Philosophie stärker seine Konzepte einer fröhlichen Wissenschaft und deren schriftstellerische Gestaltung zur Geltung gebracht, seinen vorherrschenden Willen zur Therapie von der „Schwere des Geistes“ und die Bedingungen der Einsamkeit und der Wanderschaft des Philosophen, der sich von der Gesellschaft distanzieren muss, um ihre Werte zu Gesicht zu bekommen. Dadurch wird freilich noch schwerer greifbar, was das Philosophische der Philosophie über das „Wahrheiten“ hinaus ausmacht, und die Vermutung ist gewachsen, dass sie vor allem von dem Pathos lebt, mit dem sie alltäglich gebrauchte Begriffe umgibt, um ihnen grundlegende oder gründstürzende Bedeutung zu geben – beim späten Heidegger trat das dann noch schärfer hervor, der späte Wittgenstein arbeitete unentwegt dagegen an. Nietzsche hat das Pathos ins Heroische gesteigert, das weiterhin fesseln mag, im 21. Jahrhundert aber sichtlich weniger überzeugt und nüchternen Beobachtungen weicht, in Gestalt der historischen und interdisziplinären Kommentierung seiner Schriften auf der einen, in Gestalt von Philosophien, die bei einer nüchternen Beobachtung des Philosophierens selbst ansetzen, auf der andern Seite. Man wird auch hier sehen müssen, wieweit Nietzsches Neubestimmung der Philosophie aus solchen Perspektiven tatsächlich einholbar ist – oder ob sie der Geschichte überlassen werden soll.

Die folgenden Beiträge gehen auf Nietzsches Erneuerung der Philosophie selbst ein. Sein entschiedenster und wirkungsvollster Schritt dabei dürfte seine Grundentscheidung gewesen sein, alle Begriffe der Philosophie und das Denken als solches rückhaltlos der Zeit auszusetzen. In seinem ersten Aphorismen-Buch, Menschliches, Allzumenschliches, bildete er dazu programmatisch den Gegensatz von „metaphysischer“ und „historischer Philosophie“ (MA I 1) – von diesem Gegensatz handeln die Beiträge des II. Kapitels: Zeit, Evolution und Verzeitlichung des Denkens.

Im 3. Beitrag: Zeit der Vorstellung. Nietzsches Vorstellung der Zeit, der 1987 erschien, habe ich versucht, zunächst sein Denken der Zeit selbst zu klären, die an der Wende zum 20. Jahrhundert zu einem der bedeutsamsten Themen nicht nur der Philosophie, sondern auch der Wissenschaften und der Literatur wurde. Im Beitrag geht es nicht um die Frage nach einer linearen oder zyklischen Zeit, die im Blick auf den Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen immer wieder gestellt wurde und wird, und auch nicht um die „Zeitatomenlehre“, die Nietzsche eine Zeit lang erwogen und dann fallen gelassen hat, sondern um die Zeit, in der alles, auch Vorstellungen, Begriffe und Ordnungen der Zeit selbst, seine Zeit hat (M 3), also um ein selbstbezügliches Verständnis auch der Zeit. Die Zeit, in der alles seine Zeit hat, ist, so mein Vorschlag, eine „andere Zeit der Zeiten“, die nicht mehr begrifflich bestimmbar und mathematisch messbar, aber sehr wohl im unentwegten Anders-Werden der Welt erfahrbar ist; Nietzsche brachte dieses Anders-Werden, in dem sich ohne vorgegebene Gesetze alles mit allem unentwegt auseinandersetzt, auf die Formel des Willens zur Macht. Diese andere Zeit der Zeiten bringt, indem sie alles, auch alle Bestimmungen der Zeit, der Kontingenz aussetzt, in lebendigen Wesen eine besondere Sensibilität für die „rechte Zeit“, den günstigen „Augenblick“, hervor, in dem vielfältige Bedingungen zufällig zu etwas nur so Möglichem zusammentreffen. Dazu gehören für Nietzsche etwa Tageszeiten wie die Morgenröte, der hohe Mittag, der Nachmittag, die Dämmerung, denen er so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, die Rhythmen des Gehens und Tanzens, Sprechens und Schreibens oder auch der Umgang mit Vergangenheit und Zukunft in jeweils spezifischen Situationen. Die metaphysischen Vorstellungen der Zeitlosigkeit und die gemessenen Zeiten der Natur- und der Geschichtswissenschaften verdecken leicht solche ursprünglichen und weiterhin lebendigen Zeiterfahrungen, und auch der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist, weil sie, wenn tatsächlich alles gleich wiederkehren würde, gar nicht bemerkbar wäre, eine metaphysische Vorstellung der Zeit. Sofern sie zugleich Gleichzeitigkeit (als Ewigkeit) und Ungleichzeitigkeit (als Wiederkehr) unterstellt, ist sie nicht einmal vorstellbar – und darum, so die These am Ende des Beitrags, eine strategische Vorstellung Nietzsches gerade zum Scheitern des Vorstellens der Zeit.

In der weiteren, besonders wiederum der anglo-amerikanischen Forschung wurde versucht, aus verschiedenen Vorstellungen Nietzsches von der Zeit wieder eine kohärente Theorie zu konstruieren. Man kann aber auch und gerade hier bei der Paradoxie als Denkmittel ansetzen: Wird, was in der Antike bereits klar war, die Zeit gedacht, festgestellt, geordnet, gemessen, wird sie dadurch auch schon entzeitlicht, und nach Aristoteles ist bekanntlich ,jetzt‘ zugleich immer dasselbe und immer ein anderes. Seit Luhmann aber kann man die Zeit von der Unterscheidung selbst her als Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit (beider Seiten der Unterscheidung) und Ungleichzeitigkeit (der Bezeichnung von etwas durch jeweils eine der beiden Seiten der Unterscheidung zu jeweils einer Zeit) verstehen. Die Paradoxie hat sich, ohne dass sie als solche verstanden worden wäre, in einer Art negativen Chronologie weiter ausbuchstabieren lassen, am Ressentiment gegen die Zeit, an der gleichzeitigen Feststellbarkeit und Unfeststellbarkeit des Menschen in seiner Evolution, an der Unaufhaltsamkeit, mit der nach Nietzsche die Demokratisierung Europas und zugleich ihre Gegenbewegung kommen wird, oder auch am Gedanken des Übermenschen, der sich eines Tages souverän auf die Zeitlichkeit aller Dinge und Begriffe einlassen kann. Sie ist auch im Gedanken des Nihilismus aufgenommen, sofern nach ihm nichts auf ewig Bestand hat – außer dass er selbst, so Nietzsche, „ein normaler Zustand“ ist (Nachlass 1887, 9[35], KSA 12.350), und im Gedanken der Evolution selbst, die in der Zeit abläuft, aber keine bestimmte Zeitvorstellung voraussetzt. Nietzsche hat aber auch emphatisch von seiner Liebe zur Ewigkeit (was nicht schon heißt zur ewigen Wiederkehr des Gleichen) gesprochen, und es wäre zu klären, was dies für die Liebe, die Ewigkeit, vor allem aber für die Zeit bedeutet.

Nietzsches Stellung zu Darwins Evolutionstheorie, die zu seiner Zeit noch hoch umstritten war und inzwischen als eine der bestbestätigten und umfassendsten wissenschaftlichen Theorien gilt, gehört zu den ältesten Themen der Nietzsche-Forschung. Der 4. Beitrag dieser Sammlung, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, geht davon aus, dass Nietzsche es war, der – nicht einfach das, was damals als Darwinismus galt, sondern – den Evolutionsgedanken als solchen, der auf die Selektion von Individuen durch Individuen und individuelle Umstände setzt, am entschiedensten und folgenreichsten in die Philosophie aufnahm. Für Nietzsche stand mit dem Evolutionsgedanken der philosophische Begriff des Begriffs auf dem Spiel, den Aristoteles noch an der vermeintlichen Konstanz der allgemeinen „Form“ einer biologischen Art ausgebildet hatte und der nun durch den Evolutionsgedanken seinen Halt verlor. Auch alles Allgemeine hat seine Zeit, und für Nietzsche (und schon für Kant) gibt es in der Natur kein Allgemeines, das wir nicht in sie hineintragen. Der Beitrag sollte anhand von Nietzsches Texten einerseits, hier vorwiegend seiner einschlägigen Nachlass-Notate, und anhand des Standardwerks Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt von Ernst Mayr, dem Begründer der im 20. Jahrhundert maßgeblich gewordenen „Synthetischen Evolutionstheorie“, andererseits nachweisen, dass Nietzsche gerade mit dem, was er für kritische Einwände gegen Darwins Theorie hielt, vieles vorweggenommen hatte, worin sie sich später weiterentwickelte. Dazu gehört insbesondere der Verzicht auf den Artbegriff zugunsten des Populationsbegriffs, auf das Anpassungstheorem zugunsten des Selektionstheorems und auf das Selbsterhaltungskonzept zugunsten des Vermehrungs- oder Steigerungskonzepts und die philosophisch ebenso interessante Möglichkeit des Funktionswandels von Organen. Nietzsches berühmtes, von William Henry Rolph aufgenommenes Argument, dass es beim struggle for life, wie Darwin ihn nannte, nicht um Notlagen, sondern um Überfluss gehe, ist im evolutionstheoretischen Grundgedanken, dass die Selektion an einer Redundanz von Variationen ansetzt, schon unspektakulär enthalten. Nietzsche empörte sich jedoch zu Recht gegen den „Darwinismus“, wo man aus ihm eine Moral, den Sozialdarwinismus, ableiten wollte, und setzte dem seine eigene Ethik entgegen.

Die weitere, ebenfalls vor allem anglo-amerikanische Forschung hat das, soweit sie ihrerseits bereit war, philosophische Folgerungen aus Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus zu ziehen, mit umfangreichen Monographien im Prinzip bestätigt. Man ging sogar so weit, Nietzsche einen systematischen New Darwinism zuzuschreiben, der sich dann auch wieder, vor allem im Blick auf Darwins Versuch, Moral als evolutionären Vorteil zu betrachten, als Anti-Darwinism darstellen ließ. Das Hauptgewicht der Forschung lag und liegt hier jedoch bei den Quellen, die Nietzsche für seinen (Anti-)Darwinismus nutzte. Weitgehend einig ist man sich inzwischen darin, dass Nietzsche mit Darwin teilte, was man heute Evolutionismus nennt, und dass er umso mehr, wie so oft, fürchtete, mit ihm verwechselt zu werden. Ob man aus dem Evolutionismus auch seinen Gedanken des Übermenschen, der gerne als Spitze seines Darwinismus betrachtet wird, hinreichend verstehen kann, scheint mir fraglich (s. den Beitrag 11).

Der 5. Beitrag: Geist. Hegel, Nietzsche und die Gegenwart von 1997, geht die Evolution gleichsam von der Gegenseite her an, vom „Geist“, den Darwin nach Nietzsche „vergessen“ habe (GD, Streifzüge 14). Philosophiegeschichtlich verbindet der Begriff des Geistes Nietzsche mit Hegel, ohne den nach ihm wiederum „kein Darwin“ (FW 357) möglich gewesen wäre. ,Geist‘ war Hegels leitender Begriff, mit dem er über Kant, Fichte und Schelling hinausging; Geist sollte die „Macht“ sein, die alle Wirklichkeit bestimmt, und die Weltgeschichte sein Weltgericht. Während der frühe Nietzsche wie die meisten seiner Zeit solche „Hegelei“ noch bespöttelte, bestimmte der reife Nietzsche die Philosophie erneut als „geistigsten Willen zur Macht“ (JGB 9). Geist ist der Begriff, durch den auch er sich begriff. Denn Geist ist nach Hegel, anders als noch Kants Vernunft, zur „bestimmten Negation“ fähig und bringt die übrigen Begriffe damit in Bewegung; das Bestehen auf festen Begriffen und Standpunkten wird so zum Mangel an Geist. Die „ungeheure Macht des Negativen“ erzeugt einen „bacchantischen Taumel“, den Nietzsche dann „dionysischen Zauber“ nannte. Der Geist „erscheint“ nach Hegel im „versöhnenden Ja“, mit dem Individuen, die alle Begriffe jeweils anders verstehen können, ihre „absolute Diskretion“ anerkennen – ganz im Sinn Nietzsches. Nietzsche übersah das dichte Geflecht von Bezügen zwischen seinen und Hegels Bestimmungen im Einzelnen zwar nicht, aber er sah Hegels „grandiose Initiative“ (Nachlass 1885/86, 2[106], KSA 12.113), die Logik nicht mehr als „Logik an sich“, sondern als „menschliche Logik“, als „einen Spezialfall“, eine „Art Logik“ zu begreifen (FW 357). Ein „,unbewusster‘ Falschmünzer“ wie alle Idealisten (EH, WA 3) blieb er für ihn jedoch darin, dass er der Bewegung ,des‘ Begriffs eine allgemeine Notwendigkeit unterstellte, damit der Zeit zugleich wieder entzog und den Individuen die Verantwortung für die Bewegung ihrer Begriffe abzunehmen schien. Indem Nietzsche die „Verwandlungen“ des „Geistes“ (Za I, Von den drei Verwandlungen) von Leib und Leben abhängig machte,7 dachte er ihn nicht mehr als Geist eines Allgemeinen, sondern als Geist von Individuen, sprach auch von „Geistern“ im Plural und von vielfältigen Weisen von „Geistigkeit“; „hohe unabhängige Geistigkeit“ in diesem Sinn (JGB 201) wurde für Nietzsche zu einem höchsten Wert. Dachte Kant die Vernunft in der Differenz von haltlos und haltgebend und Hegel den Geist in der Differenz von fest und flüssig, so Nietzsche den Geist in der Differenz von schwer und leicht. Geist soll den „Geist der Schwere“, das Festhängen an alten Ressentiments, überwinden. Als Antwort auf die Frage, was das für die Gegenwart bedeutet, skizziert der Beitrag die Umrisse der Philosophie der Orientierung, die dann ein Jahrzehnt später erschien.

Die Forschung zum Hegel-Nietzsche-Problem, die, wie die zum Darwin-Nietzsche-Problem, früh einsetzte, war bis dahin durch gegeneinander verhärtete Hegel- und Nietzsche-Verständnisse geprägt, bekräftigt noch einmal durch Deleuze’ vorschnelle These eines Anti-Hegelianismus bei Nietzsche. Heidegger schlug dann Nietzsche ebenso wie Hegel der Metaphysik zu. Derrida ging in seiner Auseinandersetzung mit Heideggers Gebrauch des Geist-Begriffs (De l’esprit, 1987) wohl auf Hegel und auch auf Nietzsche, aber nicht auf deren Geist-Begriffe ein. In der fremdsprachigen Forschung wurde der Geist-Begriff wenig beachtet, einfach weil er, ein spezifisch deutscher Begriff, sich kaum angemessen übersetzen lässt. Die Forschung zu Nietzsche und Hegel bewegte sich vorwiegend auf spezifischen Themenfeldern wie Gott, Staat, Krieg, Napoleon, Geschichte, der Herr/Knecht- bzw. Herren/Sklaven-Unterscheidung, der Geschlechter-Unterscheidung, Liebe und Tragik. Aber auch Zeit, Nihilismus, Perspektivismus, Dialektik und Selbstaufhebung, Ästhetik, System und Freiheit des Geistes wurden unter diesem Gesichtspunkt weiter diskutiert. Beziehungen zwischen Nietzsche und Hegel wurden auf vielfältige Weise auch über Schopenhauer, Marx und Kierkegaard hergestellt.

Der 6. Beitrag: Nietzsches Verzeitlichung des Denkens von 1996 führt die Fäden der vorausgehenden Beiträge zusammen und wird deshalb, obwohl er auch Teil meiner Werkinterpretation von Nietzsches Genealogie der Moral ist, hier wiederabgedruckt. Zugleich leitet er zum 7. Beitrag: Nietzsches Zeichen über. Er besteht in der Interpretation des Mittel- und, aus meiner Sicht, auch Herzstücks der Genealogie der Moral, GM II 12. Nietzsche stößt dort auf die auffällige Verschiebung des Sinns der Strafgerechtigkeit und nimmt dies zum Anlass, die Differenz von Ursprung und Zweck von „Rechts-Institutionen“ im Allgemeinen auf den Begriff zu bringen; von da aus weitet er die Betrachtung auf Sinnverschiebungen von sozialen Institutionen und schließlich „eines Dings, einer Form, einer Einrichtung“ überhaupt aus. Sie führt Nietzsche zur prägnantesten Formulierung seines Begriffs des Begriffs, dem Begriff des flüssigen Sinns. Er entwickelt ihn hier Schritt für Schritt aus den aristotelischen Begriffen des Wesens, der Form und des Zwecks, gewinnt ihn damit auf eine Weise, die ihm selbst entspricht, also wiederum selbstbezüglich: indem er den metaphysischen Begriff des Wesens schrittweise verschiebt. Dies geschieht über die Begriffe des Anzeichens, des Zeichens und der Zeit, und von hier aus entfaltet er zugleich seinen „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“ – wiederum als „Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden Macht-Willens“. In vorbereitenden Notaten zeigt Nietzsche in dichten phänomenologischen Beschreibungen, wie diesem Geschehen auch das Denken selbst unterliegt. Danach sind auch Denkprozesse zeitliche Macht- und Zeichenprozesse.

Der Beitrag, der ursprünglich aus meiner Philosophie der Fluktuanz hervorging, umreißt den Kern meiner Nietzsche-Interpretation und wurde mit der Werkinterpretation von Zur Genealogie der Moral im Ganzen rezipiert. Im Vordergrund der Interpretationen der Genealogie der Moral steht jedoch meist Nietzsches Kritik der Moral selbst, weniger der neue Begriff des Begriffs, den er dabei entwickelte. Das hat seine Berechtigung darin, dass Nietzsche ,die‘ Moral schon am Grund des Denkens entdeckte und sie nicht mehr nur, wie man es aus der Tradition von Platon bis Hegel gewohnt war, als dessen Leistung betrachtete.

Die Beiträge des III. Kapitels: Verzicht auf ,die Vernunft‘ bei der Bestimmung des Menschen zeigen, wie Nietzsche sich produktiv von der angestammten Annahme einer allgemeinen und gleichen Vernunft der Menschen löste und damit das Verständnis der Erkenntnis, der Aufklärung und des Menschen insgesamt veränderte. Nach dem 7. Beitrag: Nietzsches Zeichen von 2000 ist eine Philosophie des Zeichens, wie Josef Simon sie am Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt hatte, auch schon bei Nietzsche zu finden, natürlich nicht in monographischer Gestalt. Im Hintergrund steht auch hier (und wiederum unausgesprochen) Aristoteles, der Zeichen für Laute in der Stimme, diese für Vorstellungen in der Seele, diese für Gedanken und diese schließlich für die Dinge selbst ansetzte. Wir haben nach Nietzsche jedoch nichts als die Zeichen und leben unvermeidlich in einer „Oberflächen- und Zeichenwelt“ (FW 354). Danach entscheidet nicht nur das Begreifen oder Nicht-Begreifen der Begriffe, sondern auch und vorab das Verständnis oder Missverständnis der Zeichen, in denen sie kommuniziert werden, über das Verstanden- und Nicht-verstanden-Werden überhaupt – auch von Philosophien und zumal der stark auf Zeichen setzenden Philosophie Nietzsches selbst. Er entdeckte die Zeichen als eigenes philosophisches Thema, als er sich klar machte, „dass wir die Wahrheit nicht haben“, erweiterte und vertiefte es Schritt für Schritt, bis er schließlich zu der These vorstieß, um das Verstehen zu Verstehen, müsse man vom „Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses“ ausgehen. Setzt man keine gemeinsame Wahrheit mehr voraus und keine gemeinsame Vernunft, die sie lediglich zu entdecken hätte, wird man „unter lauter Menschen, welche anders denken und leben,“ gerade wenn man glaubt, einander gut zu verstehen, sich in Spielräumen immer auch missverstehen (JGB 27). Diese Spielräume sind nicht definitiv zu schließen, und in der alltäglichen Kommunikation und zumal in der Dichtung will man sie in der Regel auch gar nicht schließen, sondern hält sie – und Nietzsche tat das auf exemplarische Weise – im Gegenteil kunstvoll offen, eben um „anders denken und leben“ zu können. In einem Notat ging Nietzsche so weit, zu postulieren, dass „alle Welt“ dazu da sei, „Zeichen und Gleichniß“ zu sein (Nachlass 1884/85, 31[51], KSA 11.384). Am Ende seines veröffentlichten Werks, in Der Antichrist, verstand er den „Typus Jesus“ so, dass er eben danach gelebt habe – während Nietzsche selbst noch im Schlusskapitel von Ecce homo darum rang, verstanden zu werden: als seinerseits am schwersten verständlicher und darum auch immer missverständlicher „Dionysos gegen den Gekreuzigten“.

Berücksichtigt man methodisch die Zeichen – die alltäglich gebrauchten Zeichen ohne die Aura des Symbols –, lassen sich viele scheinbare Widersprüche und Ambivalenzen in Nietzsches Werk erklären und auflösen. Gerade das Thema der Zeichen verlangt jedoch, die Zeichen der veröffentlichten Schriften von denen der nicht autorisierten Notate sorgfältig zu unterscheiden und bei beiden den Texten chronologisch zu folgen. Dann wird ebenso die Gegenüberstellung wie die Ergänzung und schließlich die Durchdringung beider Textsorten aufschlussreich. In seinen Notaten hat Nietzsche seine Philosophie des Zeichens so weit getrieben, die Sprache überhaupt als „Abkürzungskunst“ von Zeichen durch Zeichen zu verstehen – im veröffentlichten Werk taucht das nur am Rande auf („die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses“; JGB 268). Und von hier aus lernte er wiederum das Denken selbst nicht nur als zeitlichen, sondern auch als Zeichenprozess zu verstehen.

Das Thema „Nietzsches Zeichen“ war vorbereitet einerseits durch Peirce und den späten Wittgenstein, andererseits durch die französische Nietzsche-Forschung. In der jüngeren Nietzsche-Forschung weitete es sich auf unbewusste Zeichen („alle Bewegungen sind Zeichen eines inneren Geschehens“ – „Das Denken ist noch nicht das innere Geschehen selber, sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten.“ Nachlass 1885/86, 1[28], KSA 12.17) oder Zeichen des Unbewussten aus, wobei an Schopenhauer anzuschließen war. Über die epistemologische Blickrichtung hinaus kam die ästhetische stärker zur Geltung, Nietzsches erklärter Wille, beim Schreiben ein „maximum in der Energie der Zeichen“ zu erzielen (GD, Was ich den Alten verdanke 1).

Mit seinem aphoristischen Werk verschrieb sich Nietzsche der Aufklärung; er begann es mit der Widmung von Menschliches, Allzumenschliches an Voltaire und einem Schlüsselzitat aus Descartes’ Discours de la Méthode. Der 8. Beitrag: Nietzsches und Luhmanns Aufklärung der Aufklärung: Der Verzicht auf ,die Vernunft’ von 2004 zeigt, wie er auch die Aufklärung selbstbezüglich betrieb – indem er sie selbst über ihre eigenen Voraussetzungen, insbesondere die einer allen gemeinsamen und gleichen Vernunft, aufklärte (bei der Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches ließ er denn auch Widmung und Zitat beiseite). Luhmann, der ihm in so vielem gewollt oder ungewollt folgte, stellte seinerseits seine akademische Arbeit unter die Devise einer ,soziologischen Aufklärung‘, verstand sie ebenfalls als Aufklärung der Aufklärung und brachte sie auf die Formel ihrer ,Abklärung‘, der Entidealisierung ihres Vernunftideals. Beide führten so zugleich Kants selbstbezügliche Vernunftkritik fort – unter Verzicht auf die metaphysizierte Vernunft, die schon nach Kants eigenen Kriterien, da sie nicht sinnlich gegeben ist, auch nicht als wirklich zu behaupten war. Der Verzicht führte bei Nietzsche und Luhmann zu – wiederum selbstbezüglichen – Neuentwürfen nicht nur der Epistemologie, sondern auch der Moralphilosophie und der Religionsphilosophie. Es ging, so Luhmann, nicht mehr „um Emanzipation zur Vernunft, sondern um Emanzipation von der Vernunft, und diese Emanzipation ist nicht anzustreben, sondern bereits passiert.“ Die Metaphysizierung der Vernunft, bei der Kant, um eine „reine Naturwissenschaft“ denkbar zu machen, weiterhin der aristotelischen Unterscheidung von Form und Inhalt folgte, verstellte zugleich den Blick auf weit komplexere Realitäten der Kommunikation. Kant hatte sie jedoch durchaus schon gesehen, wenn er in seinen „Maximen der Aufklärung“ der „eigenen Vernunft“, derer man sich zu bedienen habe, konsequent eine „fremde Vernunft“ gegenüberstellte, die auch den kategorischen Imperativ anders handhaben kann. Vor allem aber überschritt er die scheinbare Selbstgewissheit der Vernunft im Blick auf die Religion, in der man „Bedürfnis für Einsicht“ zu nehmen und sich an einem bloßen „Vernunftglauben“ zu „orientieren“ habe. Mit dem Verzicht auf seine Metaphysizierung ist der Vernunftbegriff als solcher jedoch nicht überflüssig geworden. Nietzsche gebrauchte ihn oft und vielfältig und zeigte damit, wie „die Vernunft“ „,zur Vernunft‘“ kommen kann, in unterschiedlichen Situationen auf unterschiedliche Weise.

Nietzsche’s Engagements with Kant and the Kantian Legacy – so der Titel eines kürzlich erschienenen dreibändigen Kompendiums – ist inzwischen sehr gründlich erforscht worden. Die Linie Kant – Nietzsche – Luhmann gilt noch als gewagt; ich habe sie in meiner Monographie Orientierung im Nihilismus – Luhmann meets Nietzsche auf den wichtigsten Themenfeldern, unter anderen auch der Sozialphilosophie und der Politischen Philosophie, im Horizont der Philosophie der Orientierung differenziert. Nietzsches eigener, dem alltagssprachlichen näherer Gebrauch des Begriffs Vernunft harrt noch immer einer dichten Beschreibung.

Wenn Anthropologie darauf aus ist, ,den Menschen‘ durch ein bleibendes Wesen wie ,die Vernunft‘ oder ,das Bewusstsein‘ oder ,die Sprache‘ zu bestimmen, so war Nietzsche mit seiner berühmten Formel vom „noch nicht festgestellten Thier“ (JGB 62) in erster Linie Anthopologiekritiker. Er legte es erklärtermaßen darauf an, „dem Menschen seinen Allgemeincharakter immer mehr zu nehmen und ihn zu spezialisiren, bis zu einem Grade unverständlicher für die Anderen zu machen (und damit zum Gegenstand der Erlebnisse, des Staunens, der Belehrung für sie).“ (Nachlass 1880, 6[158], KSA 9.237) Sicherlich gehört auch dazu ein minimales Vorverständnis dessen, was ‚der Mensch‘ ist; auch die – erneut paradoxe – Feststellung seiner Unfeststellbarkeit ist ein solches. Im 9. Beitrag: Nietzsches Anthropologiekritik von 2015, den Andrea Christian Bertino und ich gemeinsam verfasst haben, setzen wir damit ein, dass „der Übermensch“, den Nietzsche „dem Menschen“ als Ziel gesetzt hat, nicht als anthropologischer, sondern als anthropologiekritischer Begriff zu verstehen ist: er macht mit ihm das unablässige Über-sich-Hinausgehen, das die Evolution ohnehin erzwingt, jedem einzelnen Menschen, jedem Individuum „vermöge seiner individuellsten Dinge“ zur eigenen Aufgabe (ebd.). „Übermensch“ wird dann zur Metapher eines von jedem definitiven Begriff befreiten Menschen. Das Ziel von Nietzsches kritischer und paradoxer Anthropologie ist danach nicht mehr Selbstvergewisserung durch gemeinsame Festlegung aller auf einen Begriff, sondern strategische Selbstverunsicherung durch individuelle, alternative und zeitliche Experimente. Bewusstsein und Geistigkeit veredeln dabei den Menschen nicht nur, sondern machen ihn zugleich zu einem „kranken Thier“ (GM III 13), das vorerst noch „Nothlügen“ (MA I 40) in Gestalt moralisch idealisierter Wesensbestimmungen braucht, bis er sich produktiv auch auf seine ,tierische‘ Instinkt-, Trieb- und Affekthaftigkeit oder kurz: auf seine „Vernatürlichung“ (Nachlass 1881, 11[211], KSA 9.525) einlassen und sie auch in seine Moral einbeziehen kann. Auch ein Zustand der Nicht-Festgestelltheit als Naturzustand des Menschen ist hypothetisch; er macht jedoch aus der essentiellen, zeitlosen Anthropologie eine funktionale Anthropologie auf Zeit. Sie hat bei Nietzsche die Gestalt einer Typologie: er typisiert Menschen wie Sokrates, Christus, Caesar, Paulus, Spinoza, Kant, Goethe, Napoleon usw., verallgemeinert sie probeweise zu Typen ,des Menschen‘, die in Konkurrenz zueinander bleiben. Solche bewusst typisierten Typen stellen differenzierte und alternative Möglichkeiten bereit, um jeweils über scheinbare Wesen ,des Menschen‘ hinauszudenken. Nietzsche sucht eine „Erhöhung des Typus ‚Mensch‘“ als eines Typus denkbar zu machen, der nie festgestellt sein wird (JGB 257).

Sicherlich wird es auch nach solchen Klärungen immer neue Versuche geben, aus Nietzsches Philosophie auch eine Anthropologie zu gewinnen, die wieder einen festen Boden bietet. Nach dem ,Tod Gottes‘ ist sich, gerade durch Nietzsche, ,der Mensch‘ so fragwürdig geworden, dass das kaum ausbleiben kann. Das Themenfeld ,Nietzsches Anthropologie‘ wird denn auch weiterhin stark bearbeitet. Immer mehr kommen dabei, im Anschluss an Michel Foucault, auch die Gender-Problematik und die Anthropotechnik und Biopolitik zur Geltung.

Den Beiträgen des III. Kapitels zu folgen, hieß und heißt, mit Nietzsche auch über Nietzsche hinauszugehen. Das hat ebenfalls Schule gemacht, ist aber nicht jedermanns Sache. Die Beiträge des IV. Kapitels: Zarathustras Anti-Lehren gehen darin noch weiter. Die differenzierten Anforderungen, die Nietzsche an die Interpretation seiner Schriften gestellt („lernt mich gut lesen!“ M Vorrede 5), und das hohe Reflexionsniveau, das die Nietzsche-Forschung inzwischen erreicht hat, lässt kaum mehr zu, die bekannten „Lehren“, die Nietzsche zuerst seinen Zarathustra vortragen ließ und auf die er sich später zum Teil auch selbst festlegte („ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft…“; GD, Was ich den Alten verdanke 5), at face value zu nehmen, so als ob es ,den‘ Übermenschen, ,den‘ Willen zur Macht und ,die‘ ewige Wiederkehr des Gleichen so gäbe, dass sie jedermann gleichermaßen wie das Einmaleins zu lehren wären. Zarathustra, der hier lehrt, ist, als halb mythische, halb erdachte Figur, Teil einer epischen Tragödie, und das Drama seines „Untergangs“ besteht darin, dass er sich gerade mit seinen berühmt gewordenen Lehren niemandem verständlich machen kann, dem Volk auf dem Markt nicht und seinen Jüngern nicht, und auch seine klugen Tiere und ebenso die ,höheren‘, für Zarathustra die klügsten und weisesten Menschen scheinen sie nicht recht zu verstehen; kluge Frauen wie „das alte Weiblein“ und „das Leben“ belehren dagegen ihrerseits Zarathustra, manchmal zu seiner eigenen Überraschung. Auch der Zusammenhang jener Lehren ist rätselhaft geblieben, es sei denn, man mystifizierte sie, wie es Lou von Salomé vorschlug, oder metaphysizierte sie, wie es Heidegger vormachte. Stattdessen scheint die Szenerie von Zarathustras Scheitern mit seinen Lehren darauf zu verweisen, dass es sich hier gar nicht um lehrbare, sondern um nicht lehrbare, also erneut paradoxe Lehren handelt; ich habe sie „Anti-Lehren“ genannt. Als solche zwingen sie die Hörer (in der episch-dramatischen Handlung) und die Leser(innen) des Textes zur eigenen Reflexion und Interpretationsentscheidung, also dazu, sie weiterzudenken. Dabei könnte es, so mein Vorschlag, bei allen dreien um etwas denkbar Allgemeines gehen, nämlich das Allgemeine selbst. Wenn der Topos des Übermenschen auf die Nicht-Feststellbarkeit und damit auch Nicht-Verallgemeinerbarkeit des Menschen zielt, dann der Topos des Willens zur Macht in einer weiteren Verallgemeinerung auf die Nicht-Feststellbarkeit oder Nicht-Verallgemeinerbarkeit der Realität überhaupt: Alles als Wille zur Macht zu verstehen, heißt nach Nietzsches späterer Erläuterung (JGB 36), wie erwähnt, alles in unablässiger Auseinandersetzung mit allem zu sehen, in der alles immer neue Gestalt annimmt und in die auch die Beobachtungen und Feststellungen des Prozesses einbezogen sind. So aber lässt sich über die Realität (oder das, was man so nennt) nichts Allgemeines sagen, das von bleibender Geltung wäre, und das gilt auch noch für diese Aussage selbst (wer darin einen Selbstwiderspruch sieht, unterstellt schon die allgemeine Geltung der menschlichen Logik, die doch ihrerseits erst zu begründen wäre). Zuvor hatte Nietzsche das in die Warnung gekleidet, man solle „sich hüten“, der „Welt“, dem „All“, der „astralen Ordnung“, der „Natur“, dem „Leben“ und wie immer unsere Inbegriffe des uns Gegebenen lauten mögen, schon „Gesetze“ und „Zwecke“ zu unterstellen; stattdessen habe man von der radikalen Nicht-Feststellbarkeit des Geschehens, das er hier „Chaos“ nennt, auszugehen (FW 109). Damit ist jede Verbindlichkeit in Frage gestellt, die man in der europäischen Tradition der Philosophie und Wissenschaft dem Allgemeinen als solchem beigelegt hat, und damit kann man philosophisch radikal neu anfangen – beim Nihilismus als „normalem Zustand“, wie Nietzsche es wollte. Die Anti-Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen, die so verführerisch mystisch oder metaphysisch klingt, die Nietzsche aber Zarathustra nicht einmal selbst aussprechen lässt, sondern die ihm seine Tiere vom Mund ablesen, um dann gleich wieder ein „Leier-Lied“ aus ihr machen (Za III, Der Genesende 2), – die Anti-Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen trägt in das Anti-Allgemeine schließlich die Zeit ein, und wieder paradox. Denn wenn alles gleich wiederkehren würde, so würden jeweils individuelle Konstellationen der Welt oder nun: der Willen zur Macht als individuelle Konstellationen wiederkehren, ohne dass daraus etwas Allgemeines abzuleiten wäre, das nicht schon zuvor in sie hineingedacht wurde; und das Allgemeine, das in der identischen Wiederkehr als solcher liegt, wäre gar nicht erfahrbar, weil die Erfahrenden auch selbst identisch wiederkehren und Erfahrung der Wiederkehr dabei, wie schon bemerkt, gar nicht machen würden. Nietzsche hat diese Schlüsse nicht ausdrücklich gezogen oder jedenfalls so nicht niedergeschrieben, mit seinem ganzen Werk aber auf sie gedrängt, auch, wie angedeutet, mit Hilfe der ausgefeilten Formen seiner philosophischen Schriftstellerei. Sie machen nach meinem Vorschlag jene Lehren und Nietzsches philosophische Grundentscheidungen im Ganzen verständlich, ohne dass ihm darum, was er strikt verweigerte, ein „System“ unterstellt werden müsste (GD, Sprüche und Pfeile 26). Von den Beiträgen des IV. Kapitels exponiert der 1o. Beitrag: Anti-Lehren. Szene und Lehre in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ von 1997/2000 in einer Gesamtinterpretation von Also sprach Zarathustra die Anti-Lehren als solche. Der 11. Beitrag: Der See des Menschen, das Meer des Übermenschen und der Brunnen des Geistes. Fluss und Fassung einer Metapher Friedrich Nietzsches von 2010 zeigt am Beispiel des Topos des Übermenschen, wie Nietzsche ihn nicht begrifflich fixiert, sondern als bloße Metapher in Fluss gehalten hat. Der 12. Beitrag: Oh Mensch! Gieb Acht! Kontextuelle Interpretation des Mitternachts-Lieds aus Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ von 2013 belegt an einer Inhalt und Form dicht aufeinander beziehenden Interpretation des Mitternachts-Lieds, auf das Nietzsche seine episch-dramatische Dichtung im III. Teil hinausgeführt hat, dass es philosophisch „tiefer“ dringt als die genannten Lehren, die meist in es hineingetragen werden. „Tief“ ist das acht Mal wiederholte Leitwort des Gedichts, und die „Lust“, die „tiefe, tiefe Ewigkeit“ will, liegt „tiefer“ als alle Lehren, die sie fassen könnten und ihrerseits vergehen.

In jüngster Zeit hat sich die kontinentaleuropäische Forschung immer stärker auf die philosophische Aussagekraft auch und gerade von Nietzsches Liedern konzentriert. Denn während Lehren Übereinstimmung fordern, lassen Lieder frei, laden nur zur Einstimmung ein. Und zuletzt wurde entdeckt, dass Nietzsche gerade mit dem Mitternachts-Lied nicht nur auf Schopenhauers dem „Nichts“ verfallene Metaphysik, sondern auch auf Wagners todestrunkene und darin expressivste musikalische Dichtung über „Weh“ und „Lust“, Tristan und Isolde, antwortete, auf den „romantischen Pessimismus“ im Ganzen also, wie er ihn später nannte, mit seinem „dionysischen Pessimismus“ (FW 370).

Die Beiträge des V. Kapitels: Ethik für gute Europäer wurden, im Unterschied zu den meisten der vorausgehenden Beiträge, für Tagungen und Themenbände verfasst, hatten sich also deren Programmen einzupassen. So traten hier methodische Gesichtspunkte zurück, inhaltliche in den Vordergrund. Gerade mit seiner Moralkritik und Ethik erfährt Nietzsche nach wie vor über die engere Nietzsche-Forschung hinaus besondere Aufmerksamkeit. Nach der vor allem Nietzsches Moralkritik gewidmeten Werkinterpretation der Genealogie der Moral legten die hier versammelten Beiträge den Akzent auf Nietzsches eigene Ethik, die er ebenfalls nicht zusammenhängend ausgearbeitet hat, und hier wiederum weniger auf seine oft behandelte Tugendlehre als auf eher unerwartete Themen wie seine erklärte Hochschätzung der Rolle der Juden in einem „guten“ Europa oder seine Plädoyers für „große“ Toleranz und für eine entwaffnende Bereitschaft zum Frieden. Ihnen gehen drei Beiträge zu Nietzsches „Vernatürlichung“ des Moralischen und Ethischen voraus.

Der 13. Beitrag: Affekte und Moral. Nietzsches Umwertung auch der Affekte von 2008 zeigt zunächst, wie er Moral und Moralphilosophie an eben die Affekte bindet, gegen die sie in ihrer Geschichte anzuarbeiten suchten. Nietzsche geht es nicht um eine Enthemmung der Affekte, sondern um einen furchtlosen Umgang mit ihnen, der die Moral und die Moralphilosophie ehrlicher macht. Aber auch die Rede von Affekten erreicht nicht, wie er mehrfach notiert, die „,Realität‘“, auch sie „bleibt eine Bilderrede“ (Nachlass 1881, 11[128], KSA 9.487), eine „Construktion des Intellekts, eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt“: Wir haben es hier immer noch mit einem Glauben an etwas zu tun, das nur deshalb einfach scheint, weil es „mit Einem Wort bezeichnet wird“ (Nachlass 1880, 5[45], KSA 9.191). Affekte, ohne die wir wie andere Tiere nicht leben könnten, greifen nichtsdestoweniger moralischen Unterscheidungen und Entscheidungen vor. Moralen lassen sich darum breiter und tiefer erschließen, wenn man sie als „Zeichensprache der Affekte“ versteht (JGB 187). Nietzsche verschiebt damit den Affekt-Begriff von einem Gegenbegriff der Moral und der Vernunft, auf die sie allein begründet werden sollte, zu ihrem Oberbegriff. Davon ist nicht weniger, sondern mehr „,Objektivität‘“ zu erwarten (GM III 12): Objektivität kann nach Lage der Dinge nur in vielfältigen Subjektivitäten bestehen. Das macht nun auch die ethische Verantwortlichkeit paradox: Im Rückgang auf die überall präsenten Affekte wird ebenso eine „Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes“ wie eine „Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes“ möglich – und beide gleichermaßen unter Berufung auf den „Stifter des Christenthums“ (MA II, WS 81). Für Nietzsche löst sich die Verantwortlichkeit dadurch jedoch nicht auf. Die Paradoxie fordert im Gegenteil „die Härte der eigensten Verantwortlichkeit“ heraus (MA II, Vorrede 4) – in der immer neuen Entscheidung darüber, wann wer wo auf welche Weise verantwortlich sein soll, ohne dass es dafür letzte allgemeine Kriterien gäbe.

Mir lag daran, mit Nietzsche zu zeigen, dass auch ,die Moral‘, um es auch hier bei einem einfachen Begriff für eine hochkomplexe Angelegenheit zu belassen, durch ihre Selbstparadoxierung ein zugleich realistischeres und anspruchsvolleres ethisches Format bekommt: ein realistischeres darin, dass Moralen zumeist in Nöten entstehen und sich wandeln (auch Affekte nötigen), ein anspruchsvolleres darin, dass, wer sich das eingesteht, zu der Moral, zu der er sich genötigt sieht, Distanz gewinnt, in der sich Spielräume eröffnen, auch anderen Moralen gerecht zu werden. Davon handelt der 14. Beitrag: Die Nöte des Lebens und die Freiheit für andere Moralen. Nietzsches Moralkritik und Nietzsches Ethik (ebenfalls von 2008). Gewöhnlich versucht jede(r), auch andere der eigenen Moral zu unterwerfen; das macht ihr/ihm selbst das Leben leichter und angenehmer, und das ist das Nicht-Moralische daran. Mit Ansprüchen auf allgemeine Geltung einer Moral, die, weil man sich selbst nicht aus ihr ausschließen kann, dann immer auch die eigene ist, setzt man sich, und seien sie noch so aufwändig philosophisch begründet, über möglicherweise andere Lebensbedürfnisse anderer hinweg. Das lässt sich seit jeher alltäglich beobachten und ist seinerseits philosophisch nicht neu. Neu war, dass Nietzsche daraufhin nach dem Wert der Moral selbst fragte, auch seiner eigenen, also wiederum selbstbezüglich, und dadurch die Betrachtung drehte. Der Wert der Moral ist, hart gesagt, der Nutzen für ihre „Prediger“: Die Zuschreibung eines freien Willens als Voraussetzung moralischen Handelns zielt, so Nietzsche, darauf, andere anzuhalten, sich den ihnen zugemuteten moralischen Normen zu unterwerfen und dazu auf die Durchsetzung eigener Interessen zu verzichten. Indem Moral auf diese Weise gegen die Macht anderer antritt, wird sie selbst zum Machtmittel und gerät dadurch mit sich in Widerspruch. Nietzsche baute darauf, darin vielleicht seinerseits zu gutgläubig, dass ,die Moral‘ eine solche kritische, sie selbst paradoxierende Reflexion „aus Moralität“ (M, Vorrede 4) annehmen und dadurch in eine Moral zweiter Ordnung oder eine, wie ich sie genannt habe, Moral im Umgang mit Moral übergehen würde, die sich aus ihrer Selbstfixierung löst und andere Moralen neben sich gelten lassen kann. Luhmann hat so Moral und Ethik als „Reflexionstheorie der Moral“ unterschieden. Eine solche Ethik ist nach Nietzsche eine Ethik für „Freigebige und Reiche des Geistes“ (FW 378), die damit umgehen können, dass ihre eigenen Werte und Normen nicht nur gut (für sie selbst und aus ihrer Perspektive auch für andere), sondern auch böse (für andere, die diese Perspektive nicht teilen) sein können; sie haben gegenseitige Anerkennung und Rechtfertigung weniger nötig und können so selbst, aus ihrem moralischen Umgang mit Moral heraus, ethische Maßstäbe „schaffen“, die andere nicht verpflichten, sondern ihrerseits zu einer Moral im Umgang mit Moral veranlassen können.

So können unterschiedliche Moralen zusammenbestehen, ohne, außer der beiderseitigen Selbstreflexion, auf gemeinsamen Werten und Normen bestehen zu müssen. Das mindert auch den Drang zur Schuldzuschreibung. Nietzsche zielte, wie der 15. Beitrag: Schuld und Rang. Nietzsches Vorschlag zur Überwindung des Schuldkomplexes von 2014 ausführt, im Ganzen darauf, den in der Philosophie und Kultur Europas tief verwurzelten moralischen Schuldkomplex zu reflektieren und es aus ihm zu lösen. Auch hier ging es ihm nicht darum, Schuld schlicht zu leugnen, sondern darum, die Bedingungen zu klären, unter denen sie zugeschrieben wird. Nach Nietzsches bekannten genealogischen Vermutungen lässt uns ein eingetretener Schaden geradezu reflexartig nach einem dafür Schuldigen suchen, zunächst um ökonomisch, dann immer mehr um moralisch Vergeltung zu erlangen. Je mehr aber das individuelle Recht auf Vergeltung durch die christliche Religion einerseits und das juristische Recht andererseits zurückgedrängt wurde, sei das Vergeltungs- oder Rachebedürfnis nach innen gewendet worden und das Gewissen als Ressentiment gegen sich selbst entstanden, ein Selbstzwang, bei dem der moralische Zwang durch andere ansetzen und auf den auch der Rechtsgehorsam aufbauen konnte. Danach ist die Oberflächen- und Zeichenwelt, in der wir leben, nachdem im Zug der Befriedung der Gesellschaft der ökonomisch-soziomoralische Komplex von Schuldzuschreibung und Selbstbeschuldigung habituell wurde, auch zu einer Schuldbewusstseinswelt geworden. Sie hat inzwischen, wohl auch durch den Anstoß Nietzsches, vor allem in den jüngeren Generationen sichtlich an Zwanghaftigkeit verloren. Nietzsche selbst freilich war noch dabei geblieben, auch und gerade für die Ausbildung des Schuldkomplexes Schuldige zu suchen. Er fand sie, hier ziemlich konventionell, in „Priestern“ aller Art, die er zu Sündenböcken machte. Doch auch davon nahm er seinen „Typus Jesus“ aus, dessen frohe Botschaft für ihn gerade war, den Schuldkomplex zu überwinden. Weil Jesus dort Schuld vergab, wo andere Schuldzuweisungen erhoben, könne man ihn, wie Nietzsche erstaunt feststellte, „mit einiger Toleranz im Ausdruck“, einen „freien Geist“ nennen (AC 32). Ein freier Geist in seinem Sinn ist zu einer „vornehmen“ Ethik fähig, die nicht nur auf Gegenseitigkeit, sondern selbst auf Dankbarkeit verzichten kann und darin – auch noch für uns – einen höheren moralischen Rang hat. Wo Schuldzuschreibungen dennoch nötig sind, um ein geordnetes Zusammenleben aufrechtzuerhalten, wird ein solcher freier Geist sie dem Recht überlassen, ohne sie mit moralischen Entrüstungen zu befeuern. In diesem Sinn plädierte Nietzsche auch für Resozialisierung statt für Bestrafung von Verbrechern (M 202).

Die Festigung des alten europäischen Schuldkomplexes reicht nach Nietzsche bis in das biblische Judentum zurück. Das moderne Judentum sah er anders. Für ihn waren die europäischen Juden „Erfinder und Wegzeiger der Europäer“, ohne zu „Herren Europas“ werden zu wollen (M 205). Die Juden und Europa wurden so für ihn ein Thema, und dabei wurde er selbst, so der 16. Beitrag: Nietzsche, die Juden und Europa, der 2000 im Zusammenhang von Arbeiten zur philosophischen Aktualität der jüdischen Tradition entstand, zu einem erklärten „Anti-Antisemiten“. Er schrieb „den Juden“ die Kraft zu radikalen Umwertungen von Werten zu, zunächst der Werte der Römer, die mit aristokratischen Tugenden und militärischer Stärke die Herrschaft über ein Weltreich errichtet hatten und dann das Christentum annahmen, das die Juden auf den Weg gebracht hatten – für Nietzsche das Beispiel „wahrhaft grosser Politik“ (GM I 8). In der Moderne seien die Juden gewollt oder ungewollt Ferment der Europäisierung Europas geworden, der „demokratischen Vermengung der Stände und Rassen“, des Endes der Kleinstaaterei, der Entwicklung des „historischen Sinns“, der Umstellung von sozialen „Ständen“ auf soziale „Rollen“ und der Auflösung des „Grundglaubens“ an einen „festen Bau“ der Gesellschaft. Die jahrtausendelange Ausgrenzung inmitten der europäischen Gesellschaften hatte sie, ohne dass sie ihren Glauben aufgaben, freier für andere Begriffe des Moralischen gemacht, ihnen überhaupt die Scheu vor „dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden“ genommen (JGB 256). Umso mehr wurden sie selbst im christlichen Europa als Fremde betrachtet und waren in ihrer Sonderstellung stets zu „geistiger Geschmeidigkeit und Gewitztheit“ gezwungen. Das aber machte sie nun überall zu Vorreitern der Modernisierung Europas, in das sie, im Zug ihrer eigenen Säkularisierung, immer mehr „ein- und aufgesaugt“ zu werden wünschten. Dem sollte man, so Nietzsche, besonnen entgegenkommen – „wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen.“ (JGB 251) Er wusste, wie die meisten Nicht-Juden, wenig vom Judentum und war – darin ist sich die jüngere Forschung einig –, bei allem Interesse für die Juden, ihnen deshalb nicht schon „gewogen“ (JGB 251). Nachdem er im Bund mit Richard Wagner zunächst noch den generellen „kulturellen Code“ des Antisemitismus (Shulamit Volkov) bedient hatte, war sein späterer Anti-Antisemitismus der eines seinerseits freien Geistes.

Als solcher verstand er auch die Toleranz, von der der 17. Beitrag: Nietzsches Kritik der Toleranz von 2007 handelt. Auch hier trieb Nietzsche die einfache Moral der Toleranz zu einer reflektierten Ethik der Toleranz weiter. Wie schon Moses Mendelssohn, die Galionsfigur der religiösen Toleranz im 18. Jahrhundert, und wie Kant und Goethe geißelte er die allzu bequeme und zugleich hochmütige „moderne Idee“ der Toleranz, „die Alles ,verzeiht‘, weil sie Alles ,begreift‘“ (AC 1) und nur auf Duldung hinauslaufe. Stattdessen hatte er die „tiefe“ Toleranz dessen im Auge, der eigene Überzeugungen vertritt. Er (oder sie) kann Auseinandersetzungen mit Intoleranten taktvoll ausweichen, wie es meist geschieht, mit „großer“ Toleranz sich aber auch deren Paradoxie stellen, Intolerante und Untolerables zugleich tolerieren zu müssen und nicht zu dürfen. In den Glaubenskämpfen der frühen Neuzeit konnte man aus konfessioneller Überzeugung eine andere Konfession nicht dulden, musste es aber schließlich doch, wenn nicht alle zugrunde gehen sollten – das Ergebnis war eine der wichtigsten Errungenschaften Europas: der Rechtsstaat, der mit Macht die Freiheit zu unterschiedlichen religiösen Überzeugungen erzwang und damit in the long run die Säkularisierung vorantrieb. Nietzsche, der darauf nicht rekurrierte, sondern in Sachen Toleranz beim Persönlichen blieb, wusste sich selbst „von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung“ im Blick auf alles Vergangene, voller „Ekel“ aber, wenn daraus nicht die Konsequenzen für die Gegenwart gezogen werden (AC 38). Mit seiner – echten oder inszenierten – persönlichen Empörung zeigte er an, dass es bei der Toleranz nicht einfach um eine moralische Norm geht, sondern um die Kraft, was und wie viel an Untolerablem ein noch so toleranter Mensch in welcher Situation ertragen kann oder welche ethischen Spielräume er hat, sich hier leidenschaftlich für seine Überzeugungen einzusetzen und sich dort gelassen von ihnen zu distanzieren.

Grossmütige Selbstbezwingung war für ihn auch auf politischer Ebene denkbar und dort das „Mittel zum wirklichen Frieden“, wie er im 284. Aphorismus von Der Wanderer und sein Schatten ausführt, dem der 18. Beitrag: Zum zeitlichen Frieden gewidmet ist. Nietzsche versuchte auch die Frage des Friedens nicht moralistisch, sondern möglichst realistisch anzugehen. Zeitlebens dem antiken Griechentum verpflichtet, hatte er früh für sich notiert: „Der normale Zustand ist der Krieg: wir schließen Frieden nur auf bestimmte Zeiten“ (Nachlass 1872/73, 19[69], KSA 7.442), und in diesem Sinn ließ er auch seinen Zarathustra den Frieden „als Mittel zu neuen Kriegen“ preisen (Za I, Vom Krieg und Kriegsvolke) und beharrt auch selbst bis zuletzt darauf (AC 2). Damit zielte er freilich vor allem auf Denker, für die die Moral „gar kein Problem“ war, sondern das, „worin man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten.“ (FW 345) Ihnen wird der Friede nicht wirklich zum Problem. Kant hatte es dagegen in seinem „Entwurf“ Zum ewigen Frieden bereits sehr realistisch behandelt, und in dessen Kontinuität kann man auch Nietzsches Aphorismus lesen. Kants Entwurf begeistert bis heute, weil er dem „politischen Moralisten“, der die Moral seiner Politik unterwirft, den „moralischen Politiker“ entgegenstellt, der sich von der Moral leiten lässt. Nach einem seiner „Präliminarartikel“ sollten „stehende Heere […] mit der Zeit ganz aufhören“, weil sie eine ständige Versuchung darstellten, wenn immer sich die Gelegenheit dazu bietet, Eroberungskriege zu eröffnen. Dennoch wollte Kant zur Notwehr immerhin Milizen, „Staatsbürger in Waffen“, zulassen. Nietzsche toppte das. Man müsse der „Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr […] ebenso gründlich abschwören“, weil man damit den anderen „Eroberungsgelüsten“ unterstelle, also „sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalte“. Das Mittel zu einem wirklichen Frieden könne stattdessen nur eine entwaffnende Bereitschaft zum Frieden sein, und sie müsse gerade der Mächtigste zeigen, weil er für die anderen die größte Bedrohung darstelle. Sage er: „,wir zerbrechen das Schwert‘“ und zertrümmere „sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente“, mache er, der „der Wehrhafteste“ ist, „aus einer Höhe der Empfindung heraus“ sich „wehrlos“, so könnten die andern folgen. Damit geht er das denkbar höchste politische Risiko ein, gegen das Kant die Völker und die Regierungen noch absichern wollte. Das Sich-wehrlos-Machen des zum Krieg Fähigsten ist Nietzsches ethische Konsequenz aus der Paradoxie des Friedens, der gewöhnlich gerade durch ständige Bereitschaft zum Krieg gesichert wird. Er formuliert sie, Kant überbietend, wie ein „politischer Moralist“ und richtet sich dabei mit vollem Ernst an „Volksvertreter“ in Parlamenten: „Lieber zu Grunde gehen, als hassen und fürchten, und zweimal lieber zu Grunde gehen, als sich hassen und fürchten machen, – diess muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden!“ Er wollte die vornehme Freigebigkeit des Geistes zur Politik, einer „großen Politik“ machen.

Die Beiträge des VI. und letzten Kapitels: Nietzsches Zukunft sind der Zukunft von Nietzsches Philosophie gewidmet, der 19. Beitrag: Schicksal Nietzsche? Zu Nietzsches Selbsteinschätzung als Schicksal der Philosophie und der Menschheit (Ecce homo, Warum ich ein Schicksal bin 1) von 2008, wie Nietzsche sie zuletzt selbst sah, der 20., in einer ersten englischen Fassung 2016 veröffentlichte und für den Wiederabdruck stark überarbeitete Beitrag: Nietzsches Zukunft, wie wir sie heute sehen können.

Im ersten Aphorismus des letzten Teils von Ecce homo, den Nietzsche Warum ich ein Schicksal bin überschrieb, hat Nietzsche der Schicksalhaftigkeit und Zukunftsgewissheit seines Philosophierens einen so starken Ausdruck gegeben, dass er vielen immer noch als manifester Beleg dafür gilt, dass spätestens hier sein Wahnsinn bereits ausgebrochen sei: als Größenwahnsinn. Aber Nietzsche war von Anfang an, schon in Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, mit extremen Ansprüchen aufgetreten, und dieser Größenwahnsinn, wenn er denn einer war, hatte Methode, auch das, was man im Blick auf Ecce homo seine Selbstvergöttlichung genannt hat. Meine These war und ist, dass man auch diesen Aphorismus philosophisch beim Wort und ernst nehmen kann, dass auch die berüchtigten Spitzenaussagen, die er enthält – von „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“ über „Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab,“ bis „Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik“ – in der Sache begründet sind, um die es Nietzsche ging. Man wird sein Werk nur angemessen begreifen können, wenn man auch diesen Aphorismus, den eminentesten Teil seiner Selbstbeschreibung, in seinem Zusammenhang verstehen kann. Er handelt von der „Umwerthung aller Werthe“ als einem „Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit“, und Nietzsches Autogenealogie in Ecce homo sollte im Ganzen zeigen, wie dieser Akt Nietzsche zum persönlichen Schicksal wurde, weil gerade er, mehr oder weniger zufällig, mit seinen Lebensbedingungen die persönlichen Voraussetzungen dafür mitbrachte, – und wie er dann zum Schicksal für die Philosophie und, wie er annahm, damit auch für die Menschheit wurde oder doch noch werden sollte. Zu einem solchen Schicksal aber war anerkanntermaßen Sokrates geworden, mit dem Nietzsche sein Leben lang kämpfte und dessen „Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück“ (GD, Das Problem des Sokrates 4) er endlich überwunden zu haben glaubte. Sokrates aber hatte sich für sein Philosophieren seinerseits auf einen göttlichen Auftrag berufen, wie schon Parmenides vor ihm und viele, vor allem christliche Philosophen nach ihm. Indem Nietzsche sich in „welthistorischer Ironie“, wie er das nennt (EH, WA 4), zum göttlichen Maßstab aufschwingt, lässt er die vermeintlich göttlichen Maßstäbe, die Philosophen sich immer schon anmaßten, als menschliche erkennen. Der erschreckende Ton in Nietzsches letzten Schriften sollte aufschrecken aus der in Tausenden von Jahren zur Selbstverständlichkeit gewordenen Inanspruchnahme göttlicher Wahrheit. Nietzsche sagt zu Beginn des Aphorismus sehr klar, worum es ihm dabei philosophisch geht und was, aus seiner Sicht, nun ansteht: „eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war“. Im Zentrum ist das Entscheidung für die Entscheidbarkeit aller Wahrheit und aller Philosophie. Nietzsche, der ausdrücklich sagt, dass er dafür nicht wieder heilig gesprochen werden will, redet darüber als „Hanswurst“ (auch Sokrates hatte er zuvor einen „Hanswurst“ genannt, „der sich ernst nehmen machte“; GD, Das Problem des Sokrates 5): einem Heiligen und an einen Heiligen glaubt man, einen Hanswurst oder einen Narren, aus dessen Mund tiefste Wahrheiten kommen können, ist man frei ernst zu nehmen oder nicht. Wenn Nietzsche sich vergöttlicht, so entgöttlicht er sich zugleich. Er paradoxiert auch hier noch.

In diesem Fall ist der Stand der Forschung klar bezeichnet worden: Der Freiburger Kommentar hat im Einzelnen neue Quellen und verwandte Texte erschlossen, die philosophische Deutung des Aphorismus jedoch nicht in Frage gestellt und nicht überholt.

Der 20. Beitrag: Nietzsches Zukunft geht abschließend der Frage nach, wie Nietzsche nicht nur die Zukunft seiner Philosophie, sondern die Zukunft überhaupt gedacht hat und was nach über einem Jahrhundert für uns daraus geworden ist. Zukunftsorientierung ist ein Teil der menschlichen Orientierung. Sie bewegt sich im Spielraum von Angst und Zuversicht und kann darin eine solche Orientierungssicherheit gewinnen, dass man, wie Nietzsche es fasste, „versprechen darf“ (GM II 2). Nietzsche glaubte für die Richtigkeit seiner philosophischen Grundentscheidungen gutsagen zu können und darum auch zu einer großen Bejahung berechtigt zu sein. Er nannte sein Jenseits von Gut und Böse ein „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“, sprach von „Musik der Zukunft“, die wir erst zu hören lernen müssten, und von „Labyrinthen der Zukunft“, in denen wir uns dazu neu zu orientieren hätten. Die Labyrinthe sind für Nietzsche nicht nur Labyrinthe des Weltverständnisses, sondern auch der Werteorientierung. Die Werteorientierung rückte in den Vordergrund, als die Metaphysik mit ihrer Behauptung einer wahren Wirklichkeit und eines Gottes, der sie garantierte, unglaubwürdig geworden war: nun sollten und sollen bis heute Werte dem Leben einen letzten Halt geben. Die Wertesemantik eröffnet Spielräume für einen unablässigen Wertewandel, die Nietzsche nun zu einer Umwertung aller Werte nutzen wollte. Weil er mit ihr seine Zukunftsorientierung verband, forcierte er die Wertesemantik so stark, dass er sie ihrerseits kaum mehr in Frage zu stellen wagte. Er tat das zuletzt an einer Stelle aber doch, und in dieser Krise besann er sich auf den amor fati, der alles ohne Wertung hinnehmen kann, wie es ist. Ein solche ,Liebe zum Schicksal‘ braucht keine Zukunftorientierung mehr, und damit scheint sich das Zukunftsproblem zu erledigen. Der amor fati führt jedoch zu einer neuen und nun finalen Paradoxie. Denn zu dem, was ist, gehört eben auch das „Verlangen […] nach Werden“ einerseits und das „Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein“ andererseits, die beide als Metaphysik formuliert werden können, nach denen alles anders sein oder werden soll, als es ist (FW 370). Das Nichts-anders-haben-Wollen schließt das Anders-haben-Wollen ein, auch hier ist unentscheidbar Gegensätzliches gültig, und man muss eben darum von Fall zu Fall unter Ungewissheit und ohne letzte Kriterien entscheiden, wie man sich zur Gegenwart und Zukunft verhalten will. Die Zukunft von Nietzsches Denken im 21. Jahrhundert könnte sich daran entscheiden, ob das nachvollzogen und wie das weitergedacht, wie dieses finale Paradox der Entscheidung selbst, dass gerade Unentscheidbares entschieden werden muss, entparadoxiert werden kann.

Das kann man auch heiter sagen. Der Nachklang mit dem 21. Beitrag: Nietzsches Scherze von 2008 hält sich an Nietzsches Selbstbeschreibung als Narr – in einer närrischen Interpretation seines vogelfreien Liedes Narr in Verzweiflung.

Die hier gesammelt vorgelegten 20+1 Studien zu Nietzsche werden in ihrer ursprünglichen Fassung wiederabgedruckt und damit auf dem Stand der Forschung – auch meiner eigenen Forschungen – zur Zeit ihrer Erarbeitung. Nur wo einzelne Angaben nicht mehr haltbar und Formulierungen nicht hinreichend verständlich schienen, habe ich sie in Details revidiert. Wo Wiederholungen drohten, wurden die Beiträge gekürzt oder Querverweise auf andere in diesem Band abgedruckte Beiträge eingefügt. Soweit sie für spezifische Anlässe entstanden, wurden die Hinweise darauf getilgt. Ich freue mich, dass diese Studien nun gesammelt vorliegen und open access auch digital leicht zugänglich sind. Ich danke Open Book Publishers Cambridge und insbesondere deren Managing Director Dr. Alessandra Tosi, dass sie diese Edition möglich gemacht hat, dem Herausgeber des Bandes Dr. Andrea Christian Bertino, der sie angebahnt, und Dr. Andreas Rupschus, der die Texte noch einmal sorgfältig durchgesehen hat. Ihr Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlage, die sie zuerst veröffentlicht haben.


1 Vgl. dazu Werner Stegmaier, Nach Montinari. Zur Nietzsche-Philologie, in: Nietzsche-Studien 36 (2007), S. 80-94.Englische Übersetzung von Lisa Anderson: After Montinari. On Nietzsche Philology, in: The Journal of Nietzsche Studies 38 (Fall 2009), S. 5-19. Französische Übersetzung von Patrick Wotling: La philologie et Nietzsche. Lignes directrices pour une philologie adaptée à la philosophie de Nietzsche aujourd’hui, in: Jean-François Balaudé / Patrick Wotling (Hg.), „L’art de bien lire“. Nietzsche et la philologie, Paris 2012, S. 271-287.

2 Nietzsche gebrauchte den Begriff „Geisterkrieg“ nur hier und in einem Notat (Nachlass 1888, 25[6], KSA 13.640) und dem Entwurf eines Briefs an Kaiser Wilhelm II. (Anfang Dezember 1888, Nr. 1171, KSB 8.503), die den Aphorismus vorbereiteten. Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches Der Antichrist, Ecce homo, Dionysos-Dithyramben, Nietzsche contra Wagner, in: Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 6/2, Berlin/Boston 2012, S. 615, hat nachgewiesen, dass der Begriff im 19. Jh. durchaus gängig war, etwa Joseph Freiherr von Eichendorff ihn in seiner Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands oder Ernst Moritz Arndt ihn in seinen Gedichten verwendete, beide jedoch im Sinn heilloser Desorientierung. Nietzsche wertete ihn um und blieb dabei gegenüber der Deutschtümelei, dem Franzosenhass und dem Antisemitismus eines Arndt entschieden auf Abstand, nachdem er in seiner Studentenzeit als Burschenschaftler noch an Arndt-Feiern teilgenommen hatte.

3 Wie aus KGW IX, W I 6, 4.39-47, zu ersehen ist, hat Nietzsche den Text zunächst diktiert und dann handschriftlich stark überarbeitet. Die nachfolgenden Zitate sind diesen Notaten entnommen und geben Nietzsches letzte Redaktion wieder.

4 Der Passus lautete im Diktat zunächst: „die Gefährlichkeit seiner Lage gesteigert, sein Erfindungs- und Verstellungsgeist durch langen Druck und Zwang herausgefordert werden muß, und daß folglich Härte, Grausamkeit, Ungleichheit der Rechte, Verschwiegenheit, Ungemüthlichkeit jeder Art, kurz der Gegensatz aller Heerden Ideale Noth thut.“ Die Formulierungen „sein Lebens-Wille bis zu einem unbedingten Willen zur Macht u zur Übermacht gesteigert“, „Gewaltsamkeit“, „Teufelei jeder Art“ sollten die Bemerkungen „ ins Ungeheure“ steigern. Nietzsche veröffentlichte sie jedoch nicht.

5 Auch diese Formulierungen hat Nietzsche später in das Diktat eingefügt.

6 Auch „höchste Geistigkeit und Willenskraft“ ist späterer Zusatz. Nietzsche hat den Text verschärft, wo es um Gefahr und geistige Auseinandersetzungen, und zurückgenommen, wo es um militärische Kriege ging.

7 Vgl. meine Beiträge: Leib und Leben. Zum Hegel-Nietzsche-Problem, in: Hegel-Studien 20 (1985), S. 173-198; Nietzsches Hegel-Bild, in: Hegel-Studien 25 (1990), S. 99-110; Hegel, Nietzsche und Heraklit. Zur Methodenreflexion des Hegel-Nietzsche-Problems, in: Mihailo Djurić / Josef Simon (Hg.), Nietzsche und Hegel (Reihe Nietzsche in der Diskussion), Würzburg 1992, S. 110-129; Die Substanz muss Fluktuanz werden. Nietzsches Aufhebung der Hegelschen Dialektik, in: Berliner Debatte Initial 12.4 (2001), Themenheft „Unaufhörliche Dialektik”, S. 3-12; „ohne Hegel kein Darwin”. Kontextuelle Interpretation des Aphorismus Nr. 357 aus dem V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, in: Nietzscheforschung 17 (2010), S. 65-82; „Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein Vorurtheil hat.” Nietzsche zwischen Hegel und Levinas, in: Brigitta Keintzel / Burkhard Liebsch (Hg.), Hegel und Levinas. Kreuzungen, Brüche, Überschreitungen, Freiburg/München 2010, S. 224-245.